Sempach, Wien/Zürich – So geht Geschichte. Ein Lehrstück
13 waagrecht und auch 86 senkrecht: Held der Schlacht bei Sempach, 7 Buchstaben. Allzu leicht: Winkelried, wer denn sonst? Doch halt, das sind 10 Buchstaben, nicht bloss 7. Dann also der Vorname: Arnold. Das sind allerdings nur 6 Lettern. Herrschaft, was ist hier los?
Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.
Bei Produkten aus der Historischen Fabrik ist stets auf die Herkunftsbezeichnung zu achten. Für das Kreuzworträtsel im Lead lautet die Angabe: Wien, Österreichisches Herrscherhaus, vermutlich Auftragswerk eines unbekannten Chronisten. Ihm genügten 7 Buchstaben, um den Namen des Helden von Sempach zu notieren. Aus seiner Sicht konnte es sich nur um Herzog Leopold handeln, gefallen 1386 in der Schlacht: 7 Buchstaben – passt.
Porträt des Helden von Sempach, Herzog Leopold III. von Österreich (hier irrtümlich als II. bezeichnet). Der Bildkommentar lautet: «Warhaffte unnd wunderwürdige Histori dess namhaften stritt und herrlichsten sigs (...) in wölchem der gedacht herzog persönlich samt sinem adel und grossem volk von gedachten vier Waldstetten vor Sempach erschlagen und ritterlich überwunden worden (…) zusammengezogen und in diss werk verschafft sinen Gnedigen Herren und Oberen der statt Lucern zu eeren und gfallen durch Renwarden Cysaten, stattschryber Anno 1580.» Ein edles Gesicht, helle Haut, hohe Stirn, Nase und Mund profiliert, die blonden Haare schulterlang «alz ain Leu», der Ausdruck aber leicht säuerlich, der Blick etwas melancholisch; der geschlossene schwarze Stehkragen signalisiert Distanz, das blaue Gewand ist reich verziert und mit goldenen Bordüren besetzt, dazu wirkungsvoll drapiert mit dem Habsburger Wappen, das dem Portrait wie ein Stempel aufgesetzt ist: Kann man einen ehemaligen Gegner respektvoller und würdiger darstellen? Bild: Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern (Eigentum: Korporation Luzern), Ms. 124 fol. (sogenanntes Wappenbuch)
Über den Schlachtverlauf am 9. Juli 1386 gibt es in der Chronik der Stadt Zürich (Herkunft: Eidgenossenschaft) genau zwei verlässliche Sätze, zwei. Sie lauten im O-Ton: «Unnd herzcog Lüpold unnd sin herschafft namend den berg des ersten in. Unnd do unser eidgnossen ouch woltend uff den berg, do kamend die herren ab dem berg.» In diesem Kern stimmen der österreichische und der eidgenössische Chronist überein: Am Anfang waren die Österreicher im Vorteil, zuerst oben, «auf dem Berg». Dann muss es eine Wende gegeben haben, denn die Österreicher kamen «ab dem Berg», oben waren am Schluss die Eidgenossen. Nicht gesagt wird in diesen beiden Quellen, weder von Freund noch Feind, warum es zu einer Wende kam, wer sie herbeiführte und auf welche Weise. Kärglicher kann ein Bericht nicht sein.
Mehr vernehmen wir in der österreichischen Quelle über den habsburgischen Heerführer. Der Kampf Herzog Leopolds galt seinem rechtmässigen väterlichen Erbe. Nach anfänglicher Oberhand schwankten die österreichischen Banner, viele Ritter flohen und schrien den anderen zu, sie sollten sich ebenfalls absetzen. Noch hätte man «den edlen Fürsten wol davon bracht mit dem Leben», berichtet der österreichische Chronist. Aber der Herzog beschied seinen Leuten, er wolle lieber mit Ehren sterben als ehrlos leben, stieg vom Pferd und stürzte sich in aussichtsloser Lage kühn «alz ain Leu» gegen die Feinde, den Tod verachtend, die Ehre bewahrend – bis er seine Seele in die Hände des Allmächtigen legen musste.
Historische Fabrik, Standort Habsburg, Schlacht bei Sempach, 9. Juli 1386. Auf der linken Seite, vor dem turmbewehrten Städtchen Sempach, die Eidgenossen, erkennbar an den Feldzeichen Uri, Luzern und Schwyz; rechts die Habsburger mit dem dreigeteilten Banner in den Farben rot-weiss-rot. Im Vordergrund Herzog Leopold, der soeben von einem bärtigen Eidgenossen mit der Hellebarde erschlagen wird. Der Fürst hat seinen Helm im Kampf verloren, so dass jetzt sein edles, friedliches Gesicht zu sehen ist, umwallt vom schulterlangen Haar. Das Erkennungszeichen Leopolds ist der mit Pfauenfedern geschmückte Helm, sichtbar am unteren Bildrand. Achtlos trampeln zwei eidgenössische Krieger auf der fürstlichen Helmzier herum. Deutlicher hätte der Zeichner seine Verachtung für die Eidgenossen und sein Mitgefühl für Leopold kaum manifestieren können. Das Bild stammt aus einer Abschrift der Chronik von Wien, die in Königsfelden bei Brugg, der Grablege der Habsburger, verfasst wurde. Die Textvorlage datiert um 1390, die bildliche Umsetzung erfolgte um 1480. Bild: Österreichische Chronik von den 95 Herrschaften. Burgerbibliothek Bern, Cod. A 45, fol. 114r.
Aus eidgenössischer Sicht wird die Wende ursprünglich so erklärt: «Do halff der allmechtig got unseren getruwen eidgnossen, das sij obgelagend mitt grossem arbeiten und die herren erschlagen wurdend unnd herzog Lupolt von Osterich». In mittelalterlicher Manier wird der Erfolg als Gottesurteil gedeutet. Von Winkelried keine Spur. Auch im ersten Luzerner Bürgerbuch wird 1386 bloss von einem «glorreichen Sieg» berichtet.
Szenenwechsel: Im historischen Scheinwerferlicht stehen nun die wilden 1470er-Jahre. In der sogenannten Ewigen Richtung garantierten sich die eidgenössischen Orte und Habsburg 1474 gegenseitig den Besitzstand an Ländern und Herrschaften. Endlich ein Schlussstrich im ewigen Streit mit dem Erzfeind. Im Innern gärte es aber weiter. Unterwalden verweigerte sich dem Abkommen. Kurz darauf, 1476/77, schufen drei Siege über die stärkste Militärmacht Europas, Burgund, eine neue Situation. Die eidgenössischen Krieger wurden begehrt wie nie. Die Einkünfte aus dem Solddienst schnellten in ungeahnte Höhen. Was zu einer Stabilisierung der Lage hätte führen können, kippte ins Gegenteil. Im sogenannten Saubannerzug liess sich 1477 ein wilder Auszug aus der Zentralschweiz in die Waadt von den Obrigkeiten nur mit grösster Mühe zügeln. Daraufhin schlossen sich die mächtigen Städte Zürich, Bern, Luzern, Freiburg und Solothurn zu einem Bund zusammen. War das eine neue Eidgenossenschaft der Städte? Nachdem schon die Verteilung der Burgunderbeute Streit entfacht hatte, war jetzt der Zapfen endgültig ab. Der sogenannte Burgrechtsstreit (1477–1481) drohte die Eidgenossenschaft in Stadt- und Landorte aufzuspalten. Erst im Stanser Verkommnis konnte die zerfahrene Situation eingerenkt werden, beidseits begleitet von heftigem Knurren.
Mythische Geschichten mussten her, um das Gemeinschaftsbewusstsein zu stärken. Die heroischen Erzählungen sollten die errungenen Erfolge krönen, die Gräben zuschütten. Auftritt Tell und Winkelried, um 1470 der Meisterschütze in der Befreiungssage, kurz danach in der Chronik der Stadt Zürich – nein, noch nicht Winkelried. Aber in der neuen Version setzte der Chronist nun hinzu: «Des half uns ein getrüwer man under den eidgenozen.» Zeitpunkt: 1476, vermutlich nach den Schlachtsiegen bei Grandson und Murten. Noch hatte der «getrüwe man» keinen Namen. Zwei Generationen später war es so weit. 1533 stand in der gedruckten Fassung des Halbsuterlieds: «Ein Winkelried der seit (…) min arme kind und frouwen.» Den Abschluss machte Aegidius Tschudi, der Vater der Schweizer Geschichtsschreibung, um 1550: «Arnolt von Winkelried genannt, ein redlicher ritter».
Nirgends lässt sich auf Quellenbasis auch nur annähernd so schön verfolgen, wie die Historische Fabrik funktioniert: Zuerst entscheidet sich die Schlacht mit Gottes Hilfe. Fast ein Jahrhundert danach erscheint ein getrüwer man, der Jahrzehnte später einen Familiennamen bekommt. Jetzt weiss man auch, was er in der Schlacht sagte. Und schliesslich erhält er einen Vornamen und wird, wie es der Renaissance entspricht, in den Ritterstand erhoben. Je weiter das Ereignis zurückliegt, desto mehr weiss man davon. Fraglos ein historisches Lehrstück der Extraklasse.
«Sempach» bietet nicht nur einen beispielhaften Einblick in die Historische Fabrik, sondern markiert auch den Anfang vom Ende der österreichischen Herrschaft im Gebiet der Eidgenossenschaft. 1386 musste das Haus Habsburg auf weite Teile des Luzernerlandes verzichten. 1415 ging der Aargau verloren, 1460 der Thurgau. Diese Eroberungen wurden als gemeinsam verwaltete Untertanengebiete zu starken Klammern des losen eidgenössischen Verbandes. Sempach war der point of no return.
Winkelried-Denkmal in Stans, eingeweiht am 3. September 1865. In diesem Werk von Ferdinand Schlöth (1818–1891) vereinigen sich Konzeption, Ausführung und Botschaft zu vollendeter Meisterschaft. Das Denkmal verkörpert die Mentalität in der Zeit des Historismus inhaltlich und formal wie kaum ein anderes und ist als nationaler Generationenvertrag des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Der tot am Boden liegende Kämpfer repräsentiert die Vergangenheit, die Vorfahren, die mit ihrem Opfertod das Fundament gelegt haben, Generationen oder gar Jahrhunderte vorher. – Die mittlere Figur verkörpert die Söhne der Vorfahren, die sich hier und jetzt opfern, in der Gegenwart, mit Blick auf die nachfolgenden Generationen. – Der junge Kämpfer, der sich über seine beiden Vorfahren hinwegsetzt, steht für die Zukunft. Das Werk der Väter und Vorväter kommt den Jungen zugute. An ihnen ist es, den Generationenvertrag weiterzuführen. – Geschichte ist keine moralische Lehranstalt. Aber im Umgang mit Geschichte moralische Überlegungen anzustellen, muss nicht zwangsläufig falsch sein.
Im Zusammenhang mit dem Winkelrieddenkmal in Stans ergibt sich ein weiterer Generationenvertrag des 19. Jahrhunderts, künstlerisch. Der Basler Ferdinand Schlöth übernahm, in Stans deutlich zu erkennen, mit seiner subtilen, differenzierten Behandlung der Oberflächen eine charakteristische Arbeitsweise der Thorvaldsen-Schule. Der Däne Berthel Thorvaldsen (1770–1844), der den Entwurf zum Luzerner Löwendenkmal schuf (1821), beeinflusste also das künstlerische Schaffen von Schlöth. Dieser wiederum war der Lehrer des Solothurners Richard Kissling (1848–1919), der 1895 das Telldenkmal in Altdorf schuf und der bekannteste Schüler von Schlöth war. Löwendenkmal in Luzern, Winkelrieddenkmal in Stans, Telldenkmal in Altdorf: drei Monumente, drei Künstler, drei Generationen, drei Epochen. Bild: Ikiwaner / Wikimedia Commons
Konrad Grob (1828–1904), Schlacht bei Sempach, 1878. Dieses Gemälde der mythischen Aufopferung Winkelrieds ist eine Ikone unter den unzähligen Winkelrieddarstellungen. – Der Kampf ist in seiner entscheidenden Phase. Winkelried hat sich in die drohenden Speere gestürzt und erleidet den Opfertod. Sein Körper wirkt kraftvoll, sein Gesichtsausdruck aber bleibt sanft, geradezu heiligmässig. Hier opfert sich ein Held, wie sich einst Christus geopfert hat. Wie bei Wilhelm Tell nimmt die Heldenverehrung religiöse Züge an. Die Tat Winkelrieds sei nur mit dem Erlösungstod Christi vergleichbar, hiess es in zeitgenössischen Berichten. 1886 wurde Sempach zum «Gnadenort» und Ziel einer «nationalen Wallfahrt». 30‘000 Personen aus der ganzen Schweiz unternahmen diese Pilgerreise in Extrazügen.
Der friedlich-erhabene Gesichtsausdruck Winkelrieds wird in seiner Wirkung noch gesteigert durch den Gegensatz zu seinem martialischen Umfeld. Mit entsetzlicher Kraft und Wucht brechen die Eidgenossen ins habsburgische Heer ein. Noch stehen die österreichischen Banner zwar aufrecht. Aber es scheint, als ob sie sich blähten im Sturm, der ihnen entgegentobt. Im nächsten Augenblick werden Streitäxte, Morgensterne, Halbarten niedersausen und Tod und Verderben bringen. Mit der Wetterlage unterstützt der Maler das Geschehen auf dem Schlachtfeld. Vom dominierenden Pilatus am rechten Bildrand ziehen zunehmend düstere Wolken in Richtung des österreichischen Heeres. Bild: Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern
Historische Fabrik
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