Das Landesmuseum Zürich, hier auf einer Postkarte, wurde in den USA als Modell für gute Museumsarbeit gehandelt.
Das Landesmuseum Zürich, hier auf einer Postkarte, wurde in den USA als Modell für gute Museumsarbeit gehandelt. Schweizerisches Nationalmuseum

Schweizer Prunkräu­me für Amerika 

Nach seiner Eröffnung 1898 diente das Schweizerische Landesmuseum in Zürich mit seinen historischen Räumen als wichtiges Vorbild für Museen in den USA.

Barbara Basting

Barbara Basting

Barbara Basting war als Kulturredaktorin tätig und leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

Wer heute durch die schier unendlichen Galerien und Säle des Museum of Fine Arts (MFA) in Boston schlendert, ist überwältigt von der Fülle der Kunst und des exquisiten Kunsthandwerks von der Antike bis zur Gegenwart. Dabei erinnert der hohe Anteil europäischer Kunst an die Pionierrolle, welche die Neuenglandstaaten bei der Inbesitznahme des nordeuropäischen Kontinents durch europäische Siedler gespielt haben. Sie importierten neben der Kunst aus ihrer einstigen Heimat auch europäische Museumskonzepte und passten sie an ihre Bedürfnisse an. Beim Rundgang im Bostoner Museum käme man jedoch kaum auf die Idee, dass für diese Institution unter anderem das Schweizerische Landesmuseum ein wichtiges Vorbild war. Den aktuell unterscheiden sich die beiden Häuser deutlich voneinander. Das Landesmuseum hat das Gründungskonzept eines historischen Museums mit nationalem Fokus weiterentwickelt. Das MFA ist ein internationales Kunst- und Designmuseum geworden.
Sieht aus wie im Landesmuseum Zürich, ist aber ein Bild des Bremgarten Room im MFA in Boston. Die Fotografie wurde circa um 1910 aufgenommen.
Sieht aus wie im Landesmuseum Zürich, ist aber ein Bild des Bremgarten Room im MFA in Boston. Die Fotografie wurde um 1910 aufgenommen. Museum of Fine Arts, Boston
Was die beiden Häuser in Boston und in Zürich miteinander verbindet, sind die historischen Zimmer, die so genannten Period Rooms. Während sie im MFA in Boston inzwischen eine eher untergeordnete Rolle einnehmen, gehören sie in Zürich weiterhin zum musealen Kernbestand und sind eine der Attraktionen des Hauses. Solche Period Rooms fanden im Lauf des 20. Jahrhunderts in den Museen der USA grossen Anklang. Beim Import des Modells spielten das Museum in Boston und bald darauf das Metropolitan Museum in New York, beides Neugründungen von 1870, eine Vorreiterrolle, wie die Kunsthistorikerin Kathleen Curran gezeigt hat. Die Verantwortlichen in Boston planten um 1900 wegen der stetig wachsenden Sammlungen einen Neubau ihres 1870 gegründeten Museums. Sie schickten eine Kommission nach Europa, um geeignete Vorbilder für die Architektur und die künftige Präsentation der Bestände zu erkunden. Die Kommissionsreise führte zu einem umfassenden Bericht. Er ist eine Momentaufnahme der im Umbruch befindlichen europäischen Museumslandschaft um 1900. Im Fokus hatten die Museumsleute aus dem immer noch vergleichsweise jungen Land vor allem die im 19. Jahrhundert in Europa in Mode gekommenen Nationalmuseen. Das 1898 gegründete Landesmuseum in Zürich galt dabei als besonders gelungenes Beispiel.
Blick in den Hof des Landesmuseums Zürich, um 1898.
Blick in den Hof des Landesmuseums Zürich, um 1898. Schweizerisches Nationalmuseum
Der Trend zum Nationalmuseum ging nach den napoleonischen Kriegen auf der Grundlage des Gedankenguts der Spätromantik von Deutschland aus. Er begleitete in der Folge den Aufstieg der Nationalstaaten. Das Nationalmuseum brach mit einem zuvor überwiegenden Museumstypus, den häufig aus fürstlichen Sammlungen und Kunstkammern hervorgegangenen Kunstmuseen. Es diente der Präsentation und Konservierung des nationalen kulturellen Erbes. Folglich trug man Objekte zusammen, die eine Definition der Nation als kulturell homogenem Raum stützten. Indirekt wurde damit immer auch bestimmt, wer und was zu dieser Nation gehörte oder nicht. Ein erstes Modell war dabei zunächst das 1832 von einem Privatmann gegründete, bald darauf vom französischen Staat übernommene Pariser Musée de Cluny mit seinem Schwerpunkt auf französischen Kunst- und Kulturdenkmälern aus dem Mittelalter und der Renaissance. Das hatte eine Aufwertung von Architektur und Kunsthandwerk zur Folge. Tatsächlich handelte es sich um eine Inszenierung aus zusammengewürfeltem Mobiliar und Objekten aus dem 16. Jahrhundert. Eine beim Publikum enorm erfolgreiche, aber aus historischer Sicht eher fragwürdige Konstruktion.
Das Musée de Cluny, fotografiert um 1890.
Das Musée de Cluny, fotografiert um 1890. Wikimedia
Dieser Museumstypus hatte die angelsächsisch geprägten Bostoner bei der Gründung ihres Museums 1870 allerdings, auch mangels entsprechender Bestände, zunächst gar nicht angesprochen. Sie hatten sich an einem völlig anders gearteten Museumstypus orientiert: dem damals ebenfalls viel beachteten South Kensington Museum in London (heute Victoria & Albert-Museum). Es steht für den in der Folge viel kopierten Typus des an eine Ausbildungsinstitution angebundenen Kunstgewerbemuseums mit pädagogisch-didaktischem Hintergrund. In der Aufschwungsphase der industriellen Revolution wollte man damit geschmackliche Orientierung und gestalterische Impulse bieten. Entsprechend wurden herausragende Objekte aller Art zusammengetragen. Zu diesem Zweck wurden ganze Säle mit Vitrinen gefüllt, in denen etwa Vasen oder Gläser miteinander verglichen werden konnten. Herkunft und zeitlicher Entstehungskontext der Objekte traten in den Hintergrund. Zunächst fand das nüchterne Modell der didaktischen Schausammlung viel Anklang. Doch die Besucherzahlen gingen bald zurück. Dem Publikum wurde hier einfach keine interessante Geschichte erzählt.

Neues Geschichts­bild für mehr Besuchende

Kein Wunder, setzte sich in Europa Ende des 19. Jahrhunderts die aus dem publikumsfreundlicheren Modell des Musée de Cluny abgeleiteten Period Rooms durch, das nun auch die Bostoner interessierte. Das neue Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, aber auch diverse anderen Museen in Deutschland – etwa das Hessische Landesmuseum in Darmstadt oder das Bayerische Nationalmuseum in München – und das Landesmuseum in Zürich verfolgten diese Linie. Man berief sich dabei auf das wissenschaftliche Konzept der «Kulturgeschichte». Es entstand ebenfalls vor allem im deutschen Sprachraum. Geschichte wurde nicht mehr nur als Abfolge von Dynastien und Kriegen erzählt. Stattdessen rückten sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte von der Religion über die Wissenschaft und die Künste bis zur Rechtsgeschichte in den Blick. So sollte ein umfassendes, authentischeres Geschichtsbild entstehen. Der neue historiografische Zugriff wurde populär durch Bücher wie die 1860 publizierte Cultur der Renaissance in Italien des Schweizer Historikers Jacob Burckhardt.
Porträt von Historiker und Buchautor Jacob Burckhardt, um 1840.
Porträt von Historiker und Buchautor Jacob Burckhardt, um 1840. Wikimedia
Zur Entwicklung der Museen trug bei, dass auch die damals als wissenschaftliche Disziplin entstehende Kunstgeschichte diesem kulturgeschichtlichen Ansatz folgte. Ihre Exponenten, wie Heinrich Wölfflin oder Johan Huizinga, betrachteten die Kunstwerke nicht mehr isoliert, sondern bezogen die kulturellen Kontexte ihrer Entstehung mit ein. Innovative Museumsleute präsentierten entsprechend Kunstwerke im zeitlich passenden Ambiente aus Architektur, Textilien, Möbeln, Haushaltsgerät. Die dafür im Landesmuseum entwickelte Formel überzeugte die Bostoner Museumsverantwortlichen und in ihrem Gefolge auch manche ihrer Kollegen. Sie beruhte auf dem spannungsvollen Nebeneinander verschiedener Präsentationsformen, namentlich von Objektvitrinen und historischen Zimmern. Die Zürcher Museumskommission, welcher der spätere Gründungsdirektor Heinrich Angst, der Kunsthistoriker Johann Rudolf Rahn und der Zürcher Stadtpräsident Heinrich Pestalozzi angehörten, hatte zusammen mit den Konservatoren und Baumeister Gustav Gull das Haus aufgrund der existierenden Bestände gleichsam von innen nach aussen entwickelt. So erklärt sich das Konglomerat unterschiedlicher Gebäudeteile mit dem Herzstück eines «Waffensaals».
Skizze des Landesmuseums von Gustav Gull. In der Mitte ist der Waffensaal, die heutige Ruhmeshalle, gut erkennbar. Die Ansicht stammt von 1892.
Skizze des Landesmuseums von Gustav Gull. In der Mitte ist der Waffensaal, die heutige Ruhmeshalle, gut erkennbar. Die Ansicht stammt von 1892. Schweizerisches Nationalmuseum
Besonders angetan waren die Bostoner von den architektonisch eingebetteten historischen Räumen, wie der Prunkstube aus dem Zürcher Seidenhof. Sie ermöglichtem dem Publikum eine attraktive Zeitreise in chronologischer Folge. Hervorgehoben wurde auch, dass die Zürcher ihre Historischen Zimmer nicht theatralisch aufgemotzt oder willkürlich zusammengemixt hatten, sondern sie trotz der Anpassungen für den musealen Kontext so ursprünglich und authentisch wie möglich zeigten. In der Folge legten die Bostoner in ihrem neuen Haus ebenfalls einen Flügel mit Period Rooms nach Zürcher Vorbild an. Unter ihnen war sogar ein Beispiel aus der Schweiz: der Bremgarten Room aus dem 16. Jahrhundert. Dieser wurde allerdings 1930 wieder veräussert. Das Metropolitan Museum in New York erwarb 1906 den Flims Room, auch Swiss Room genannt, der dort bis heute zu bewundern ist. Die verschlungene Geschichte dieses Swiss Room, wie sie Paul Fravi 1982 rekonstruiert hat, zeigt exemplarisch, wie zeitabhängig die Bewertung künstlerischer wie kunstgewerblicher Produktionen ist. Die getäferte Prunkstube mit ihrem prächtigen Kachelofen entstand um 1684 für das sogenannte «Schlösschen» der Familie Capol in Flims. Heute gilt sie als hervorragendes Beispiel ihrer Art. Doch ausgerechnet der für die Gründung des Landesmuseums so wichtige Kunsthistoriker Rudolf Rahn hatte die Ausstattung des Schlösschens noch 1873 als zwar «reizvoll», aber nicht künstlerisch hervorragend bewertet.
Der Swiss Room im Metropolitan Museum in New York.
Der Swiss Room im Metropolitan Museum in New York. Metropolitan Museum, New York
Jedenfalls wurden das Flimser Täfer und mehrere Kachelöfen 1883, also noch lange vor der Gründung des Landesmuseums, nach Deutschland verkauft. Schon 1884 gelangten sie ins Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin, den Vorgänger des späteren Bode-Museums. Vermutlich wegen mangelnder Passung zur Sammlung wurde es 1906 nach New York verkauft. Als die Gemeinde Flims sich einmal beim Metropolitan Museum wegen eines möglichen Rückkaufs erkundigte, wurde diese Anfrage abschlägig beantwortet. Man veräussere keine Museumsbestände. Doch könne man allenfalls eine Kopie anfertigen lassen. Unnötig zu sagen, dass der Preis für die Kopie den Erlös aus dem Verkauf 1883 um ein Vielfaches überstiegen hätte. Die Begeisterung für solche historischen Räume aus Europa in einem Land, das seinen Ort in der Geschichte noch suchte, trieb vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz eigene Blüten: So wurden reihenweise Kreuzgänge aus Europa erworben (The Cloisters, Metropolitan Museum, New York), und die reiche Bostoner Erbin Isabelle Stewart Gardner eröffnete 1903 in ihrer Heimatstadt einen nachgebauten venezianischen Palazzo, der  mit Mobiliar, Kunst und Skulpturen unterschiedlichster Herkunft gefüllt war. Selbst das vollends ins Fantastische verrückte Hearst Castle (ab 1920) in Kalifornien wurzelt in dieser Tradition.
Die verrückte Entstehungsgeschichte von Hearst Castle. YouTube
Aber bald setzten zahlreiche amerikanische Museumsleute, so auch die Bostoner, zunehmend auf historische Räume aus Amerika mit seiner noch jungen Geschichte. Mit ihrer Hilfe und später mit American Wings, Museumsflügeln, in denen die Präsentation von amerikanischer Kunst und Design im Zentrum stand, passte man die aus Europa importierte Idee des Nationalmuseums an die eigenen Bedürfnisse an. Spätestens ab den 1970er-Jahren wurden viele der aus Europa importierten Period Rooms revidiert, eingemottet oder weiterverkauft. Ausgelöst wurde der Prozess vom gesellschaftlichen Wandel und einem veränderten Geschichtsverständnis. Kritisch wurde gefragt, für welche Art von Gesellschaft die meist herrschaftlichen Period Rooms standen. Künstler wie Ed Kienholz haben sie entsprechend ätzend kommentiert. Für seine Raum-Installation Roxy’s von 1960/61 hat Kienholz ein Bordellzimmer aus den 1940ern in Las Vegas inszeniert. Ironischerweise hat es seine vorläufig letzte Station nicht in einer amerikanischen, sondern in einer europäischen Sammlung gefunden, jener der Fondation Pinault in Venedig.
Edward Kienholz’ Roxy’s ist die Inszenierung eines Bordells aus dem Las Vegas der 1940er-Jahre.
Edward Kienholz’ Roxy’s ist die Inszenierung eines Bordells aus dem Las Vegas der 1940er-Jahre. Pinault Collection

Die Sammlung

Die Ausstellung zeigt über 7000 Exponate aus der eigenen Sammlung und beleuchtet das handwerkliche und kunsthandwerkliche Schaffen der Schweiz über einen Zeitraum von rund 1000 Jahren. Die Ausstellungsräume sind ebenfalls wichtige Zeitzeugen und verbinden sich mit den Objekten zu einer historisch dichten Atmosphäre, die ein tiefes Eintauchen in die Vergangenheit erlaubt.

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