Der Oscar: Symbol für Triumph, Glück und Anerkennung? Nicht immer. Im Fall von «The Search» der Zürcher Firma Praesens-Film stand hinter der Auszeichnung eher Frust und Schmerz. Einem ihrer Empfänger vermasselte sie sogar das halbe Leben.
Michèle Wannaz ist Co-Kuratorin der Ausstellung "Einfach Zürich" im Landesmuseum Zürich.
Hollywood, Oscarverleihung 1949: Im Saal Ava Gardner, Robert Montgomery, Ingrid Bergman, Deborah Kerr und Dutzende Andere, die bis heute als Inbegriff des klassischen Hollywoodstars gelten. Applaus. Champagner. Orchester, Smokings und Paillettenkleider. And the Oscar goes to ... Zurich!
Welche Freude, eigentlich. Theoretisch. Gut: vielleicht auch ein bisschen praktisch. Aber wirklich nur begrenzt. Denn dieser Oscar war gegen aussen zwar Symbol der Anerkennung, jedoch emotional bitter aufgeladen für die beiden Gewinner Richard Schweizer und David Wechsler, die Drehbuchautoren von «The Search», einer Koproduktion der Zürcher Firma Praesens-Film mit Hollywoods MGM.
Trailer des Kinofilms «The Search» von 1948.YouTube
Der Triumph hatte aber nicht nur für sie einen schalen Beigeschmack, sondern für alle Beteiligten – inklusive Davids Vater, Produzent Lazar Wechsler. Diesem verdankt der Schweizer Film seine bis heute grössten Kinoerfolge: Für «Landammann Stauffacher» oder «Gilberte de Courgenay» standen während dem Zweiten Weltkrieg Millionen Schlange, für seinen «Füsilier Wipf» sogar fast ein Drittel der Schweizer Bevölkerung. Das Drama «Marie-Louise» brachte der Praesens-Film zudem ihren ersten (Drehbuch-)Oscar ein. Und das Flüchtlingsepos «Die letzte Chance» ebnete ihr schliesslich definitiv den Weg nach Hollywood.Keine Frage: Wechsler besass ein grandioses Gespür für den Zeitgeist, für Themen und Geschichten, welche die Massen bewegen. Er konnte seine Equipe begeistern und trieb sie zu Höchstleistungen an. Dennoch war er alles andere als nur beliebt, galt im zwischenmenschlichen Umgang als schwierig, launisch sowie autoritär. Und bei den Dreharbeiten zu «The Search» erreichte seine interne Unpopularität zeitweise ihren Höhepunkt. Aus zumindest teilweise demselben Grund, der dann auch die Freude am Oscar trübte, bei dessen Verleihung praktisch alle einander Vorwürfe machten: der Regisseur dem Produzenten, der Produzent dem Hauptdarsteller, der Hauptdarsteller den Drehbuchautoren – und irgendwie alle allen. Oder zumindest fast.Aber der Reihe nach. Kurz nach Kriegsende bietet MGM, die damals grösste Filmproduktionsfirma der Welt, Wechsler eine Koproduktion an. Dieser hört sich bei seinen Mitarbeitenden um. Und merkt, dass gleich mehreren ein humanistisch engagierter Nachkriegsfilm ein Bedürfnis wäre. Insbesondere Star-Regisseur Leopold Lindtberg, ein jüdischer Flüchtling aus Österreich, hört immer wieder dramatische Schilderungen seiner Nächsten, die dem Holocaust entkommen sind, und will im Rahmen seiner Möglichkeiten alles tun, um das Leid zu lindern. Dazu gehört auch, die öffentliche Wahrnehmung noch stärker auf die hilflosesten Opfer des Krieges zu lenken: die Kinder.
Im Frühjahr 1946 entwickelt Lindtberg ausgehend von einer wahren Begebenheit die Geschichte einer Grossmutter, die auf der Suche nach ihren Enkelkindern das verwüstete Europa durchquert. Die Eltern aus dem Umfeld Claus von Stauffenbergs waren nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler erschossen worden, die Kinder verschleppt, mit einer neuen Identität versehen und an weit verstreuten Orten untergebracht.Wechsler nimmt den Stoff heimlich in seine Liste mit Geschichten auf, die er der MGM präsentieren will, reist nach Kalifornien – und Hollywood beisst an. Hinter dem Rücken Lindtbergs vertraut er die Story dann allerdings einem Hollywood-Autoren an, dem ebenfalls aus Österreich stammenden Peter Viertel. Die Vorgaben: Aus der Oma eine Mutter zu machen und alle Hinweise auf das Attentat zu streichen. Und obwohl Lindtberg bei den grössten Praesens-Erfolgen – so etwa «Füsilier Wipf», «Marie-Louise» oder «Die letzte Chance» – auch Regie geführt hat, engagiert Wechsler als Regisseur Fred Zinnemann (später bekannt durch seinen Welterfolg «High Noon»).
Nach dem Kinostart von «The Search» wird Zinnemann an Lindtberg schreiben, welches Unbehagen ihn angesichts des Erfolgs des Films immer wieder befalle, da die Idee ja eigentlich von ihm stamme und «du eigentlich den Film hättest machen sollen!» Dennoch nimmt er gerne an, als Wechsler ihm das Angebot macht. Die Geschichte eines amerikanischen Soldaten in der Besatzungszone, der sich einem verstörten Waisenjungen annimmt, berührt ihn. Und ihm gefällt auch, dass das Ganze im halbdokumentarischen Stil gedreht werden soll – in den realen Trümmern des Kriegs und zum Teil auch mit Laien, allen voran Kindern, welche die Verbrechen der Nazis am eigenen Leib erfahren haben, teilweise sogar in einem KZ waren.Beim Casting für die – allerdings mit einem Profi besetzte – Hauptrolle ist Zinnemann regelrecht hingerissen von einem jungen Schauspieler: Montgomery Clift. Dieser wird später gemeinsam mit Marlon Brando als der beste Schauspieler seiner Generation gelten, ist zu diesem Zeitpunkt allerdings noch gänzlich unbekannt.
Clift unterzeichnet seinen Vertrag mit Zürich auf der Grundlage von Viertels Drehbuch. Wechsler ist dieses aber immer noch zu konkret politisch, was den kommerziellen Erfolg gefährde. Er übergibt es Richard Schweizer, sein Sohn David redigiert daraufhin erneut. Genaue Orts- und Zeitangaben verschwinden zu grossen Teilen. Aus den jüdischen Eltern des Waisenjungen werden tschechische Intellektuelle, aus Wehrmacht und SS eine anonyme «Geheimpolizei». Die Kinder sind zudem keine Naziopfer mehr, sondern undefinierte «Waisen des Krieges». Viertel, dessen Familie selber Opfer des Nationalsozialismus wurde, ist dermassen empört, dass er seinen Namen zurückzieht. Und auch Clift kann sich kaum beruhigen. Als er – zu seinem Leidwesen bereits vertraglich verpflichtet – die finale Drehbuchfassung liest, bezeichnet er diese als schreckliches Sacharinkonzentrat und schreibt entsetzt: «Wie ‹Die Wildnis ruft›, nur noch süsslicher!»Als der Schauspieler in Zürich eintrifft, wo die Innenaufnahmen gedreht werden, ist er fest entschlossen, das pathetische Drehbuch zu korrigieren. Auch weil dessen Autoren, wie er irritiert feststellt, keinerlei Ahnung von der amerikanischen Armee und Mentalität hätten. Lazar Wechsler ahnt zunächst noch nicht, was für einen ehrgeizigen jungen Mann er sich hier aufs Set geholt hat. Doch Clift gibt alles: In der Nacht schreibt er sich seine Dialoge um, erfindet ganze Szenen und improvisiert auf dem Set stetig weiter – sehr zur heimlichen Erleichterung von Zinneman: Der GI Steve wird plötzlich zu einer Figur aus Fleisch und Blut, seine Beziehung zum Waisenjungen komplex, durchsetzt von Gereiztheit und Schuldgefühlen.
Wechsler trifft beinahe der Schlag, als er merkt, wie wenig sich sein Hauptdarsteller ans Drehbuch hält und wie schlecht man ihn zudem versteht, weil er beim Spielen fortwährend Kaugummi kaut – eben authentisch, «wie ein echter Soldat». Er bombardiert ihn mit eingeschriebenen Briefen (bis zu dreien pro Tag), die Clift aufs Set gebracht werden, woraufhin dieser einem Freund anvertraut: «Dieser Wechsler ist unglaublich. Er zwingt alle dazu, ihre Zeit mit Briefeschreiben oder Diskussionen mit ihren Anwälten zu verlieren.» Der Konflikt ist für die Equipe derart aufreibend, dass zwischendurch – das drehuntaugliche Wetter tut sein Übriges – sogar erwogen wird, alles abzubrechen.
Oscar und Kritik fürs Drehbuch
Was zum Glück dann aber doch nicht geschieht. Denn bis heute gilt «The Search» als Meilenstein des authentischen Nachkriegskinos und blieb jahrzehntelang der Schweizer Film mit den meisten internationalen Auszeichnungen. Die Kritik am Drehbuch blieb allerdings bis heute bestehen – trotz Oscar-Gewinn. Es strotze vor Sentimentalität und Zufällen fernab jeder Glaubwürdigkeit, keines der Kinder scheine zudem ein irreversibles Trauma erlitten zu haben. Dafür lobte etwa der Filmhistoriker Hervé Dumont die Arbeit von Regisseur und Kameramann: «In den Blicken dieser Waisen – einige wurden wirklich aus Auschwitz gerettet – finden sich Spuren eines Traumas, die kein Drehbuch wegradieren kann.»
Es ist also schwer anzunehmen, dass Richard Schweizer und David Wechsler sich nur gut fühlten, als sie diesen Oscar in Empfang nahmen. Ausgerechnet sie, denen ein Teil des kreativen Kerns vorwarf, dass der Film ohne ihr Zutun noch ungleich viel besser geworden wäre. Doch während das interne Hickhack ihnen wohl lediglich die Freude trübte, bedeutete die Award-Verleihung für Ivan Jandl, der den Waisenjungen spielte und bei derselben Zeremonie zusätzlich noch den Ehren-Oscar als bester Kinderdarsteller erhielt, sogar regelrecht Unglück. Ja, mehr noch: Sie vermasselte ihm eigentlich geradezu das Leben. Zumindest das berufliche. Die Angst vor der politisch falschen Konnotation war auch hierbei entscheidend – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen als bei der Umarbeitung des Drehbuchs durch Lazar Wechsler.Jandl, 1949 gerade mal zwölf Jahre alt, stammte nämlich aus der Tschechoslowakei. Und das kommunistische Regime seines Heimatlandes verbot ihm die Teilnahme an der Award-Verleihung. Der Oscar musste ihm nach Hause geschickt werden. Danach durfte er in lediglich drei Filmen noch als Kleindarsteller mitwirken. Und als er nach Abschluss der Pflichtschule in Prag Schauspiel studieren wollte, wies ihn die Theaterfakultät ab mit der Begründung, er hätte keine amerikanische Auszeichnung akzeptieren dürfen. Er hielt sich fortan also mit Gelegenheitsjobs über Wasser – mit dem Höhepunkt einer Anstellung als Radiomoderator, die ihm jedoch ohne Angabe von Gründen nach kurzer Zeit ebenfalls wieder gekündigt wurde. 1987 starb Ivan Jandl 50-jährig, ohne in seiner Heimat je wirklich Anerkennung erfahren zu haben.
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