
Mit Geschlechtsteilen geschmückt
Unter den mittelalterlichen Tragezeichen schlummert eine Grosszahl von Exemplaren, welche so gar nicht in ein Schema passen: Phantastische Wesen aus Geschlechtsteilen lassen uns daran zweifeln, wie prüde das Mittelalter wirklich war.
Die kleinen Accessoires kommen in allen möglichen Formen daher. Darunter finden sich einfache Ornamente, Abbildungen von Tieren oder Tragezeichen in der Form der bekannten Jakobsmuschel. Abzeichen mit Jakobsmuschel oder anderen sakralen Abbildungen erwarben die Menschen an Heiligenstätten. Das kleine Blei-Zinn-Zeichen erinnerte den Pilger oder die Pilgerin nicht nur an den besuchten Ort, sondern lud sie mit dessen Kräften auf. Diese Kräfte, gespeichert in dem kleinen Abzeichen, trug die Person durch die Befestigung an der Kleidung ganz nah am Körper bei sich und fühlte sich somit gestärkt für den weiteren Weg.


Die Tragezeichen sind nicht die einzigen Objekte aus dem Mittelalter, die in ihrer Darstellung provozieren können und in obszöner wie auch in sakraler Ausstattung vorhanden sind. An vielen mittelalterlichen Kirchen prangen nicht nur Skulpturen aus Erzählungen des Christentums, es tummeln sich auch nackte Figuren, die ihre Vulven präsentieren, Wasserspeier, die ihre nackten Hintern nach aussen strecken oder ein erigiertes Glied in der Hand halten. Die Vulva zeigenden Sheela-na-Gigs in Grossbritannien sollen wohl die Fruchtbarkeit der Felder und der christlichen Gemeinschaft fördern. Die obszönen Figuren an den Gotteshäusern am Jakobsweg schützen diese vor dämonischen Kräften, indem ihre Fratzen und überraschende Nacktheit die Dämonen erschrecken und vertreiben sollen.
Diese Taktik, «Feuer mit Feuer» zu bekämpfen, lässt sich auch auf die Tragezeichen übertragen. Die Kunsthistorikerin Ruth Melinkoff ging sogar soweit, dass sie annahm, die Geschlechtsteile darstellenden Tragezeichen wurden gemeinsam mit den christlichen Pilgerzeichen getragen, um die Pilgernden zusätzlich vor Dämonen zu schützen. Dafür spricht, dass die Tragezeichen, unabhängig von ihren christlichen oder obszönen Darstellungen an den gleichen Orten gefunden und somit wohl auch in den gleichen Werkstätten hergestellt wurden. Ob sich ein Dämon jedoch ab einem geflügelten Penis oder einer reitenden Vulva erschreckt, die gegenüber den fratzenhaften Kirchenskulpturen doch eher verniedlichend wirken? Gemäss einer anderen Theorie sind die Geschlechtsteile, die christliche Aktivitäten wie eine Prozession oder das Pilgern nachahmen, Satire. Sie sind mit Humor und einem Augenzwinkern zu lesen, regen zum Lachen und Diskutieren an.


Den fliegenden Phallus mit Flügeln, Beinen, Krone und Glockenhalsband gibt es sowohl als Tragezeichen, wie auch als Illustration im Decretalium Gregorii IX von 1392. Bibliothèque Nationale de France / kunera.nl


