Passlandschaft mit Wasserweg: Caminadas Kanal aus parallelen Röhrenschleusen in alpinen Höhen.
Passlandschaft mit Wasserweg: Caminadas Kanal aus parallelen Röhrenschleusen in alpinen Höhen. Bildquelle: P. Caminada / Canaux De Montagne

Schiffe sollen klettern lernen

Mit einer simplen Idee will Pietro Caminada das Undenkbare möglich machen: Riesige Lastschiffe sollen ohne eigenen Antrieb über die Alpen fahren. Der Geniestreich des Ingenieurs mit Bündner Wurzeln funktioniert – in seinem Kopf.

Helmut Stalder

Helmut Stalder

Helmut Stalder ist Historiker, Publizist und Buchautor mit Schwerpunkt Wirtschafts-, Verkehrs- und Technikgeschichte.

Auch im Gebirge gelten die Gesetze der Physik. Wie Newtons Apfel vom Baum herabfällt, fliesst auch Wasser mit der Schwerkraft abwärts. Schiffe können nicht klettern, Menschen nicht zaubern und das Perpetuum Mobile gibt es nicht. Doch das sieht der schweizerisch-italienische Ingenieur Pietro Caminada anders. 1907 ersinnt er ein System, das die physikalischen Gesetze scheinbar auf den Kopf stellt – oder sie vielmehr so bändigt, dass seine Fantasie Realität werden kann: eine «Via d’Acqua transalpina», ein schiffbarer Wasserweg über die Alpen.
Zwischen Genie und Wahnsinn: Pietro Caminada auf einem Porträt aus den 1920er-Jahren.
Zwischen Genie und Wahnsinn: Pietro Caminada auf einem Porträt aus den 1920er-Jahren. Archiv Studio Polazzo, Roma
Um 1900 sind die Alpen für Verkehr erschlossen. Über wichtige Pässe führen fahrbare Strassen, 1882 wird der Gotthard mit dem damals längsten Tunnel der Welt für den Schienenverkehr eröffnet. Doch Pietro Caminada hat viel kühnere Pläne: die Schiffbarmachung der Alpen. Sein Kanal soll vom Hafen von Genua über den Apennin und durch die Po-Ebene nach Mailand und an den Comersee führen. Von Chiavenna steigt er hinauf zum Splügenpass. Auf 1200 Metern Höhe beim Dorf Isola führt er durch einen 15 Kilometer langen Scheiteltunnel unter dem Pass in die Roffla-Schlucht, dann durch die Viamala-Schlucht hinunter nach Thusis und auf dem Rhein via Bodensee nach Schaffhausen und Basel mit Anschluss an die Nordsee.
Am Splügen-Pass sollten die Schiffe durch einen Tunnel geführt werden.
Am Splügen-Pass sollten die Schiffe durch einen Tunnel geführt werden. Bildquelle: P. Caminada / Canaux De Montagne
Caminada plante für die Schiffe auch Brücken. Beispielsweise, um die Viamalaschlucht zu überwinden.
Caminada plante für die Schiffe auch Brücken. Beispielsweise, um die Viamalaschlucht zu überwinden. Bildquelle: P. Caminada / Canaux De Montagne
591 Kilometer misst sein Wasserweg, 361 Kilometer in Kanälen, 43 Kilometer in Röhren. 50 Meter lange Lastkähne sollen je 500 Tonnen Fracht vom Mittelmeer nach Zentraleuropa bringen – ohne mechanischen Antrieb, allein durch den Auftrieb im Wasser. Sein Geniestreich: ein Röhrenschleusensystem, in dem das Wasser die Schiffe gleichzeitig nach vorne und nach oben schiebt.

Pionier in Brasilien

Pietro Caminada war kein Phantast, sondern ein erfahrener Ingenieur. Er entstammte einem alten Bündner Geschlecht. Sein Vater Gion Antoni Caminada war Mitte des 19. Jahrhunderts von Vrin im Lugnez nach Mailand ausgewandert und hatte eine Mailänderin geheiratet. Pietro wurde 1862 dort geboren. Nach seiner Ausbildung zum Ingenieur wanderte er nach Südamerika aus und baute unter anderem in der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro die Strassenbahn auf dem ehemaligen Aquädukt «Arcos da Lapa», die erste elektrische Tramlinie in Südamerika. 1907 kehrt er mit seiner Frau Luiza de Menezes und den drei Töchtern Itala, Stella und Alba zurück und eröffnet in Rom ein technisches Büro.
Caminadas Idee: Tramlinie auf dem ehemaligen Aquädukt Arcos de Lapa in Rio de Janeiro, um 1900.
Caminadas Idee: Tramlinie auf dem ehemaligen Aquädukt Arcos de Lapa in Rio de Janeiro, um 1900. Wikimedia
Der Ausbau der Wasserwege steht nun ganz oben auf der politischen Agenda. Die Binnenschifffahrt gilt als effizient und zukunftsträchtig. Entsprechend zahlreich sind die Pläne für neue Kanäle. In Frankreich ist das Kanalnetz schon weit ausgebaut. Österreich hat ein Schiffshebewerk ausgeschrieben, das Donau und Oder verbinden soll. Auch der Schweiz gewinnt die Idee an Boden. Der ETH-Ingenieur Rudolf Gelpke, die Autorität des Fachs, hatte 1903 mit einem Schraubendampfer bewiesen, dass der Rhein bis Basel schiffbar ist, und propagiert eine Rhein-Gotthard-Wasserstrasse mit Häfen in Flüelen und Biasca, wo die Fracht auf die Gotthardbahn umgeladen werden soll. In Italien ist die Verbesserung der Wasserwege ebenfalls Dauerthema. Die Po-Ebene ist bereits mit der Adria verbunden. 1905 erörtert ein internationaler Binnenschifffahrtskongress in Mailand die Frage, ob ein Wasserweg vom Ligurischen Meer oder der Adria nach Zentraleuropa möglich wäre. Die Experten meinen, es sei noch verfrüht, an die Realisierung zu denken. Doch genau dies tut Pietro Caminada.

Kommuni­zie­ren­de Röhren

1907 legt er die Broschüre «Canaux de montagne – Nouveau système de transport naturel par voie d’eau» vor, eine Wasserstrasse von Genua nach Zentraleuropa. «Die Umsetzung wird die heutigen Verkehrsbedingungen radikal verändern», schreibt er im Vorwort. Statt konventionelle Schleusen, die ein Schiff vertikal heben oder senken, sieht er «geneigte Röhrenschleusen» vor, die sich eine nach der andern an den Berghang schmiegen. Füllt sich ein Sektor mit Wasser, wird das Schiff im Innern gleichzeitig nach vorn und oben geschoben, geführt an einer Kette in einer Schiene. So sollen die Schiffe von Schleusenkammer zu Schleusenkammer grosse Steigungen überwinden. Vorgesehen sind zwei parallele Röhrenstränge. Bei der Talfahrt eines Schiffes würde das Wasser aus der einen Röhre in die andere Röhre gelassen, wo es ein anderes Schiff auf der Bergfahrt anhebt, ein simultanes Auf-und-Ab in kommunizierenden Röhren.
Von Genua bis Basel auf dem Wasser: 591 Kilometer misst Caminadas Vision.
Von Genua bis Basel auf dem Wasser: 591 Kilometer misst Caminadas Vision. Bildquelle: P. Caminada / Canaux De Montagne
Im Patent Nummer 955,317, das Caminada in den USA einreicht und 1910 zugesprochen erhält, schreibt er: «Die vorliegende Erfindung erlaubt das ununterbrochene und automatische Vorwärtskommen der Schiffe, ohne dass dazu mechanische Schleppmittel nötig sind.» Der Wasserbedarf für ein aufwärts- oder abwärtsfahrendes Schiff entspreche dem Volumen, das eine Sektion enthalte. Bemerkenswert sei, «dass der Übergang von einer Sektion zur nächsten nie stoppt, diese Bewegung ist eine kontinuierliche». Caminada hat, so scheint es, das Perpetuum Mobile erfunden, das Schiffe über Berge hebt – so lange nur genug Wasser nachfliesst.
US-Patent von Pietro Caminada, 1910.
US-Patent von Pietro Caminada, 1910. US-Patent 955,317 / P. Caminada 1910

Audienz beim König

Caminada ist eine charismatische Persönlichkeit. Er schart Prominente um sich und zieht Geldgeber in seinen Bann. Als gewichtigen Mitstreiter gewinnt er den 70-jährigen Senator Giuseppe Colombo, ehemaliger Finanzminister und Gründer des Politecnico di Milano. In der Zeitung Corriere della Sera schreibt dieser Ende 1907, Caminada schlage eine Lösung vor, «die der transalpinen Schifffahrt einen neuen, unerwarteten Horizont» eröffne. «Eine Serie von Röhrenschleusen unterschiedlicher Länge und Neigung je nach Gefälle folgt dem Verlauf des Geländes wie die Geleise einer Eisenbahn.» Mit keinem Wort äussert er Zweifel an der technischen Machbarkeit, an den Kosten oder gar am Sinn einer Alpenüberschiffung. Der Bericht schlägt ein. Fünf Tage später ruft König Vittorio Emanuele III. Pietro Caminada zu einer Privataudienz in den Quirinalspalast. Der Monarch lässt sich das Projekt erklären und lobt den Erfinder. «Wenn ich schon längst vergessen sein werde, wird man immer noch von Ihnen reden», prophezeit er. Auch die Neue Zürcher Zeitung ist angetan: «Caminada ist es gelungen, ein System zu ersinnen, das nach Meinung des Senators Colombo (...) praktisch durchführbar ist. Es ist, wie Colombo bemerkt, so einfach, wie alle genialen Ideen.» Ein paar Tage später bringt die Berliner Illustrierte einen euphorischen Bericht. Caminada sei «einer der hervorragendsten Wasserbautechniker der Gegenwart». Die New York Times nennt Caminada «a man of genius», der versichere, ein schwieriges Problem gelöst zu haben, indem er eines der Grundprinzipien der Hydraulik benutze.
Pietro Caminada mit Mitarbeitern und Freunden, Anfang 20. Jahrhundert.
Nicht nur seine Freunde sind von Pietro Caminadas Projekt begeistert... Archiv Studio Polazzo, Roma
Porträt von König Vittorio Emanuele III.
... sondern auch der italienische König Vittorio Emanuele III. Wikimedia
In Caminadas Heimat Graubünden sind die Reaktionen indes durchzogen. Der Splügen-Pass ist wegen des Gotthard-Bahntunnels ins Abseits geraten. Wichtige Politiker lobbyieren deshalb dafür, den Plan einer Ostalpenbahn wieder aufzunehmen. Den Kanal sehen sie als Konkurrenz. «Uns wäre besser gedient, wenn die Italiener sich einmal energisch aufraffen und fest erklären würden, wir geben so und so viele Millionen an die Splügenbahn», schreibt die Bündner Post.

«Eine techni­sche Dichtung»

Die Eisenbahn erobert die Welt, Ozeandampfer durchpflügen die Meer, Telegrafenkabel verknüpfen Kontinente, der Suezkanal ist gebaut und der Panamakanal bald vollendet – es ist die Zeit der Technikeuphorie und des Machbarkeitsglaubens. Dass Caminadas Röhrenschleusen funktionieren würden, stellen auch die Fachleute nicht infrage. Zweifel haben sie nur wegen der Dimensionen und Kosten, die Caminada auf 400 Millionen Franken veranschlagt. Im Schweizer Baublatt heisst es, die Details fehlten noch, doch werde das Projekt «im Grossen und Ganzen als wohl durchführbar erklärt». Einer der wenigen Skeptiker ist ETH-Ingenieur Rudolf Gelpke. «Die Idee ist beachtenswert, und es ist sehr erfreulich, dass ihre Realisierbarkeit auch durch Experimente nachgewiesen werden soll», schreibt er in der Schweizerischen Bauzeitung.  Doch er lässt anklingen, dass er Caminada für einen Träumer hält. «Und so klettern denn die geduldigen Röhren, vorläufig wenigstens auf dem Papier, das S.-Giacomo-Tal aufwärts bis nach Isola, 1247 m über Meer.» Wirtschaftlich rechtfertigen lasse sich das Projekt unter keinen Umständen. Das Projekt, urteilt Gelpke, sei eine «technische Dichtung».
Schleusensystem nach der Idee von Pietro Caminada.
Für Gelpke ein Märchen, für Caminada eine Vision: Durch Röhren, Bassins und Tunnels fahren die Schiffe bergauf und bergab. Bildquelle: P. Caminada / Canaux De Montagne
Caminada jedoch ist von der Gewissheit des Visionärs getragen. In seinem Studio an der Piazza di Pietra in Rom baut er Modelle seines Schleusensystems und studiert Neigungswinkel, Reibung, Auftrieb und technische Finessen. Für die Ausstellung der Akademie der Wissenschaften 1908 in Mailand baut er ein Modell im Massstab 1:10. Der Plan der kletternden Schiffe bleibt jedoch ein Luftschloss. Italien steckt in wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten und setzt zur Ablenkung auf eine koloniale Expansion. 1911 annektieren italienische Truppen zwei Provinzen in Libyen. 1915 tritt das Land in den Ersten Weltkrieg ein. Caminada konzentriert sich nun auf den Städtebau. Um 1916 plant er den Ausbau des Hafens von Genua, später die Erweiterung des Hafens von Civitavecchia. Für Mailand entwirft er einen neuen Stadtteil südlich der Piazza del Duomo. In Rom konzipiert er um 1920 eine «Città Giardino» im Stadtteil Montesacro.
Skizze des Wasserswegs über einen Alpenpass von Pietro Caminada.
Bis an sein Lebensende glaubte Pietro Caminada an die Alpenüberquerung per Schiff. Bildquelle: P. Caminada / Canaux De Montagne
Das Kanalprojekt lässt Caminada aber nicht los. Bereits schwer krank, plant er 1923 eine Begehung des Splügengebiets, um erstmals die Verhältnisse vor Ort zu studieren. Ein paar Monate vorher stirbt er jedoch im Alter von 60 Jahren. Er sei «von einem gewaltigen Idealismus erfüllt» gewesen, schrieb Christian Caminada, der spätere Bischof von Chur, in einem Nachruf auf seinen Verwandten. «Er war ein Feuerkopf mit langem weissem Bart und Haar bis auf die Schultern, ein brennender Vesuv mit Schnee auf dem Gipfel.» Seine «Via d’Acqua transalpina» geriet in Vergessenheit. Heute erinnert nur noch die «Via Pietro Caminada» an den Ingenieur. Es ist eine schmale, mit brüchigem Asphalt bedeckte Landstrasse zwischen Rom und dem Tyrrhenischen Meer. Sie führt einmal fast im Kreis herum und eigentlich nirgendwo hin.

Verkannte Visionäre

Dieser überarbeitete und aktualisierte Text stammt ursprünglich aus dem Buch «Verkannte Visionäre. 25 Schweizer Lebensgeschichten» von Helmut Stalder. Es ist 2020 bei NZZ libro erschienen.

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