Der Nationalratssaal: mit dem Wandbild von Charles Giron und links mit der Skulptur von Antonio Chiattone.
Der Nationalratssaal: mit dem Wandbild von Charles Giron und links mit der Skulptur von Antonio Chiattone. parlament.ch

Geadelt von der Kaiserin

Kaiserin Elisabeth von Österreich, besser bekannt als Sisi, war neun Mal in der Schweiz und fand Gefallen an Schweizer Kunst, die sie erwarb – mit unerwarteten Folgen bis ins Bundeshaus in Bern.

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw ist promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller. Er veröffentlicht regelmässig historische Bücher.

Kennen Sie den Nationalratssaal im Bundeshaus? Vom Fernsehen oder von Besuchen? In diesem Olymp der schweizerischen Demokratie fällt das grosse Wandbild auf. Hinter dem Sitz des Nationalpräsidiums prangt es auf einer Fläche von 11,5 mal 5 Metern: Es heisst Die Wiege der Eidgenossenschaft und zeigt den Urnersee, das Rütli, den Schwyzer Talboden sowie die Mythen. Gemalt hat es der Westschweizer Künstler Charles Giron im Jahre 1902. Gleich links des monumentalen Wandbilds ist im Nationalratssaal Wilhelm Tell als Skulptur zu sehen. In einer Wandnische sitzt er auf einem Felsen, sein Blick geht in die Weite, die Armbrust hat er locker übers Knie gelegt und ist nicht aufgespannt. Diese Figur hat der Tessiner Bildhauer Antonio Chiattone ebenfalls 1902 geschaffen, bevor das Bundeshaus eröffnet wurde.
Charles Giron aus Genf: Gemalt von seinem Künstlerkollegen John Singer Sargent.
Charles Giron aus Genf: Gemalt von seinem Künstlerkollegen John Singer Sargent. Wikimedia
Antonio Chiattone aus Lugano: Dank der Fürsprache der Kaiserin gelang ihm ein Karrieresprung.
Antonio Chiattone aus Lugano: Dank der Fürsprache der Kaiserin gelang ihm ein Karrieresprung. Wikimedia
Girod und Chiattone hätten diese Aufträge im Bundeshaus niemals bekommen, wenn sie nicht Kaiserin Elisabeth von Österreich gekannt hätten. Denn ihre Majestät, bekannt als Sisi, bereiste zwischen 1867 und 1898 neun Mal in die Schweiz – und traf dabei auch die zwei erwähnten Künstler aus der Romandie und dem Tessin. Charles Giron (1850–1914) führte damals ein Kunstmalatelier in Territet (VD). Im März 1898 kam Sisi zu ihm und kaufte ihm das Ölbild La nourrice ab. Es zeigt eine italienische Amme beim Säugen eines Babys. Giron bildete hier einen besonders intimen Moment ab, der sonst eher selten dargestellt wird. Das könnte Sisi interessiert haben, auch wenn sie selbst ihre Kinder nie gestillt hat und mit Kleinkindern überhaupt ihre liebe Mühe hatte.
«La nourrice» von Giron: Die Kaiserin kaufte dieses Bild in Montreux-Territet, in der Nähe ihres Hotels.
La nourrice von Giron: Die Kaiserin kaufte dieses Bild in Montreux-Territet, in der Nähe ihres Hotels. Vintage MagArchive

Statue, Schemen und Schlafzimmer

Zuvor hatte Sisi bereits beim Tessiner Bildhauer Antonio Chiattone (1856–1904) ein Werk gekauft. An einer Ausstellung in Lugano gefiel ihr im April 1894 seine Statue Il dolore, es handelte sich um eine trauernde Frauengestalt in Lebensgrösse. Die Bronzefigur Chiattones, die es Sisi angetan hatte, zeigt schemenhaft eine Frau, verhüllt von einem sackartigen Kleid und einer Kapuze. Den Kopf hält sie geneigt, die Augen sind geschlossen. In den zarten Händen hält sie einen Olivenzweig, der oben geknickt ist.
«Il dolore» von Chiattone: Sisi liess das Monument in ihr Schlafzimmer in Wien stellen.
Il dolore von Chiattone: Sisi liess das Monument in ihr Schlafzimmer in Wien stellen. Luc-Henri Roger
Sisi liess das erworbene Werk nach dem Ankauf nach Wien transportieren. Es kam nicht in einen kaiserlichen Park oder verschwand im Keller der kaiserlichen Kunstsammlung. Die Statue gefiel der Kaiserin so sehr, dass sie diese in Wien direkt in ihr Schlafzimmer in der kaiserlichen Hermesvilla stellen liess, wo sie noch heute zu sehen ist. Um das Werk noch effektvoller erscheinen zu lassen, ordnete sie eine grünliche Beleuchtung von unten an. Chiattone, zuvor nur ein regional bekannter Künstler, wurde durch den kaiserlichen Ankauf zu einer Nummer im internationalen Kunstbusiness, die plötzlich auch in Mailand oder Paris ausstellen konnte. Der Kaiserin blieb der Tessiner künstlerisch verbunden. Denn sie erteilte ihm einen gewichtigen Auftrag. Er sollte für ihre kaiserliche Villa Achilleion in Korfu ein Denkmal gestalten, gewidmet ihrem Sohn Rudolf, dem 1889 durch Suizid verstorbenen Kronprinzen und Thronfolger. Das war eine grosse Ehre, ein solch persönliches Monument für die Kaiserin entwerfen zu dürfen. Ihre Majestät zog den Tessiner Chiattone vielen bekannten österreichischen Künstlern vor. Die Neue Zürcher Zeitung lobte nur schon die Bestellung als einen «Erfolg für das schweizerische Kunstwesen im allgemeinen und tessinisches Künstlertum im speziellen». In der Folge arbeitete Antonio Chiattone drei Entwürfe aus und legte Sisi ausgefeilte Skizzen vor. Sie zeigte sich begeistert davon. Nach mehreren Monaten war das Monument im Luganeser Bildhaueratelier erstellt, Chiattone zerlegte es und reiste damit nach Korfu, um das Denkmal passend aufzustellen und bei der Einweihung anwesend zu sein. Das Werk des Tessiners war gleichermassen wuchtig und gross: Es mass in der Höhe sechs Meter und in der Breite drei Meter.
Sechs Meter hohes Monument des Schweizer Künstlers Antonio Chiattone: in Lugano angefertigt für die Korfu-Villa der Kaiserin.
Sechs Meter hohes Monument des Schweizer Künstlers Antonio Chiattone: in Lugano angefertigt für die Korfu-Villa der Kaiserin. Wienbibliothek im Rathaus
Vom breiten Sockel der Statue strebte eine abgebrochene Säule als Sinnbild des unvollendeten Lebens Rudolfs in die Höhe, auf dem Piedestal prangte ein Medaillon mit dem lebensgrossen Bild des so früh verstorbenen Kronprinzen und Thronfolgers. Eine weibliche, engelhafte Figur mit weitausschwingenden Flügeln lehnte an der Säule, hielt ihre Arme schützend über Rudolf und komplettierte das Ensemble.

Helfer, Hände und Hofstaat

Bei der offiziellen Einweihungsfeier am 22. April 1895 traf der Tessiner Bildhauer auf die Kaiserin. Helfer enthüllten das Denkmal. Darauf blieb die kaiserliche Hoheit etwa zehn Minuten, unbeweglich wie die Statue, im Anschauen versunken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nach einer kurzen Pause fing sich Sisi, nahm wieder eine majestätische Haltung an und wusch die Tränen weg. Gemessenen Schrittes ging sie auf Chiattone zu und sagte mit bebender Stimme: «Chiattone, mir ist ein grosses Glück zuteil geworden – einen Künstler gefunden zu haben, der es verstand, dieses Werk auszuführen, wie ich es mir wünschte.» Darauf hielt Elisabeth von Österreich dem Tessiner Bildhauer ihre Hand hin, damit er diese küssen könne, wie es sich gehörte. Chiattone wusste jedoch nicht, wie er standesgemäss mit der hingestreckten Hand umgehen sollte. Stattdessen packte er die kaiserliche Hand unzimperlich in seine ziemlich grossen, kräftigen Bildhauerhände und drückte sie mit einem überströmenden Glücksgefühl fest, was den zusehenden Hofstaat peinlich berührt haben dürfte. Die Kaiserin liess sich trotz des Fehltritts des Tessiners nichts anmerken. Später, als nach ihrem gewaltsamen Tod 1898 am Genfersee ein Erinnerungsdenkmal erstellt werden sollte, bekam Chiattone den Auftrag für das Sisi-Monument im Rosenpark in Montreux-Territet. Es zeigt die Kaiserin in Überlebensgrösse auf einer Bank sitzend, sie stützt das Kinn auf dem linken Arm ab und blickt etwas wehmütig auf den Genfersee.
Chiattones Sisi-Denkmal von 1902: Es steht noch heute im Rosenpark von Montreux-Territet.
Chiattones Sisi-Denkmal von 1902: Es steht noch heute im Rosenpark von Montreux-Territet. Wikimedia
Der andere Schweizer Künstler, mit dem Sisi persönlichen Kontakt hatte, war wie erwähnt der Romand Charles Giron. Auch diesen machte der Ankauf der Kaiserin bekannt. Er wurde in der Folge in die renommierte Eidgenössische Kunstkommission berufen. Als diese die Aufgabe übernahm, für die künstlerische Ausstattung des neuen Bundeshauses zu sorgen, schanzte sich Giron den prestigeträchtigsten Auftrag gleich selber zu: Er gestaltete das riesige Wandbild im Nationalratssaal – sein Kollege Antonio Chiattone bekam den Nischenplatz gleich daneben. Die These sei erlaubt: Hätte die Kaiserin nicht Girons und Chiattones Kunst gekauft, wären deren Karrieren nicht so steil nach oben verlaufen und sie hätten nicht den Nationalratssaal schmücken können. Das ist quasi eine Ironie der Geschichte: Erst die kaiserliche Adelung führte zu den Ausstattungsaufträgen im Nationalratssaal, der symbolischen Walhalla der schweizerischen Demokratie.

Royals zu Besuch – von Sisi bis Queen Elizabeth

13.06.2025 09.11.2025 / Landesmuseum Zürich
Obwohl die Schweiz keine royale Tradition hat, faszinieren die Geschichten der Königshäuser auch hierzulande. Ob Kaiserin, Königin oder Prinzessin: Eines hatten die königlichen Besuche gemeinsam, egal ob sie aus politischen, wirtschaftlichen oder privaten Gründen erfolgten. Sie lösten – damals wie heute – eine immense Begeisterung und Faszination in der Schweizer Bevölkerung aus. Dies zeigt die Ausstellung anhand von zahlreichen Bildern und exklusiven Objekten der Blaublütigen.

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