Regula Rathgeb war in den 1860er-Jahren die wohl erste Fotografin Zürichs. Illustration von Marco Heer.
Regula Rathgeb war in den 1860er-Jahren die wohl erste Fotografin Zürichs. Illustration von Marco Heer.

Zürichs erste «Photogra­phis­tin»

Die frühe Fotografie gilt oft als Männerdomäne. Doch auch in der Schweiz gab es im 19. Jahrhundert Pionierinnen dieser neuen Kunstform. Eine von ihnen war Regula Rathgeb, die sogar ein eigenes Fotoatelier errichten wollte.

Saro Pepe

Saro Pepe

Saro Pepe ist Archivar und Mitarbeiter des Baugeschichtlichen Archivs Zürich. Für Stattreisen leitet er den Rundgang «Zürich wird fotografiert».

Im Jahr 1860 erschien in Leipzig ein Allgemeines Adress-Handbuch ausübender Photographen von Deutschland, den österreichischen Kaiserstaaten, der Schweiz und den Hauptstädten der angrenzenden Länder. Auf 140 Seiten wurde eine eindrückliche Anzahl Personen aufgelistet, die sich der noch jungen Technik verschrieben hatte. 20 Jahre zuvor hatte mit der Präsentation von Louis Daguerres Erfindung ein regelrechtes Fotofieber die Welt erfasst. Für Grossstädte wie Berlin oder Wien gab es im Handbuch schon damals knapp hundert Einträge. Für die Stadt Zürich wurden elf Namen aufgeführt, nebst zehn Männern auch «Frau Rathgeb». Dank verschiedenen Dokumenten, die im Nachgang zur Ausstellung «Fotoateliers in Zürich» aufgetaucht sind, kann das Leben der wohl ersten professionellen Fotografin der Stadt Zürich in Teilen nachgezeichnet werden.
Auszug aus dem Leipziger Foto-Adressbuch. Das Erscheinungsjahr 1860 ist nicht gesichert, manche Quellen nennen 1863.
Auszug aus dem Leipziger Foto-Adressbuch. Das Erscheinungsjahr 1860 ist nicht gesichert, manche Quellen nennen 1863. Staats- und Universitätsbibliothek Dresden

Eine turbulen­te Ehe

Regula Rathgeb wurde am 20. Juni 1828 im damaligen Bauerndorf Wallisellen geboren. Sie zog 1859 nach Zürich und heiratete den Spengler Georg Eiffert. Die Ehe währte kaum ein Jahr und verlief dramatisch, wie ein Blick in die Scheidungsakten zeigt: «17. Mai 1859 verehelicht; die Ehe ist kinderlos geblieben, nachdem die Klägerin am 11. März 1860 Scheidungsklage eingeleitet hat, wegen erlittener Misshandlung und Ehrenkränkung.» In den Akten im Staatsarchiv steht weiter, dass Eiffert seine Ehefrau «mehrmals zu Boden geworfen, ihr auf den Hals gekniet sei, sie mit einem Schuh geschlagen und sich der gemeinsten Schimpfworte wie Hure, Luder, Kaibenmensch udgl. gegen sie bedient habe». Eiffert bekannte sich schuldig und musste Regula Rathgeb eine Entschädigung von 500 Franken zur «Erleichterung ihres Fortkommens» zahlen. Auch die Prozesskosten von knapp 50 Franken gingen zu seinen Lasten.
Ausschnitt aus dem Hausbogen der Spiegelgasse 16.
Ausschnitt aus dem Hausbogen der Spiegelgasse 16. Stadtarchiv Zürich

Projekt mit Hindernissen

Nach der Scheidung wohnte Regula Rathgeb vom 20. März 1862 bis zum 16. April 1869 im Haus zum Schäfli an der Steingasse (heutige Adresse: Spiegelgasse 16). Schon bei ihrem Einzug war sie im Hausbogen als «Photographistin» eingetragen. Wie lange sie diesen Beruf ausübte und wo sie ihn erlernt hatte, ist nicht bekannt. Dass die Fotografin in ihrem Metier Erfolg suchte, zeigt ein interessanter Fund in den Akten der Baupolizei: Rathgeb plante im Herbst 1864 den Neubau eines Fotoateliers aus Glas. Solche Fotoateliers kamen ab Mitte der 1850er-Jahre auf, da sich die Berufsleute vermehrt in den Städten niederliessen. Nur mit viel natürlichem Licht konnten gute Ergebnisse erzielt werden, da künstliches Licht noch nicht vorhanden war. Die gewächshausartigen, vollends aus Fensterglas bestehenden Kleinbauten wurden direkt am Boden oder auf Dachzinnen von mehrstöckigen Häusern errichtet.
Fotoatelier an der Kasernenstrasse, Foto um 1895.
Fotoatelier an der Schifflände, 1895.
In der Stadt Zürich sind für die Zeit von 1855 bis 1915 mehr als 100 Standorte von Fotoateliers bekannt. Sie wurden hauptsächlich für Personen- und Portraitaufnahmen genutzt. e-pics
Rathgeb beabsichtigte den Bau ihres Fotoateliers auf dem Dach des Hauses an der Brunngasse 8. Bei dieser Liegenschaft handelt es sich um eines der bekanntesten Häuser der Umgebung, das heute wegen seiner reichhaltigen Malereien und der wichtigen Rolle in der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Zürich Beachtung findet.
Baueingabeplan, 1864
Baueingabeplan, 1864. Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich
Jakob Linsi hatte die Liegenschaft an der Brunngasse 8 nur wenige Jahre zuvor erworben und massiv umgebaut. Gemäss den Akten der Brandschutzversicherung verdoppelte sich der Wert der Liegenschaft von 35'000 auf 70'000 Franken. Der Baueingabeplan für das Rathgeb'sche Fotoatelier datiert vom 8.November 1864. Einige Anwohnerinnen und Anwohnern erhoben Einsprache und blockierten das Vorhaben:

Wie Ihnen bekannt, hat der Eigent­hü­mer Herr Linsi sein Haus No. 341, während die Bauord­nung in Kraft getreten, und entgegen den gemachten Einspra­chen, das Maximum der Hohe der Baute seines Hauses bedeutend überschrit­ten. Was für Rücksich­ten hier obwalte­ten, wissen wir nicht; nun kommt eine uns unbekann­te Frau Rathgeb und stellt ein Gespann auf der Plattform des genannten Hauses auf, gegen welcher wir glauben mit vollem Recht Einspra­che erheben zu dürfen […]

Brief von J. Widmer an den Stadtrat, 4. November 1864.
Die Einsprachen richteten sich somit weniger gegen Rathgebs Atelier selbst, sondern gegen den Hauseigentümer Jakob Linsi. Am 30. Juni 1863 trat die kantonale Bauordnung für die Städte Zürich und Winterthur in Kraft. Möglicherweise hatte Linsi 1863 das Haus noch verändert, um der neuen Bauordnung zuvorzukommen. Der Nachbarschaft war die Aufstockung offensichtlich ein Dorn im Auge. Schliesslich war es Regula Rathgeb, die mit ihrer Baueingabe das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Blick auf die Dachterrasse der Brunngasse 8 (links), 1988.
Blick auf die Dachterrasse der Brunngasse 8 (links), 1988. Baugeschichtliches Archiv Stadt Zürich
Ein grosses Pech für sie, aber ein Glück für die Nachwelt, weil dadurch – wie bei ihrer Scheidung – eine Menge Akten produziert wurden. So ist ein Briefwechsel aus dem Oktober 1864 erhalten, in dem Rathgeb erklärt, weshalb dem Gesuch stattgegeben werden sollte. In einem Brief an den Stadtrat schilderte Rathgeb eindringlich ihre Notlage. Ihre «fernere Existenz» hänge davon ab, den Platz nutzen zu dürfen, da sie bisher keinen anderen geeigneten Ort gefunden habe. Sie habe das Glashaus bereits gekauft und wüsste nun gar nicht, was sie damit anfangen soll. «Hochverehrteste Herren! Ich darf mich auf glaubwürdige Zeugen berufen, dass ich mich durch schwere und traurige Verhältnisse, mit grossen Entbehrungen und rastloser Anstrengung, hindurchzuarbeiten stets beflissen war, um nicht Andern zur Last fallen zu müssen […] ich bitte Sie, stossen Sie mich nicht zurück.» Letztendlich wurde das Baugesuch abgelehnt, weil das Haus bereits zu hoch war. Dabei hatte Rathgeb überaus Pech, weil das Gutachten der Baupolizei die Pläne zur Ausführung freigab, die übergeordnete Baukommission aber die Empfehlung an den Stadtrat gab, die Zustimmung zu verweigern. Verzweifelte Versuche, das Vorhaben durch Verkleinerung oder Beschränkung auf zwei Jahre zu retten, scheiterten im Rekursverfahren. Ob Regula Rathgeb zu einem späteren Zeitpunkt auf einem anderen Haus ein Atelier errichten konnte oder wie lange sie noch als Fotografin arbeitete, ist ebenso wenig wie ihre Fotos überliefert. Dass sie 1867 nicht bei den «Photographen» im Zürcher Adressbuch gelistet ist, lässt darauf schliessen, dass sie bei einem anderen Atelier angestellt war und nicht selbständig eines führte. In den Akten der Niedergelassenen von 1868 war sie jedoch als «Photographistin» verzeichnet. Ab 1879 war sie im Adressbuch durchgehend mit der Berufsbezeichnung «Weissnäherin» eingetragen. Regula Rathgeb verstarb am 26. März 1899 in Zürich im Alter von 71 Jahren.

Frauen in der frühen Fotografie

Die Geschichte von Regula Rathgeb ist kein Einzelfall. Es gibt viele Belege von Frauen, die nach einer Scheidung oder dem Tod des Ehemanns weiterhin im Fotogewerbe tätig waren und Ateliers übernahmen. Allerdings ist die Rolle der Frauen in der frühen Schweizer Geschichte der Fotografie erst lückenhaft erforscht und nur einzelne Biografien sind genauer bekannt, zum Beispiel jene von Alwina Gossauer, die ab 1864 in Zürich und Rapperswil tätig war. Für Zürich fehlen detaillierte Recherchen zu Marguerite Schneider (geboren 1828), Maria Stelzer-Weilenmann (1848-1944) und Maria Zipfel (geboren 1859), die alle nach Regula Rathgeb im Fotogewerbe tätig waren.

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