Sabina Spielrein (erste Reihe, zweite von links) verbringt ab 1921 in Genf am Institut J.J. Rousseau – eine wissenschaftlich produktive Zeit, sie hält Vorlesungen und Vorträge, publiziert und macht mit ihren Kollegen eine Reihe von Lehranalysen.
Sabina Spielrein (erste Reihe, zweite von links) verbringt ab 1921 in Genf am Institut J.J. Rousseau – eine wissenschaftlich produktive Zeit: Sie hält Vorlesungen und Vorträge, publiziert und macht mit ihren Kollegen eine Reihe von Lehranalysen. Archives Institut Jean-Jacques Rousseau, Université de Genève

Sabina Spielrein – eine wieder­ent­deck­te Stimme der Psychoanalyse

Von Sabina Spielrein (1885-1942) weiss man meist, dass sie als sehr junge Frau die Patientin und Freundin von C.G. Jung war und später selber Psychoanalytikerin wurde. Doch sie arbeitete nicht nur praktisch-therapeutisch, sondern wirkte engagiert mit an der theoretischen und organisatorischen Entwicklung der Psychoanalyse.

Sabine Richebächer

Sabine Richebächer

Dr. phil. Sabine Richebächer ist Psychoanalytikerin in Zürich. Sie hat viele Jahre über Sabina Spielrein geforscht und eine Biographie über diese publiziert.

«Die Familie Spielrein ist eine jener russisch-jüdischen Familien, deren eine Hälfte vom Roten Terror und deren andere vom braunen Terror ermordet wurde.» Dieser Satz, geäussert von der Autorin während eines Vortrages an der Moskauer Universität im Jahr 2009, bewirkte Aufspringen und wutentbrannten Protest seitens eines Zuhörers. Eine Teilnehmerin stand auf, sprach länger und bedacht auf Russisch, während andere den bedrohlich aufgebrachten Mann beruhigten. Danach gingen Vortrag und Diskussion wie normal weiter. Diese Episode verweist auf die Besonderheiten einer Erforschung der Geschichte, vor allem der Geschichte der Opfer des Stalinismus, sowie des Holocaust in der heutigen Russischen Föderation; einer Forschung, welche aktuell gänzlich zum Erliegen gekommen ist. Was 2009 die Reaktion eines Einzelnen war, ist heute trotz aller Aufklärung die beherrschende Putinsche Geschichtsmythologie vom guten Väterchen Stalin.
Sabina Spielrein, eine Pionierin von Psycho- und Kinderanalyse, war während vieler Jahrzehnte vergessen, ihre über 30 Publikationen dämmerten in alten Ausgaben der psychoanalytischen Zeitschriften vor sich hin. Das änderte sich schlagartig, als Ende der 1970er-Jahre bei Renovierungsarbeiten am Palais Wilson, dem ehemaligen Psychologischen Institut in Genf, ein Koffer entdeckt wurde – voll mit persönlichen Schriften. Darunter befand sich Spielreins umfangreiche Korrespondenz mit C. G. Jung und Sigmund Freud. Die Entdeckung, dass Jung mit seiner zeitweiligen Patientin eine Liebesbeziehung gehabt hatte, sorgte damals weit über die Fachkreise hinaus für Aufregung. Die Dreiecksgeschichte Spielrein-Jung-Freud ist als chronique scandaleuse in die Literatur eingegangen, Filme wurden darüber gedreht, Theaterstücke geschrieben.
Sabina Spielrein, 1921 (Ausschnitt).
Sabina Spielrein, 1921 (Ausschnitt). Archives Institut Jean-Jacques Rousseau, Université de Genève
Um Sabina Spielreins Leben und ihre Leistung zu verstehen, ist ein Stück Hintergrundinformation wichtig. Sabina Spielrein wird am 25. Oktober 1885 in der südrussischen Stadt Rostow am Don geboren. Sie ist das erste Kind des vermögenden jüdischen Kaufmanns Nikolai Spielrein und seiner Frau Eva Lublinskaja, einer Zahnärztin und Pionierin des Frauenstudiums. Sabina hat drei Brüder, Jascha, Isaak und Emil, ausserdem eine kleine Schwester, Milotschka, die mit 6 Jahren an Typhus stirbt. Von 1896 bis 1904 besucht sie das Katharinen-Gymnasium, das sie mit der Goldmedaille abschliesst.
Als Frau und Jüdin darf sie im Zarenreich nicht studieren und gerät in eine schwere adoleszente Krise. Wie bei reichen Russen üblich, wird sie von ihrer Familie zur Behandlung in den Westen begleitet, wo sie nach allerhand Umwegen und Enttäuschungen im Zürcher Burghölzli, hospitalisiert wird. Dort wird die junge Russin C. G. Jungs «psychanalytischer [sic!] Schulfall», wie er selber sagt. Der Aufenthalt im Burghölzli wird zum Wendepunkt. Sabina Spielrein studiert Medizin in Zürich und wird eine Pionierin von Psycho- und Kinderanalyse. Andererseits wird der «psychoanalytische Schulfall» kein Meisterwerk, weil Jung und seine Patientin sich ineinander verlieben und die therapeutische Beziehung nie richtig aufgelöst wurde. In München schreibt Sabina Spielrein die Arbeit Die Destruktion als Ursache des Werdens (1912), wo sie die Annahme eines Destruktionstriebes in die Psychoanalyse einführt – damals eine unerhörte Vorstellung. Sie lebt in Wien, Berlin, Lausanne und Genf und als sie 1923 den Westen verlässt, hat sie bereits 25 Beiträge auf Deutsch und auf Französisch in den psychoanalytischen Zeitschriften publiziert.
Undatierte Luftaufnahme des «Burghölzli» in Zürich.
Undatierte Luftaufnahme des «Burghölzli» in Zürich. Psychiatriemuseum Bern
Sabina Spielrein wurde von Sigmund Freud und C. G. Jung und später von jungen, linken Analytikern wie Otto Fenichel sehr geschätzt, weil sie eine kreative Denkerin war, weil sie eine grosse Begabung für das Unbewusste hatte, weil sie das Talent besass, anregende Fragen zu stellen und originelle Forschungsdesigns zu entwerfen. Sie hat weder ein Lehrbuch geschrieben noch ein theoretisches System entwickelt. Sie war aber eine Pionierin, eine Vordenkerin, die auf zahlreichen Gebieten neue Fragen aufwarf, neue Gesichtspunkte zu Sprache brachte, für die es damals keine Vorläufer gab – beispielsweise in der Ich-Psychologie, zur Psychologie der Frau, in den Bereichen Entwicklungspsychologie und Kinderanalyse, in Linguistik und Neuropsychologie. Als eine der Ersten interessierte Spielrein sich für die Sprachentwicklung des Kindes und die Erforschung des Zusammenhanges von Sprechen und Denken beim Kind. Damit hat sie andere Forscher wie Sigmund Freud, C. G. Jung, Melanie Klein, Jean Piaget, Lew S. Wygotzki und Donald W. Winnicott angeregt.
Carl Gustav Jung um 1915.
Carl Gustav Jung um 1915. Ortsmuseum Zollikon
Sigmund Freud um 1921.
Sigmund Freud um 1921. Wikimedia
Als Sabina Spielrein im Herbst 1923 mit ihrer Tochter Renata in die russische Heimat zurückkehrt, geschieht das mit gemischten Gefühlen. Februarrevolution und Oktoberrevolution 1917 haben das repressive Zarenregime hinweggefegt. Im Januar 1918 hat Lenin seine Vision einer zukünftigen Gesellschaftsordnung verkündet, welche «die Erde von jeder Ausbeutung, Gewalt und Knechtschaft befreien» soll. Doch noch ist unklar, wie die Sache ausgehen wird. Ihr Vater Nikolai Spielrein wurde enteignet, hat aber Möglichkeiten gefunden, für die neue, bolschewistische Regierung zu arbeiten und so, wie er hofft, am Aufbau einer neuen, besseren Gesellschaft mitzuarbeiten. Sabinas Brüder Jascha und Isaak sind bereits nach Russland zurückgekehrt und machen in Moskau Karriere. Emil, der jüngste der Geschwister, wird Professor an der Universität Rostow.
Bei der Ankunft von Sabina Spielrein in Moskau befindet sich die Russische Psychoanalytische Vereinigung (RPV) in der Aufbauphase. Auf der Personalliste der Mitarbeiter der Belegschaft am Staatlichen Psychoanalytischen Institut und Kinderheim Laboratorium «Internationale Solidarität» wird sie als «wissenschaftliche Mitarbeiterin» ausgewiesen. Sie gehört dem fünfköpfigen Präsidium an, arbeitet in allen wichtigen Ausschüssen mit und ist mitverantwortlich für das wissenschaftliche Kursprogramm des Instituts. Zusammen mit Iwan Jermakow und Moshe Wulff leitet Sabina Spielrein die psychoanalytische Poliklinik und ein Kinderambulatorium. Im April 1924 nimmt sie ein letztes Mal an einer Sitzung der RPV teil. Bald darauf kehrt sie in ihre Heimatstadt Rostow und zu ihrem Ehemann Pawel Scheftel zurück. Das Paar bekommt eine zweite Tochter, Eva.
Rostow auf einer Fotografie von ca. 1918.
Rostow auf einer Fotografie von ca. 1918. DeGolyer Library, Southern Methodist University / Wikimedia
Rostow liegt etwa 2000 Kilometer von Moskau, vom Zentrum der politischen Machtkämpfe entfernt. Spielreins Tätigkeit bleibt vorerst vielfältig. Sie arbeitet als Pädologin am Rostower prophylaktischen Schulambulatorium. Pädologie, das meint eine praxisbezogene, interdisziplinäre Wissenschaft von der kindlichen Entwicklung. Sie hat die Psychoanalyse abgelöst, die politisch immer mehr unter Druck gerät. Zu Spielreins Aufgaben gehören Reihenuntersuchungen zur Früherkennung von Entwicklungsstörungen bei Kindergartenkindern. In öffentlichen Vorträgen und Publikationen tritt sie weiterhin für die Psychoanalyse ein. Auf einer Konferenz erläutert sie 1929 ihre persönliche Auffassung von sozialer Fehlentwicklung: «Die Lehre Freuds ist weitgreifender als die Lehren all seiner Feinde und Anhänger» – so lautet ihr Fazit – das ist ein riskantes Bekenntnis.
Sabina Spielrein führt in diesem Aufsatz als erste die Vorstellung eines autonomen, destruktiven Triebs in das psychoanalytische Denken ein.
«Die leidenschaftliche Sehnsucht, d.h. die Libido, hat zwei Seiten: sie ist die Kraft, die alles verschönt und unter Umständen alles zerstört.» Sabina Spielrein führt in diesem Aufsatz als erste die Vorstellung eines autonomen, destruktiven Triebs in das psychoanalytische Denken ein. An der oberen Seitenkante ist zu lesen: «Meinem innigst geliebten Lehrer Dr. C. G. Jung gewidmet. S. Spielrein, München 26.VI 1911.» Sabina Spielrein
1930 beginnen die Debatten um die Einführung des Marxismus-Leninismus in den gesamten Wissenschaftsbetrieb. Die Psychoanalyse wird als reaktionäre Theorie denunziert; eine beispiellose Welle repressiver Massnahmen gegen Wissenschafter, Ingenieure und Künstler kommt ins Rollen. Die Russische Psychoanalytische Vereinigung wird aufgelöst; 1933 wird die Psychoanalyse ganz verboten. 1936 verabschiedet die Partei eine Resolution gegen pädologische Verzerrungen im Erziehungswesen, was dazu führt, dass Spielrein ihre Stelle als Pädologin verliert. Ihre drei Brüder Isaak, Jascha und Emil Spielrein werden im Rahmen der stalinistischen Säuberungen in den Jahren 1937/38 verhaftet, erschossen und in Massengräber geworfen.
Im Zweiten Weltkrieg wird Rostow am Don von deutschen Truppen besetzt. In den Tagen vom 11. bis 14. August 1942 werden Sabina Spielrein und ihre beiden Töchter Renata und Eva zusammen mit allen Juden der Stadt – insgesamt 30’000 Menschen – vom SS-Sonderkommando 10a vor die Tore der Stadt getrieben, erschossen oder vergast und in Massengräbern verscharrt.
Sabina Spielreins Geschichte ist heute von erschreckender Aktualität. Mit dem Krieg gegen die Ukraine, der Unterdrückung kritischer Erinnerungskultur und dem Verbot und der Kriminalisierung unabhängiger Archive und NGOs wie Memorial in Russland selber wirkt sie unmittelbar nach. Die Psychoanalyse wird wieder unterdrückt. Rostow am Don, einst Heimat der Spielreins und Ort von Sabina Spielreins Ermordung im August 1942, steht dabei erneut im Zentrum, exemplarisch für eine Spaltung der Gesellschaft und die Verfestigung totalitärer Herrschaftsstrukturen.

Seelenlandschaften. C. G. Jung und die Entdeckung der Psyche in der Schweiz

17.10.2025 15.02.2026 / Landesmuseum Zürich
Die Schweiz war immer schon Heimat von «Seelensuchern» wie Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Nietzsche oder Carl Gustav Jung. Deren Arbeiten prägten die Entwicklung von Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse massgeblich. Zum 150. Geburtstag von C. G. Jung zeigt die Ausstellung die Geschichte und Entdeckung der Psyche in der Schweiz. Höhepunkt ist Jungs «Rotes Buch», ergänzt mit Werken von Johann Heinrich Füssli, Louise Bourgeois, Rudolf Steiner, Meret Oppenheim, Thomas Hirschhorn, Heidi Bucher und vielen weiteren mehr.

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