Blick auf den Weiler Ze Binne, der zur Gemeinde Binn gehört. Postkarte, um 1960.
Blick auf den Weiler Ze Binne, der zur Gemeinde Binn gehört. Postkarte, um 1960. Landschaftspark Binntal

Binntal: Auf der Spur von Natur und Kultur

Seit Jahrhunderten prägen die Menschen die Landschaft. Auch in scheinbar abgelegenen Gegenden wie dem Binntal. Wie viel Kultur steckt in der Natur?

Noah Businger

Noah Businger

Noah Businger ist Historiker und doktoriert in älterer Schweizer Geschichte an der Universität Bern.

Ein schmaler Talgrund, in dem etwa 120 Menschen leben, und steile Hänge, die oberhalb der Baumgrenze abflachen: Das ist das Binntal. Auf den ersten Blick ein scheinbar beliebiges Alpental. Doch besonders bei Naturliebhabenden geniesst das Walliser Tal einen ausgezeichneten Ruf als Reisedestination. Hier finden sie viele seltene Mineralien, Ruhe im Übermass und eine reizvolle Landschaft mit Flachmooren, Alpweiden, Föhrenwäldern, Gletschervorfeldern, Bergseen, Schuttkegeln und alpinen Auen. Diese Landschaft wird auf den eingängigen Plattformen von Reisenden aus aller Welt als «unberührt» oder als «intakte Natur» beschrieben. Selbst im Bundesinventar der schützenswerten Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) wird das Binntal wegen seiner Eigenschaft als «kaum beeinträchtigtes Alpental» geführt. Doch wie viel intakte Natur gibt es im Binntal? Oder anders gefragt: Wie stark hat der Mensch die Landschaft im Binntal geprägt?
Eine Bauernfamilie in Binn, ca. 1900-1910.
Eine Bauernfamilie in Schmidigehischere. Médiathèque Valais - Martigny / Pierre Odier

Kultur kommt in die Natur

Aus dem Goms führt ein spektakulärer Weg ins Binntal. Im Hang der Twingischlucht führt eine schmale Strasse durch die steilen Felswände. Es mag auf den ersten Blick erstaunen, dass sich hinter diesem unwegsamen Gelände überhaupt Menschen niedergelassen haben. Doch anscheinend trotzt der Mensch der Natur. Er hat sich mit Wegen und Strassen in die Landschaft eingeschrieben, sich Platz verschafft, die Twingischlucht bezwungen und das Binntal erschlossen. Die Strasse ins Binntal besteht erst seit 1964, doch bereits bevor es diesen bequemen Zugang gab, prägten die Menschen das Tal.
Zwei Frauen in Binn, um 1900-1910.
Zwei Frauen in Schmidigehischere. Médiathèque Valais - Martigny / Pierre Odier
Eine Bäuerin mit Rechen. Postkarte, um 1910.
Eine Bäuerin mit Rechen auf dem alten Weg ins Binntal, Postkarte um 1910. Im Hintergrund Ausserbinn mit den charakteristischen Landwirtschaftsflächen. Martha Schmid, Ernen
Das Binntal ist eines der ältesten Siedlungsgebiete im Raum der heutigen Schweiz. Archäologische Funde zeigen, dass hier bereits im 4. Jahrhundert vor Christus Menschen siedelten. Was führte die Menschen so früh an diesen entlegenen Ort? Im hinteren Binntal führen mehrere Pässe ins italienische Val Formazza. Besonders bedeutsam ist der Albrunpass. Seit der Steinzeit bestand hier eine Handelsroute und der Pass blieb bis ins 15. Jahrhundert die wichtigste Verbindung zwischen dem Oberwallis und Norditalien. Am Pass fand Austausch statt. Hier kamen Güter ins Tal und es gingen Güter hinaus. Hier kamen Menschen ins Tal und es gingen Menschen hinaus: erst als Kelten hinein, dann als Walser hinaus. Das Binntal lag für lange Zeit viel zentraler, als es heute den Anschein macht.
Die Steinbogenbrücke stammt von 1564 und ist Teil des alten Passweges über den Albrun. Postkarte, um 1920.
Die Steinbogenbrücke in Schmidigehischere stammt von 1564 und ist Teil des alten Passweges über den Albrun. Postkarte, um 1920. Ursula Imhof Ulrich, Baar/Binn
Als sich die Kelten im Tal niederliessen, begannen sie die Naturlandschaft, die sie damals vorfanden, umzugestalten. Um trotz des nur schmalen Talgrundes Landwirtschaft betreiben zu können, verschoben sich bereits die keltische Bevölkerung zwischen den Höhenstufen. Über die Zeit entwickelte sich daraus die Dreistufenbewirtschaftung. Zwischen Heimgütern im Talboden, Voralpen auf mittlerer Stufe und den hochgelegenen Alpen wandern seitdem die Menschen hin und her. Dabei greifen sie immer stärker in ihre Umgebung ein. Sie bauen Wege, die ihre Produktionsstätten miteinander verbinden. Sie betreiben intensiven Ackerbau im Talgrund und kultivierten zur Selbstversorgung Roggen auf über 1400 m ü. M. Sie roden Wälder, terrassieren Hänge und bewässern diese durch umgeleitete Bäche, um für ihr Vieh möglichst viele Sommerweiden und Heuvorräte zu gewinnen. Mit diesen Eingriffen schufen die Menschen eine naturnahe Kulturlandschaft. In solchen Landschaften ist es schwierig, Natur von Kultur zu trennen. Denn die menschliche Landnutzung erscheint natürlich. Es sind sanfte Eingriffe des Menschen, die zu einer naturnahen Kulturlandschaft führen. Aber eben, es sind Kulturlandschaften. Das Binntal ist nicht «urtümlich» oder «naturbelassen», sondern ein feingliedriges und vielfältiges Nutzungsgebiet, das die Menschen über Jahrhunderte geprägt haben.
Dank dem Strassentunnel ist das Binntal ganzjährig erreichbar. Übersichtsplan von 1962.
Dank dem Strassentunnel ist das Binntal ganzjährig erreichbar. Übersichtsplan von 1962. Staatsarchiv Wallis / Dienststelle für Mobilität

Darf die Kultur aus der Landschaft verschwinden?

Über Jahrhunderte veränderte sich die Art der Landnutzung im Binntal kaum. Das Leben fand vor allem lokal statt. Die Bevölkerung wohnte und arbeitete im Tal und versorgte sich selbst aus der Kulturlandschaft. 1964 veränderte sich das Leben im Binntal mit der neuen Strasse jedoch fundamental. Lange Zeit bestand zwischen Ernen im Goms und Schmidigehischere im Binntal nur ein stark exponierter Saumweg. Erst 1938 führte die erste Strasse durch die Twingischlucht ins Binntal. Diese war aber wie der Saumweg den unterschiedlichen Naturgefahren ausgesetzt. Lawinen, Erdrutsche, Steinschläge und Felsstürze sorgten dafür, dass die Passage gefährlich blieb und das Binntal im Winter mehrere Monate nicht erreichbar war. Das änderte sich erst mit der neuen Strasse von 1964. Im tödlichsten Abschnitt führt die Strasse seitdem durch einen Tunnel. Damit war das Tal erstmals ganzjährig sicher erreichbar. Die Tunneleröffnung veränderte aber auch die Wirtschaftsweise im Tal auf einen Schlag. Weil die Selbstversorgung für die Winterzeit obsolet wurde, ging die Anzahl Landwirtschaftsbetriebe sukzessive zurück. Während es 1955 noch 25 hauptberufliche Betriebe gab, sank diese Zahl nach der Tunneleröffnung bis 1994 auf fünf. Heute gibt es im Tal noch drei Bauernbetriebe.
Reportage aus dem Jahr 1975 über die Gemeinde Binn im Winter, zehn Jahre nach der Eröffnung des Strassentunnels. SRF
Durch diesen Rückgang wandelte sich auch die Kulturlandschaft. Im Binntal fand eine Verbuschung und Verwaldung statt. Auf den ehemaligen Ackerflächen im Talgrund und vor allem auf den Alpweiden verschwanden die offenen Flächen. Die Bewirtschaftung blieb aus, weder Kühe, Geissen noch Sensen verhinderten Busch- und Baumwuchs. Die stark biodiversen Alpweiden wurden kleiner und kleiner. Und mit dem Landschaftswandel ging auch touristisches Kapital verloren. Seit 1964 ist ein grosser Teil des Binntals unter Schutz gestellt. Um nach der Anbindung durch den Autotunnel nicht das gleiche Schicksal wie andere Berggebiete zu erleiden und die «Verstädterung» des Tals zu verhindern, beschloss die Bevölkerung den Verzicht auf Bergbahnen, Ferienhaussiedlungen, Wasserkraftnutzung und weitere Strassen. 2011 entsteht schliesslich der Landschaftspark Binntal als Regionaler Naturpark des Bundes. Mit dem Ziel Natur und Landschaft zu erhalten, soll gleichzeitig die nachhaltige Entwicklung des Tals erreicht werden. Im Fokus steht dabei besonders der Tourismus. Dieser setzt stark auf die traditionelle Kulturlandschaft und dazu gehören auch die offenen Nutzungsflächen. Die Verbuschung soll deshalb so weit wie möglich verhindert werden. Mit Mäharbeiten, der Wiederaufnahme der Beweidung und Freiwilligenarbeit wird versucht, offene Flächen zu bewahren und bereits verbuschte Flächen wieder zu öffnen. Die Menschen gehen ins Feld und roden dieses, heute aber nicht mehr aus landwirtschaftlicher Notwendigkeit wie früher, sondern zur Bewahrung eines bestimmten, als ästhetisch empfundenen, menschgemachten Landschaftsbildes.
Beim Dorf Imfeld kann die grossflächige Verbuschung ehemaliger offener Weidegebiete beobachtet werden.
Beim Dorf Imfeld kann die grossflächige Verbuschung ehemaliger offener Weidegebiete beobachtet werden. Noah Businger
Auch bei der Siedlung Schmidigehischere findet Verwaldung statt. Hier sind ehemals genutzte terrassierte Ackerflächen betroffen.
Auch bei der Siedlung Schmidigehischere findet Verwaldung statt. Hier sind ehemals genutzte terrassierte Ackerflächen betroffen. Noah Businger

Landschaft voller Kultur

Am Beispiel des Binntals zeigt sich, dass die Menschen auch in den scheinbar entlegenen, ruhigen Bergen die Landschaft grundlegend verändert haben. Um zu wohnen und zu arbeiten, um sich zu versorgen, haben sie die lokale Naturlandschaft über Jahrhunderte in eine vielgliedrige, komplexe Kulturlandschaft umgewandelt. Diese Entwicklung gilt für fast alle alpine Berggebiete in der Schweiz. Gleiches trifft auch auf die heutigen Herausforderungen zu. Die Zeit der Selbstversorgung ist vorbei. Wohnen, Arbeiten und sich versorgen ist nicht mehr lokal gebunden. Dazu kommt, dass die alpinen Berggebiete und ihre Kulturlandschaften auch zu Erholungsräumen geworden sind. Tourismus, lokale Wirtschaft, Abwanderungsgefahr und Biodiversitätsschutz stellen unterschiedliche Ansprüche an die Landschaft. Der Mensch wird sie auch in Zukunft umgestalten. Die Frage ist nur wie.

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