Guillaume Ritters Wasserkraftwerk der 1860er-Jahren brachte Dynamik in die Region Freiburg. Animation von Klaas Kaat. Bundesamt für Energie

Die kühnen Pläne des jungen Herrn Ritter

Ende der 1860er-Jahre setzt der Landwirtschaftskanton Freiburg voll auf die Industrialisierung. Da kommt der junge Neuenburger Ingenieur mit seinen tollkühnen Plänen gerade recht. Vorhang auf für Guillaume Ritter und seine revolutionäre «teledynamische Übertragung».

Thomas Weibel

Thomas Weibel

Thomas Weibel ist Journalist und Professor für Media Engineering an der Fachhochschule Graubünden und der Hochschule der Künste Bern.

Sein Ruf eilt ihm voraus. Der gebürtige Neuenburger Bauingenieur Guillaume Ritter hat ein Diplom der École centrale des arts et manufactures in Paris in der Tasche, er ist jung, und er hat ein erstaunliches Projektportfolio vorzuweisen: Mit 30 hat er 1865 die neue Wasserversorgung von Neuenburg gebaut, vier Jahre später jene von Avignon. Für die Stadt Freiburg hat er noch ehrgeizigere Pläne. Das Freiburg der 1860er-Jahre ist keine wohlhabende Stadt. Gehandelt wird mit Vieh, mit Käse und mit Holz. Die Landwirtschaft dominiert, daneben gibt es Strohflechtereien, Gerbereien, Müllereien. Ein Grossteil der Bevölkerung ist bitterarm, die Zahl der auf Fürsorgegelder angewiesenen Haushalte steigt und steigt. Es drohe der Ausbruch von Tumulten, schreibt der Oberamtmann des Sensebezirks 1864 in einem Bericht; «es besteht grosse Gefahr, wenn angesichts der fortschreitenden Verarmung der Arbeiterklasse noch länger zugewartet wird», warnt ein Leserbriefschreiber in der Zeitung Le Confédéré vom 9. Oktober 1867. Der Kanton hofft auf moderne Industriebetriebe, und als Motor der Industrialisierung gilt die Bahn. Seit 1856 baut der Kanton daher an einer ersten Eisenbahnstrecke, und 1862 wird die über Freiburg führende Linie Bern–Lausanne eingeweiht.
Die Stadt Freiburg in den 1870er-Jahren, aufgenommen von Adolphe Braun.
Die Stadt Freiburg in den 1870er-Jahren, aufgenommen von Adolphe Braun. Schweizerisches Nationalmuseum
Mit seinen visionären Plänen – andere halten sie für geradezu grössenwahnsinnig – will der junge Guillaume Ritter Freiburg zu einem florierenden Zentrum machen. Als erstes schlägt er vor, oberhalb des Klosters Maigrauge eine Staumauer zu bauen und die Saane zu einem See aufzustauen. Von Turbinen angetriebene Pumpen sollen gefiltertes Wasser in ein Reservoir im 150 Meter höher gelegenen Guintzet-Quartier pressen. Das soll Freiburg zu einer Trinkwasserversorgung verhelfen, wie sie zu dieser Zeit erst wenige Mittellandstädte besitzen. Damit nicht genug: Die Kraft der im neuen Pérolles-See gestauten Saane soll nicht nur Pumpen, sondern eine ganze Industriezone mit Energie versorgen. Der zentrale Standort der Zähringerstadt erscheint Ritter für seine hochfliegenden Pläne ideal: Hier sollen riesige Getreidelager und damit ein wichtiger Umschlagplatz für den europäischen Mehlhandel entstehen. Er träumt vom Bau einer Feriensiedlung am Ufer des neuen Stausees, von einem Restaurant, einem Musikpavillon, einem Casino für jährlich 50’000 Touristen und einer Bahn, die auf den 13 Kilometer entfernten, 1719 Meter hohen Gipfel der Berra führt.
Der Pérolles-See, im Hintergrund das Sägewerk der Société générale des Eaux et Forêts, zwischen 1885 und 1900.
Der Pérolles-See, im Hintergrund das Sägewerk der Société générale des Eaux et Forêts, zwischen 1885 und 1900. Bibliothèque cantonale et universitaire de Fribourg
Unter der Energie, mit der die Maschinen der neu anzusiedelnden Fabriken angetrieben werden sollen, versteht Ritter mechanische Kraft; die erste elektrische Anlage der Schweiz, zwecks Beleuchtung des Hotels Engadiner Kulm in St. Moritz, wird erst 1879 gebaut werden. Ritter schlägt also ein wagemutiges System vor, das er «teledynamische Übertragung» nennt. Das Kraftwerk bei der Staumauer soll die Wasserkraft mit einem System von Turbinen, Getrieben und Stahlkabeln auf das 80 Meter höher gelegene Pérolles-Plateau übertragen, ähnlich wie ein Skilift, aber im noch grösseren Massstab.
So stellte sich Guillaume Ritter die «teledynamische Kraftübertragung» vom Stausee auf das Pérolles-Plateau vor. Sentiers de l'eau
Nach seinem Umzug nach Freiburg 1869 gründet Ritter die Allgemeine Wasser- und Forstgesellschaft (Société générale des Eaux et Forêts) und kauft den zwischen Pérolles und dem Stausee liegenden Wald auf. Auf dem Pérolles-Plateau plant Ritter zusätzlich den Bau eines grossen Sägewerks. Das Werk soll Anschauungsobjekt für die neue Industriezone sein – und vor allem das Mammutprojekt finanzieren helfen.
Die mit den Kabeln gewonnene Kraft wird auf dem Pérolles-Plateau von verschiedenen Industriebetrieben genutzt.
Die mit den Kabeln gewonnene Kraft wird auf dem Pérolles-Plateau von verschiedenen Industriebetrieben genutzt. Groupe E
Bescheidenheit ist Ritters Sache nicht. Während der Projektvorstellung im Grossen Rat von Freiburg ruft ihm ein Politiker zu: «Mais vous ne connaissez pas la Sarine, la Sarine est un torrent!» («Sie kennen die Saane nicht, die Saane ist ein wilder Fluss!»). Der junge Ritter entgegnet: «Peut-être, mais la Sarine non plus ne me connaît pas!» («Mag sein, aber die Saane kennt mich genauso wenig!»). Das Projekt wird genehmigt, und 1870 beginnt der Bau der zehn Meter hohen Saane-Staumauer. Tatsächlich bleiben die Schwierigkeiten nicht aus: Allein im ersten Jahr kommt es zu 15 Sturzfluten, die den Bau verzögern. Zur selben Zeit müssen die mächtigen Pfeiler gebaut werden, über deren Rollen Ritters Stahlkabel laufen sollen; an einer Stelle muss sogar ein Stollen durch den Sandsteinfelsen gehauen werden. Im Februar 1873 kann die Saane endlich aufgestaut werden, der neue Pérolles-See beginnt sich zu füllen.
Guillaume Ritter dachte gross, plante gross und erreichte damit Einiges. Foto des jungen Neuenburger Ingenieurs.
Guillaume Ritter dachte gross, plante gross und erreichte damit Grosses. Foto des jungen Neuenburger Ingenieurs. Wikimini Stock
Allen Widrigkeiten zum Trotz hat Guillaume Ritter das kühne Vorhaben in die Tat umgesetzt. Im März 1874 überträgt die imposante Anlage erstmals ihre Leistung von 1000 PS hoch aufs Pérolles-Plateau. Tatsächlich siedeln sich rasch neue Unternehmen an, und in kurzer Zeit entstehen 800 neue Industriearbeitsplätze. Wirtschaftlich allerdings läuft es nicht nach Plan. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, Weltwirtschaftskrisen und die Bauverzögerungen bringen Ritters Allgemeine Wasser- und Forstgesellschaft in Schieflage. Im Juli 1875 meldet die Gesellschaft Konkurs an, Ritter ist da vom Verwaltungsrat bereits entlassen. Eine Liquidationskommission führt letzte Arbeiten zu Ende, die Kraftübertragung per Kabel wird beibehalten. Nach zwölf weiteren Kilometern Rohrleitungen ist 1878 auch das Wasserversorgungsnetz endlich fertiggestellt. Im Zug der Liquidation von Ritters Gesellschaft geraten sich Stadt und Kanton Freiburg in die Haare. Der Kanton will verhindern, dass die neuen Industrieanlagen im Pérolles-Quartier an die Stadt gehen. Er verhandelt im Geheimen und kauft die Allgemeine Wasser- und Forstgesellschaft schliesslich auf. Als neuer Besitzer beschliesst der Freiburger Staatsrat, Stahlkabel und Pfeiler abzubauen und mit dem Pérolles-Kraftwerk stattdessen Strom zu produzieren. Ritters einstige Gesellschaft wird zu den «Freiburgischen Elektrizitätswerken»; aus diesen entsteht 2006 schliesslich die heutige «Groupe E».
Blick auf das Wehr beim Wasserkraftwerk Freiburg-Maigrauge, 1921.
Blick auf das Wehr beim Wasserkraftwerk Freiburg-Maigrauge, 1921. e-pics
Von Guillaume Ritters revolutionärer Anlage ist heute nur noch wenig zu sehen. Fundamente der einstigen Pfeiler ragen empor, durch den Kabelstollen zwischen Stausee und Pérolles-Quartier führt ein Spazierweg. Schautafeln erinnern an den waghalsigen Konstrukteur, dessen Unternehmertum weit hinter seiner Ingenieurskunst zurückblieb. Sein wohl tollkühnster Plan, die Versorgung der Stadt Paris mit Trinkwasser aus dem Neuenburgersee, durch einen 37-Kilometer-Tunnel unter dem Jura und eine 470-Kilometer-Pipeline hindurch, bleibt ein Luftschloss. Ritter stirbt 1912 in seinem Geburtsort Neuenburg.
Fundament eines der Pfeiler der einstigen Anlage.
Kabelstollen zwischen Pérolles-Plateau und dem Stausee.
Zeugen der Vergangenheit: Fundament und Kabelstollen der einstigen Anlage von Guillaume Ritter. Fotos: Thomas Weibel

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