
Schiffe sollen klettern lernen
Mit einer simplen Idee will Pietro Caminada das Undenkbare möglich machen: Riesige Lastschiffe sollen ohne eigenen Antrieb über die Alpen fahren. Der Geniestreich des Ingenieurs mit Bündner Wurzeln funktioniert – in seinem Kopf.



Pionier in Brasilien

Kommunizierende Röhren


Audienz beim König
Der Bericht schlägt ein. Fünf Tage später ruft König Vittorio Emanuele III. Pietro Caminada zu einer Privataudienz in den Quirinalspalast. Der Monarch lässt sich das Projekt erklären und lobt den Erfinder. «Wenn ich schon längst vergessen sein werde, wird man immer noch von Ihnen reden», prophezeit er.
Auch die Neue Zürcher Zeitung ist angetan: «Caminada ist es gelungen, ein System zu ersinnen, das nach Meinung des Senators Colombo (...) praktisch durchführbar ist. Es ist, wie Colombo bemerkt, so einfach, wie alle genialen Ideen.» Ein paar Tage später bringt die Berliner Illustrierte einen euphorischen Bericht. Caminada sei «einer der hervorragendsten Wasserbautechniker der Gegenwart». Die New York Times nennt Caminada «a man of genius», der versichere, ein schwieriges Problem gelöst zu haben, indem er eines der Grundprinzipien der Hydraulik benutze.


«Eine technische Dichtung»
Einer der wenigen Skeptiker ist ETH-Ingenieur Rudolf Gelpke. «Die Idee ist beachtenswert, und es ist sehr erfreulich, dass ihre Realisierbarkeit auch durch Experimente nachgewiesen werden soll», schreibt er in der Schweizerischen Bauzeitung. Doch er lässt anklingen, dass er Caminada für einen Träumer hält. «Und so klettern denn die geduldigen Röhren, vorläufig wenigstens auf dem Papier, das S.-Giacomo-Tal aufwärts bis nach Isola, 1247 m über Meer.» Wirtschaftlich rechtfertigen lasse sich das Projekt unter keinen Umständen. Das Projekt, urteilt Gelpke, sei eine «technische Dichtung».

Der Plan der kletternden Schiffe bleibt jedoch ein Luftschloss. Italien steckt in wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten und setzt zur Ablenkung auf eine koloniale Expansion. 1911 annektieren italienische Truppen zwei Provinzen in Libyen. 1915 tritt das Land in den Ersten Weltkrieg ein. Caminada konzentriert sich nun auf den Städtebau. Um 1916 plant er den Ausbau des Hafens von Genua, später die Erweiterung des Hafens von Civitavecchia. Für Mailand entwirft er einen neuen Stadtteil südlich der Piazza del Duomo. In Rom konzipiert er um 1920 eine «Città Giardino» im Stadtteil Montesacro.

Seine «Via d’Acqua transalpina» geriet in Vergessenheit. Heute erinnert nur noch die «Via Pietro Caminada» an den Ingenieur. Es ist eine schmale, mit brüchigem Asphalt bedeckte Landstrasse zwischen Rom und dem Tyrrhenischen Meer. Sie führt einmal fast im Kreis herum und eigentlich nirgendwo hin.
Verkannte Visionäre
Dieser überarbeitete und aktualisierte Text stammt ursprünglich aus dem Buch «Verkannte Visionäre. 25 Schweizer Lebensgeschichten» von Helmut Stalder. Es ist 2020 bei NZZ libro erschienen.