Die Titanic verlässt den Hafen in Southampton.
Die Titanic verlässt den Hafen von Southampton. Privatarchiv Günter Bäbler

Schwei­ze­rin­nen und Schweizer auf der Titanic

Mehr als ein Jahrhundert nach ihrem Untergang ist die Titanic noch immer im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Geschichten des Schweizer Personals und der Passagiere der Titanic werfen ein Schlaglicht auf eine maritime Katastrophe und eine Ära gewaltigen Wandels.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Webseite: worldhistory.org
Die Entstehung der Titanic hat ihre Wurzeln im internationalen maritimen Wettbewerb. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen sich die Cunard Line und die White Star Line als kommerzielle Rivalinnen im Kampf um die Vorherrschaft im transatlantischen Passagierverkehr gegenüber. In den 1890er-Jahren traten die deutsche Hamburg-Amerika-Linie und die Norddeutsche Lloyd auf den Plan und überflügelten sowohl Cunard als auch White Star mit Schiffen, die nicht nur schnell und gross, sondern auch schön waren. Nach den erfolgreichen Premieren der Lusitania und der Mauretania von Cunard im Jahr 1907 traf sich der Geschäftsführer der White Star Line mit dem Vorsitzenden der Harland & Wolff-Werft in Belfast, Irland, um eine Strategie zu entwickeln, wie White Star seinen Marktanteil zurückerobern könnte. Sie beschlossen, ein Trio von Schiffen zu bauen, die nicht nur mit der Lusitania und der Mauretania konkurrieren, sondern diese in Grösse und Pracht übertreffen sollten. Das erste von drei neuen Schiffen, die Olympic, wurde 1910 vom Stapel gelassen und trat 1911 seine Jungfernfahrt an. Als grösstes Schiff der Welt und erstes Schiff einer neuen Klasse von Superlinern war die Olympic ein Wunderwerk, das internationale Anerkennung fand. Von den exquisiten Kabinen der ersten Klasse bis hin zum Fitnessraum, einem Veranda-Café und Palm Court – die Olympic begeisterte die Reisenden. Auch die Unterkünfte der zweiten und dritten Klasse der Olympic wurden ausgezeichnet.
Der Palm Court der Olympic, 1911.
Der Palm Court der Olympic, 1911. Wikimedia
Diese Streichholzschachtel der White Line wirbt für die "grössten, schnellsten und luxuriösesten Dampfschiffe der Welt".
Diese Streichholzschachtel der White Star Line wirbt für die «grössten, schnellsten und luxuriösesten Dampfschiffe der Welt». Wikimedia
Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Stapellauf der Titanic, des Schwesterschiffs der Olympic, im Jahr 1911 ebenfalls ein enormes Medieninteresse hervorrief. Die Titanic war noch grösser und prunkvoller ausgestattet als ihr Schwesterschiff. Neben dem Glanz und den modernen Annehmlichkeiten warb White Star intensiv für die wasserdichten Abteilungen und die ferngesteuerten wasserdichten Türen der Titanic. Die Titanic wurde als «unsinkbar» deklariert und war weltberühmt, als sie am 10. April 1912 von Southampton aus in See stach. Der Medienrummel verfehlte auch in der Schweiz seine Wirkung nicht. Auch Schweizerinnen und Schweizer gehörten zu denjenigen, die sich der Besatzung anschlossen oder eine Überfahrt auf der schicksalhaften Jungfernfahrt der Titanic buchten.
Die Titanic kurz vor dem Stapellauf im Mai 1911.
Die Titanic kurz vor dem Stapellauf im Mai 1911. Library of Congress

Das Schweizer Personal der Titanic

Viele Schweizerinnen und Schweizer – vor allem aus dem Tessin und dem italienischsprachigen Graubünden – fanden im exklusiven À-la Carte-Restaurant auf der Titanic Arbeit. Ihre Anwesenheit auf dem Schiff war im Sinne der geschäftlichen Interessen des erfolgreichen italienischen Gastronomen Luigi Gatti. Er betrieb das À-la Carte-Restaurant der Titanic als Konzession. Um eine günstige Jungfernfahrt zu gewährleisten, verliess sich Gatti auf den Fleiss italienischsprachiger Schweizer wie Narciso Bazzi. Der aus Brissago (TI) stammende Narciso hatte eine abenteuerliche Jugend zwischen der Schweiz und Südafrika verbracht, bevor er schliesslich nach London zog, um zusammen mit seinem Bruder in einem italienischen Restaurant zu arbeiten. 1911 heuerte er bei White Star als Oberkellner in der ersten Klasse auf der Olympic an. Es wird erzählt, dass Narciso eingeladen wurde, den Platz eines erkrankten Tessiner Kollegen auf der Titanic einzunehmen.
Illustration des À-la-carte-Restaurants der Titanic, welches den wohlhabenden Reisenden der ersten Klasse vorbehalten war.
Illustration des À-la-carte-Restaurants der Titanic, welches den wohlhabenden Reisenden der ersten Klasse vorbehalten war. Wikimedia
Der Speisesaal der Titanic für die Gäste der zweiten Klasse.
Der Speisesaal der Titanic für die Gäste der zweiten Klasse. Wikimedia
So speisten die Reisenden der dritten Klasse auf der Titanic.
So speisten die Reisenden der dritten Klasse auf der Titanic. Wikimedia
Mario Zanetti aus Poschiavo (GR) und seine Freunde – Alessandro Pedrini aus Osco (TI) und Abele Rigozzi aus Aquila (TI) – meldeten sich ebenfalls kurz vor dem Auslaufen der Titanic als Kellner im À-la Carte-Restaurant. Die drei waren erst kürzlich nach England eingewandert und hatten gemeinsam in Luigi Gattis Londoner Nobelrestaurants gearbeitet. Gatti beaufsichtigte auch die Arbeit von Johannes Vögelin-Dubach aus Reigoldswil (BL) und Gérald Grosclaude aus Fleurier (NE) im Restaurant. Johannes war 1900 nach England ausgewandert und hatte dort eine Stelle als Chefkoch im Londoner Savoy Hotel gefunden, bevor er eine lukrativere Anstellung als Kellner auf See bekam. Er heiratete eine andere Schweizer Einwanderin, Lina Dubach, und hatte mit ihr zwei Töchter und einen Sohn. Gérald, ein Freund von Johannes, hatte eine Ausbildung zum Konditor in einem Schweizer Restaurant in Cheltenham, England, absolviert und anschliessend in mehreren Hotels in London gearbeitet. Luigi Gatti stellte Gérald Gosclaude eigens als Kellner ein, um anderen Mitarbeitenden beim Frühstücksservice des Restaurants zu helfen.
Konditor Gérald Grosclaude, der beim Frühstück assistierte.
Konditor Gérald Grosclaude, der beim Frühstück assistierte. Privatarchiv Günter Bäbler
Aber auch in anderen Positionen arbeiteten Schweizerinnen und Schweizer. Emma Bliss, geborene Junod, stammte aus Rolle (VD), zog aber 1891 nach England, um als Dienstmädchen für die Frau eines wohlhabenden Industriellen in Surrey zu arbeiten. Bald darauf heiratete sie den Butler des Anwesens, Ernest John Bliss, mit dem sie zwei Söhne und eine Tochter bekam. Nachdem ihr Mann und ihre beiden Söhne 1911 nach Kanada ausgewandert waren, brauchte Emma das zusätzliche Einkommen, um ihre eigene Auswanderung nach Ontario zu sichern. Nachdem sie bereits als Stewardess der zweiten Klasse auf dem White Star-Linienschiff Majestic gearbeitet hatte, willigte sie im April 1912 ein, auf die Titanic zu wechseln. Wie Emma war auch Adolf Mattmann auf die Zukunft fokussiert. Adolf wurde in Inwil (LU) geboren und absolvierte eine Ausbildung zum Konditor in der bekannten Konditorei Karl Häberle in Luzern. Adolf sprach fliessend Französisch, Deutsch und Englisch und glaubte, dass er seine Talente im Ausland besser nutzen und höhere Löhne erzielen könne. Er wanderte 1911 nach England aus und erhielt einen Arbeitsvertrag auf der Olympic. Im April 1912 wechselte Adolf dann auf die Titanic, wo er als «Glacier», also in der Eisherstellung arbeitete. Doch der neue Vertrag war für ihn nur eine Zwischenlösung. Sein langfristiges Ziel war es, in einem Grand Hotel in London zu arbeiten; nur wenige Wochen vor der Abfahrt der Titanic wurde er von einem solchen eingestellt.
Adolf Mattmann, der Eismacher aus Inwil.
Adolf Mattmann, der Eismacher aus Inwil. Privatarchiv Günter Bäbler
Der eigentliche Star unter dem Schweizer Personal der Titanic war zweifellos Joseph-Alexis Bochatay, der Hilfskoch der Titanic. Der ehrgeizige Joseph wurde in Salvan (VS) geboren und machte in der Schweiz eine Lehre als Koch, bevor er nach England auswanderte. White Star wurde auf seine kulinarischen Talente aufmerksam und stellte ihn 1911 ein. Er arbeitete in der Kombüse der ersten Klasse auf der Olympic, bevor er das Angebot erhielt, in den Küchen der Titanic zu arbeiten. Sein stattliches Gehalt war fast fünfmal so hoch wie das seiner Schweizer Kolleginnen und Kollegen bei White Star: 10 Pfund im Monat.
Mittagsmenü-Karte der ersten Klasse vom 14. April 1912.
Mittagsmenü-Karte der ersten Klasse vom 14. April 1912. Wikimedia

Die Schweizer Passagie­re der Titanic

An Bord der Titanic fuhren zudem zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer als Passagiere in allen drei Serviceklassen mit. Zu den prominentesten Schweizer Gästen auf der Titanic gehörten drei Mitglieder der jüdischen Familie Frölicher-Stehli aus Zürich. Maximilian Josef Frölicher war ein Geschäftsmann, der die Tochter seines Arbeitgebers, Margaretha Emerentia Frölicher-Stehli, geheiratet hatte. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie von Seidenhändlern. Das Paar besass eine mondäne Villa an der Mittelstrasse 6 in Zürich und hatte fünf Kinder. Ihre Tochter Hedwig begleitete sie auf dieser Geschäftsreise nach New York. Alle drei reisten in der ersten Klasse, aber die Reise war nicht wirklich angenehm – Hedwig litt während der ganzen Reise an Seekrankheit. Die Frölicher-Stehlis waren befreundet mit zwei prominenten Basler Passagieren, die ebenfalls in der ersten Klasse reisten: Alfons Simonius-Blumer und Max Staehelin. Alfons begann seine Karriere als Oberst in der Schweizer Armee und wurde später angesehener Präsident des Schweizerischen Bankvereins. Er reiste mit Max, einem Finanzanwalt und Direktor der Schweizerischen Treuhandgesellschaft, nach New York. Während der Reise trafen sie sich mit ihren Freunden, den Frölicher-Stehlis, im Café Parisien und im Raucherzimmer der ersten Klasse und diskutierten über ihre Geschäftsinteressen in den Vereinigten Staaten.
Max Fröhlicher reiste mit seiner Familie in der ersten Klasse.
Max Fröhlicher, der mit seiner Familie in der ersten Klasse reiste. Privatarchiv Günter Bäbler
Der Unternehmer und Präsident des Schweizerischen Bankvereins Alfons Simonius-Blumer.
Der Unternehmer und Präsident des Schweizerischen Bankvereins Alfons Simonius-Blumer. Privatarchiv Günter Bäbler
Ebenfalls in der ersten Klasse reiste Emma Sägesser. Sie wurde in Aarwangen (BE) geboren, wuchs aber in Genf auf. Sie war das Dienstmädchen der Pariser Nachtclub-Entertainerin Ninette Aubart. Ninette war die aktuelle Geliebte des wohlhabenden amerikanischen Magnaten Benjamin Guggenheim, Nachkomme einer schweizerisch-jüdischen Familie. Guggenheim war es auch, der die Eintrittskarten für die beiden bezahlte. Das Paar setzte sich über die gesellschaftlichen Konventionen hinweg und trat zusammen auf, obwohl Benjamin Guggenheim noch verheiratet war. Andere tuschelten, weil Ninette Aubart katholisch war und Benjamin Guggenheim jüdisch. Emma machte das nichts aus – sie hielt Guggenheim für einen perfekten Gentleman.
Schweizer Passagiere belegten auch Kabinen der zweiten und dritten Klasse. Marie-Marthe Jerwan, geborene Thuillard, wurde in Mont-de-Couvet (NE) geboren, war aber in Manhattan glücklich mit einem maronitisch-libanesischen Korrektor verheiratet. Als Marie nach einem Familienbesuch in der Schweiz in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, reiste sie in der zweiten Klasse und genoss die Gesellschaft von zwei französischen Passagieren, René Lévy und Jean-Noël Malachard. Sie teilten ihr intellektuelles Interesse an der Wissenschaft und der Kinematographie. Die 17-jährige Bertha Lehmann aus Lotzwil (BE) reiste ebenfalls allein in der zweiten Klasse. Ihre Geschwister hatten ihr das nötige Geld geschickt, damit sie sie in Iowa besuchen konnte. Obwohl sie ursprünglich im Mai reisen wollte, beschloss sie, sich nach Ostern einzuschiffen. Sie empfand den Seegang als unangenehm und war bis zum 14. April krank. Josef Arnold und seine Frau Josefine Franchi aus Altdorf (UR) wollten mit der Überfahrt in der dritten Klasse in die Vereinigten Staaten auswandern. Verwandte in Wisconsin hatten die Fahrkarten bezahlt. Sie freuten sich auf den Start in ein neues Leben im Mittleren Westen der USA, mussten aber ihren kleinen Sohn in Kanton Uri zurücklassen. Ihre Cousine Aloisia Haas, ebenfalls aus Altdorf (UR), begleitete sie, doch ihr Ziel war Chicago. Sie hatte schon lange vom Leben in der damals zweitgrössten Stadt der Vereinigten Staaten geträumt.
Josefine und Josef Arnold, die auf der Titanic nach Amerika auswandern wollten.
Josefine und Josef Arnold, die auf der Titanic nach Amerika auswandern wollten. Privatarchiv Günter Bäbler
Ein junger Landwirt namens Albert Wirz aus Buchholz (ZH) in der Nähe von Uster teilte seine Kabine mit Joseph, da die White Star Line Männer und Frauen in der dritten Klasse trennte. Auch Albert war ein Auswanderer und wollte bei seinen Verwandten in Beloit, Wisconsin, mit der Landwirtschaft beginnen.

Eine denkwür­di­ge Nacht

Die ersten vier Tage der Jungfernfahrt der Titanic, die von Southampton über Cherbourg und Queenstown (das heutige Cobh) nach New York führte, verliefen ereignislos. Die Passagiere bewunderten die Annehmlichkeiten des Schiffes und vertrieben sich die Zeit. Am Nachmittag des 14. April 1912 empfingen die Funker auf der Titanic eine Reihe von Nachrichten von anderen Schiffen, die sie vor Eisbergen warnten. Diese Warnungen wurden von Kapitän Edward Smith ignoriert, der die Titanic mit einer Geschwindigkeit von fast 22 Knoten (41 km/h) fahren liess. Seine Entscheidung sollte sich als verhängnisvoll erweisen: Kurz nach 23.40 Uhr kollidierte die Titanic mit einem Eisberg, der fünf der wasserdichten Abteilungen des Schiffes beschädigte. Einige überlebende Passagiere erinnerten sich, den Aufprall gespürt zu haben oder von ihm geweckt worden zu sein. Andere erinnerten sich, das plötzliche Abschalten der Maschinen gehört zu haben. Einige gingen auf das Bootsdeck, noch bevor sie dazu aufgefordert wurden. Die Frölicher-Stehlis begutachteten die Situation und entschieden sich, in das Rettungsboot Nr. 5 zu steigen, das gegen 12.45 Uhr zu Wasser gelassen wurde. Kurz darauf gingen Alfons Simonius-Blumer und Max Staehelin in das Rettungsboot Nr. 3. Emma Sägesser stieg gegen 1.30 Uhr mit der verzweifelten Ninette Aubart in das Rettungsboot Nr. 9. Als ihr Rettungsboot in den Atlantik hinabtauchte, verabschiedete sich Benjamin Guggenheim in fliessendem Deutsch von Emma. Bertha Lehmann kämpfte gegen die immer grösser werdende Menschenmenge an und entkam mit anderen Frauen der zweiten Klasse im Rettungsboot Nr. 12, das gegen 1:30 Uhr nachts zu Wasser gelassen wurde. Marie-Marthe Jerwan war so klug, sich warm anzuziehen und eine kleine Tasche mit lebenswichtigen Dingen zu packen, bevor sie um 1.35 Uhr in das Rettungsboot Nr. 11 stieg. Zu diesem Zeitpunkt war fast die Hälfte der Rettungsboote verschwunden und kein Rettungsschiff in Sicht.
Interview über die Schiffskatastrophe mit der Überlebenden Emma Arnold-Sägesser am 14. April 1937 auf Radio Beromünster. SRF
Auf dem Schiff herrschte eine spürbare Panik, und Hunderte versuchten, sich in den wenigen verbleibenden Rettungsbooten in Sicherheit zu bringen. Emma Bliss spürte die drohende Gefahr und verliess den ihr zugewiesenen Posten, um mit anderen Besatzungsmitgliedern in das Rettungsboot Nr. 15 zu steigen, nur Sekunden bevor dieses um 1.41 Uhr zu Wasser gelassen wurde. Es wird behauptet, dass mehrere Stewards das männliche Personal des À-la-carte-Restaurants festhielten, als das Schiff sank. Keiner von den Schweizer Restaurant-Angestellten überlebte den Untergang. Ein ähnliches Schicksal erwartete die Schweizer Passagierinnen und Passagiere der dritten Klasse, als das Schiff gegen 2.20 Uhr unterging. Die Titanic verfügte über 20 Rettungsboote, in denen theoretisch bis zu 1178 Personen Platz finden konnten. Von den insgesamt 2240 Passagieren und Besatzungsmitgliedern der Titanic überlebten nur 706 und wurden in den frühen Morgenstunden des 15. April vom Passagierschiff Carpathia gerettet.
Eine Gruppe von Überlebenden an Bord der Carpathia.
Eine Gruppe von Überlebenden an Bord der Carpathia. Library of Congress
Im Laufe einiger Wochen wurden 336 Leichen geborgen. Zehn Tage nach der Katastrophe barg das kanadische Kabelschiff MacKay-Bennett die Leiche des Landwirts Albert Wirz. Mehrere persönliche Gegenstände – zwei Taschenuhren, eine Messingkette, ein Tintenfass, eine Streichholzschachtel, ein Versicherungsbuch, ein Reisepass, eine leere Brieftasche und eine Brieftasche mit 36 Cent – wurden ebenfalls geborgen. White Star schickte Alberts persönliche Gegenstände an seine Eltern in der Schweiz zurück. Alberts schwarze Lederbörse ist heute in der Ausstellung Einfach Zürich im Landesmuseum zu sehen. Alberts Leichnam wurde über Halifax, Kanada, nach Beloit, Wisconsin, zur Beerdigung überführt. Am 11. Mai 1912 würdigte die Beloit Daily News in einem Nachruf einen jungen Mann, dessen Leben von unerfüllten Hoffnungen geprägt gewesen war: Seine Reise ist beendet. Er hat den Ort erreicht, zu dem er aufgebrochen ist. Aber kein rotwangiger (Schweizer) Junge wird seinen Reichtum an Energie und Arbeit in die Industrie von Beloit einbringen. Stattdessen markiert ein kleiner Hügel auf dem städtischen Friedhof die Vollendung seiner Lebenshoffnungen und erinnert die Einwohner von Beloit an die grosse Tragödie auf dem Meer, die die gesamte Zivilisation der Gegenwart erschütterte und als eine der grössten Katastrophen aller Zeiten in die Geschichte eingehen wird.
Auf Albert Wirz' schwarzer Brieftasche sind noch seine Initialen zu erkennen.
Auf Albert Wirz' schwarzer Brieftasche sind noch seine Initialen zu erkennen. © Einfach Zürich, Foto: Mara Truog
Das Leben der Schweizer Passagiere und des Personals der Titanic ist ein faszinierendes Porträt einer Epoche und einer Nation, die von Veränderungen und Widersprüchen geprägt ist: Auswanderung nach England und in die Vereinigten Staaten trotz des neu entdeckten industriellen Reichtums in der Heimat; steigende soziale Mobilität und dennoch verbleibende Klassenvorurteile; die Integration der Juden angesichts des Antisemitismus; neue wirtschaftliche Möglichkeiten für Tessiner trotz weit verbreiteter anti-italienischer Ressentiments; und der steigende Status der Frauen. Historikerinnen und Historiker stellen treffend fest, dass der Untergang der Titanic den Niedergang der Belle Époque in Europa und des Edwardianischen Zeitalters in Grossbritannien einläutete. Ironischerweise war es jedoch eine andere Schiffskatastrophe, die das Ende dieser Epoche markierte. Es war der Untergang des Schiffes, das während des «langen edwardianischen Sommers» den Ton für den Prunk auf See angab: die Lusitania.

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