Lydia Leinbacher und Gustav Gull, fotografiert um 1881.
Lydia Leinbacher und Gustav Gull, fotografiert um 1881. gta Archiv / ETH Zürich, Nachlass Gustav Gull

Skizzen einer Liebe

Gustav Gull schuf sich und seiner Ehefrau Lydia ein Doppelbildnis am Landesmuseum in Zürich. Die Reliefs waren nicht die einzigen architektonischen Liebesbekundungen des Zürcher Stararchitekten an seine Frau.

Cristina Gutbrod

Cristina Gutbrod

Cristina Gutbrod ist freischaffende Architekturhistorikerin und Kulturvermittlerin am Landesmuseum Zürich.

Als das Landesmuseum im Sommer 1898 eröffnet wurde, hatte Gustav Gull einen bedeutenden Meilenstein in seiner Karriere erreicht: Er war nicht nur Architekt des Schweizerischen Landesmuseums, sondern auch Stadtbaumeister Zürichs. Aus der 1885 mit Lydia Anna Leinbacher (1856–1944) geschlossenen Ehe waren fünf Kinder hervorgegangen: Lilly, Karl, Gertrud, Erna und Erhard – die beiden ältesten Kinder wirkten am Festakt zur Eröffnung des Landesmuseums am 25. Juni 1898 mit. Zusammen mit seiner Frau hatte Gull das angestrebte Ideal eines bürgerlichen Familienlebens verwirklicht, in dem sich die Eheleute in einer auf Liebe gründenden Gemeinschaft mit unterschiedlichen Bestimmungen ergänzen und vervollkommnen. Die Rollenzuschreibung für diese Familienkonzeption hatte sich im 19. Jahrhundert verfestigt: Die zugeordneten Eigenschaften der Emotionalität wiesen der Frau das häusliche, diejenigen der Rationalität dem Mann das öffentliche Leben zu.
Die beiden Gullkinder Lilly und Karl waren «Ehrengäste» am Festumzug zur Einweihung des Landesmuseums im Juni 1898.
Die beiden Gullkinder Lilly und Karl waren «Ehrengäste» am Festumzug zur Einweihung des Landesmuseums im Juni 1898. Baugeschichtliches Archiv Zürich
Das ideale Familienleben sah Gustav Gull in der Ehe seiner Eltern Anna und Gottlieb Gull erfüllt. Diese Vorstellung des Glücks vertiefte sich durch den frühen Tod der Mutter in Gulls 17. Lebensjahr noch. Aus dem Zusammenleben seiner Eltern hatte er in der Kindheit ein Ideal für sein ganzes Leben gewonnen, das ihm als Massstab diente. Angelegt hatte er diesen zunächst kurz nach dem Abschluss der Bauschule des Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich: Gull empfand eine schwärmerische Liebe für die drei Jahre jüngere Rosa Stadler, die zweite Tochter seines Lehrers und Mentors Julius Stadler. Seine Gefühle blieben unerwidert, doch fand er wenig später sein Glück in Baden. Dort arbeitete er im Büro des Architekten Robert Moser, dem Vater seines Studienfreundes Karl Moser. Die wenigen Monate des dortigen Praktikums beschrieb Gull im Rückblick als «glückselige Badenerzeit». Anfang 1881 begegnete er im «Hause Moser» Lydia Leinbacher, von der er hingerissen war. Die Zuneigung zwischen dem jungen Architekten und der Goldschmiedetochter vertiefte sich rasch.
Porträtmedaillon von Gustav Gull für das Landesmuseum in Zürich.
Porträtmedaillons von Lydia Gull für das Landesmuseum in Zürich.
Am Westflügel des Landesmuseums in Zürich verewigte Gustav Gull seine Liebe zu Lydia Leinbacher durch zwei Porträtmedaillons. Die Entwürfe für die Fassade des Museums stammen von Joseph Regl.

Liebe als Inspiration

Da Gustav Gull bald darauf ein Praktikum im Architekturbüro von Benjamin Recordon in Lausanne antrat, wurde die Beziehung zu Lydia Leinbacher bereits am Anfang auf die Probe gestellt. Nach seiner Ankunft in der Romandie schrieb Gustav Gull Lydia Leinbacher einen Brief, in dem er ihr seine Liebe offenbarte: «Ja, ich liebe Dich mit der ganzen Kraft meiner Seele.» Sie hegte jedoch Bedenken. Bis sich Gull als Architekt etabliere, habe sie als zwei Jahre ältere Frau das Heiratsalter überschritten. «Ich bin 24, Sie 22, vor Ihnen liegen, wie Sie mir selbst gesagt, noch 4–5 Jahre der Arbeit, bevor Sie daran denken dürfen in die Praxis überzugehen. Bis dann bin ich eine angehende ‹alte Jungfer› und Sie, nun, urtheilen Sie selbst!!» Lydia Leinbacher wollte sich nicht den Illusionen hingeben, welche sich nicht verwirklichen lassen würden. Doch Gustav Gull gab nicht auf. Leidenschaftlich, selbstbewusst und kämpferisch zerstreute er alle Zweifel: «Dein Herz ist gewiss so jung wie meines; was frägt das Glück nach den Jahren. […] Ich will meine ganze Kraft einsetzen um ein Künstler im wahren Sinne des Worts zu werden; […]. Das Ende meiner Laufbahn wird zeigen dass ich das Höchste gewollt, es wird auch zeigen wie stolz ich darauf war Deine Liebe, meine Lydia, zu besitzen!» Schliesslich gab die Angebetete ihrem «Herzenswunsche», den jungen Architekten zu lieben, nach. Sie wolle – so ihre Antwort – täglich beten, dass ihr Gulls Liebe erhalten bleibe und er «das hohe Ziel» seines Strebens erreiche – «des edlen Strebens nach Vollkommenheit!»
Gustav Gull verewigte «seine» Lydia in seinem Skizzenbuch, dass er Anfang der 1880er-Jahre in Baden geführt hatte, als Allegorie.
Gustav Gull verewigte «seine» Lydia in seinem Skizzenbuch, dass er Anfang der 1880er-Jahre in Baden geführt hatte, als Allegorie. gta Archiv / ETH Zürich, Nachlass Gustav Gull
Mit Lydia Leinbacher als Gattin wollte Gustav Gull sein «heiliges Ideal vom Familienleben» verwirklichen, sie wiederum stimmte mit seinen Vorstellungen überein. Seine «Lebenshoffnung» war für den jungen Architekten untrennbar mit dem Gelingen der beruflichen Karriere verbunden. Nicht zuletzt hatte Gottlieb Gull seinem Sohn Gustav die Bedingung auferlegt, seiner künftigen Ehefrau eine sichere Existenz bieten zu können und damit dessen Ehrgeiz und Leistungswillen befeuert. Gull fühlte sich durch Lydias Liebe in seinem «Vorwärtsstreben nach der Selbständigkeit» bestärkt. Er begriff ihre Liebe als «unsterblichen Genius» seines Künstlertums und als Antrieb seiner Karriere.
Die junge Frau ermutigte den Architekten, sein berufliches Ziel zu verfolgen. Gleichzeitig nahm sich Lydia zurück: Sie wolle Gulls Berufsausbildung nicht behindern, sondern warte mit Geduld auf die Hochzeit, schrieb sie in einem Brief. Gustav Gull wiederum bezog Lydia Leinbacher in seine Vision des Architektenlebens mit ein: «Das ist eben auch schon lang einer meiner Lieblingsgedanken, dass Du dann einst bei mir und mit mir auf meinem Atelier sein sollst so viel als möglich, sollst zusehen wie ich schaffe und theilnehmen an meinen Projekten. Da wird mir eben nicht sein, als ob noch jemand anderer neben mir wäre, da bist Du bei mir als die bessere Stimme meiner selbst.»
Lydia und Gustav Gull mit ihren Kindern Gertrud, Erhard, Karl, Erna und Lilly (von links nach rechts). Die Fotografie entstand 1897.
Lydia und Gustav Gull mit ihren Kindern Gertrud, Erhard, Karl, Erna und Lilly (von links nach rechts). Die Fotografie entstand 1897. gta Archiv / ETH Zürich, Nachlass Gustav Gull

Fernbe­zie­hung und hunderte von Briefen

Bis zur Hochzeit lebten die beiden meist getrennt. 1881–1882 arbeitete Leinbacher im Haushalt der Familie von Francis Charles Hingeston-Randolph im englischen Ringmore. Zur Vervollständigung seiner Architektenausbildung bereiste Gull 1883–1884 Italien. Nach und nach legten die Liebenden ihre Verbindung offen: Sie verlobten sich am 27. Juni 1882 in aller Stille in Baden, im Juli stimmte auch Gustav Gulls Vater ihrem Verhältnis zu. Zwischen 1881 und 1885 schrieben sich Gustav Gull und Lydia Leinbacher mehrere hundert oft lange, tagebuchähnliche Briefe, in denen sie ihre Verbundenheit bekräftigten, sich ihre Liebe schworen, Erlebnisse austauschen, von Begegnungen berichteten, ihren gemeinsamen Lebensentwurf entwickelten und in denen Gull als junger Architekt seiner künftigen Frau auch sein Selbstverständnis und seine Architektur- und Kunstauffassung darlegte. Die Dokumente sind im Nachlass des Architekten im gta Archiv der ETH Zürich aufbewahrt.
Brief von Gustav Gull an Lydia Leinbacher, 1881.
Brief von Lydia Leinbacher an Gustav Gull, 1881.
Durch unzählige Briefe beschworen Gustav und Lydia ihre Liebe. gta Archiv / ETH Zürich, Nachlass Gustav Gull
Den Eintritt in die berufliche Selbständigkeit und die damit verbundene Eheschliessung ermöglichte Gustav Gull schliesslich sein Studienfreund Conrad von Muralt, der ihm die Gründung eines gemeinsamen Architekturbüros antrug. Am 12. März 1885 feierten Gustav und Lydia Gull ihre Hochzeit im Hotel de la Balance in Baden. Sie bezogen eine Wohnung im soeben fertiggestellten Wohnhaus an der Mühlebachstrasse 88 in der damaligen Zürcher Vorortsgemeinde Riesbach. Erbaut worden war dieses von Gottlieb Gull, nach Entwürfen seines Sohnes Gustav. Bereits 1886 jedoch wechselte das Paar nach Luzern, wo Gull nach einem Wettbewerbserfolg und der Auflösung des Büros von Muralt & Gull das Eidgenössische Postgebäude ausführen konnte. 1888 kehrte die Familie Gull mit ihren ersten beiden Kindern Lilly und Karl nach Zürich zurück. Ein Jahr später geriet Gustav Gull jedoch mangels Aufträge in eine berufliche Krise. Diese endete erst 1890 mit der Projektierung des Landesmuseums.
Der erste gemeinsame Wohnort von Gustav und Lydia Gull befand sich in Zürich-Riesbach. Gebaut hatte das Haus Gustavs Vater Gottlieb nach den Skizzen seines Sohnes.
Der erste gemeinsame Wohnort von Gustav und Lydia Gull befand sich in Zürich-Riesbach. Gebaut hatte das Haus Gustavs Vater Gottlieb nach den Skizzen seines Sohnes. gta Archiv / ETH Zürich, Nachlass Gustav Gull
1898 konnten Gustav Gull und Lydia Leinbacher den Erfolg ihres gemeinsamen Lebensentwurfs mit der Eröffnung des Schweizerischen Landesmuseums feiern. Als junger Architekt hatte sich Gustav Gull gewünscht, dass sein Liebesglück aus all seinen Werken hervorleuchte. Der Torturm des Landesmuseums gilt denn auch als gebaute Liebeserklärung für Lydia Leinbacher: Während seiner Badener Zeit hatte Gustav Gull 1881 Skizzen des im 15. Jahrhundert erbauten Stadtturms (Bruggerturm) angefertigt. Konkreter wurde Gull mit den beiden Porträtmedaillons von Lydia und ihm am Westflügel des Landesmuseums: Ein zeitgenössisches Paar präsentiert sich in historisch nachempfundener Kleidung des 16. Jahrhunderts, passend zu den sich zwischen Spätgotik und Renaissance bewegenden Architekturformen des Landesmuseums.
Gefängnisturm von Baden, fotografiert um 1890.
Der Stadtturm von Baden, hier auf eine Bild von 1890, hat viele Ähnlichkeiten mit... Wikipedia / Schweizerische Nationalbibliothek
Turm des Landesmuseums in Zürich, fotografiert 1898.
... dem Turm des Landesmuseums in Zürich. Baugeschichtliches Archiv Zürich

Eigenheim der Familie

Als Sinnbild glücklichen Familienlebens galt Gustav Gull stets das gemeinsame «Heim», welches von der Frau bestellt werden und dem Mann als Rückzugsort von der Arbeitswelt dienen sollte: «[Unser dereinstiges Heim]», so schrieb er 1881 an Lydia, «soll eben unsere eigenste, gemeinschaftliche Schöpfung sein! Es kann ja nichts Schöneres geben als so ein trautes Heim wo der Mann bei seiner lieben Gattin am heiligen häuslichen Herd die schönste Erholung findet und neue Kraft für des Tages Mühe und Arbeit.» 1901–1902 konnten sich Gustav und Lydia Gull ihren Traum eines Eigenheims mit dem Bau des Hauses «Rosenegg» an der Moussonstrasse 17 in Zürich-Fluntern erfüllen. Dieses gehört zu einem Doppelhaus, das Gull als unternehmerische Tätigkeit in Zusammenarbeit mit seinem Vater entwarf und ausführte. Es ist die Manifestation eines weiteren beruflichen Aufstiegs: 1900 verliess Gustav Gull das Amt des Stadtbaumeister zugunsten einer Professur am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich. Zugleich konnte er das im Amt begonnene städtische Grossprojekt zur Überbauung des Werdmühle- und Oetenbachareals als freiberuflicher Architekt weiterführen.
Die Architekturformen des Hauses «Rosenegg» nehmen unmittelbar Bezug auf dasjenige Gebäude, mit dem Gull seine Karriere begründet hatte und das als Leitbau für seine Entwürfe im Stadtbaumeisteramt diente: das Schweizerische Landesmuseum. Der bergseitige Hausteil der Familie Gull weist ein zum Strassenbogen orientiertes breites Halbwalmdach auf. Die für den mittelalterlichen Profanbau spezifische Dachform hatte Gustav Gull auch an der Nordwestecke des Landesmuseums verwendet, wo sich parkseitig die Porträtmedaillons von ihm und seiner Frau befinden. Das Esszimmer des Hauses «Rosenegg» verweist mit der Gestaltung der Balken- und Deckenfriese nach spätgotischen Flachschnitzereien und der Ausbildung der Fensternische nach spätgotischen Profanbauten auf die im Landesmuseum eingebauten Stuben aus der Abtei Fraumünster. Die Einrichtung des Zimmers integrierte nicht nur das Gemälde «Alpaufzug» (1881) von Gulls Freund Rudolf Koller, sondern auch das «Arbeitstischchen» von Lydia Gull, welches ihr Ehemann 1901 für sie entworfen hatte. Das Haus «Rosenegg» widerspiegelt Gustav Gulls Architekturverständnis, seine gesellschaftliche Stellung und das mit Lydia Leinbacher gelebte Familienideal. Als Architektenhaus ist das Haus «Rosenegg» nicht nur der Hort des Familienlebens, sondern auch die Visitenkarte des Landesmuseumsarchitekten – im Dachgeschoss befand sich das Atelier von Gustav Gull. Wie in den Porträtmedaillons am Landesmuseum verbinden sich Familien- und Arbeitswelt in der Architektur des Hauses «Rosenegg» zu einer Einheit.
Zwischen 1901 und 1902 baute Gustav Gull für die Familie das Haus «Rosenegg» in Zürich-Fluntern. Für seine Frau Lydia hatte er dafür ein Arbeitstischchen entworfen. Es stand im Esszimmer des Hauses.
Gemeinsam erlebten Gustav und Lydia Gull Hochs und Tiefs, beispielsweise als seine Anerkennung als Architekt im Zuge der Moderne ab den 1910er-Jahren zu schwinden begann. Das Ehepaar war 57 Jahre lang verheiratet und blieb bis zum Schluss zusammen: Er starb 1942, sie 1944. Die glanzvolle Karriere des Zürcher Architekten wäre ohne Lydia Gull nicht möglich gewesen.
Lydia und Gustav Gull blieben 57 Jahre lang verheiratet. Das Bild stammt vermutlich aus dem Jahr 1938.
Lydia und Gustav Gull blieben 57 Jahre lang verheiratet. Das Bild stammt vermutlich aus dem Jahr 1938. gta Archiv / ETH Zürich, Nachlass Gustav Gull

Architekt, Städtebauer, Visionär

Mit der Publikation von Cristina Gutbrod liegt erstmals eine Monografie zu Gustav Gulls Gesamtwerk vor. Seine Bauten und Entwürfe werden auf Zürichs Stadtgeschichte bezogen und in den architekturhistorischen Zusammenhang eingeordnet. Das reich bebilderte Buch enthält Zeichnungen aus dem Nachlass des Architekten, ergänzt durch historische Pläne und Fotografien. Gulls Hauptwerke, seine herausragende Architektenkarriere und seine visionären städtebaulichen Entwürfe für Zürichs grossstädtische Entwicklung werden umfassend dargestellt. Das Buch ist im Schwabe Verlag erschienen.

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