Bern, Ratsstube – Geschäft und Geschichte. Der Chronist bezahlt die Zeche
Vergangenheit ist, was war. Geschichte ist, was wir aus der Vergangenheit machen. Kann mit Wahrheit zu tun haben – ein verwirrlicher Begriff. Namen und Daten sind wahr, in der Regel. Alles andere sind Perspektiven, nicht zu verwechseln mit «anything goes». Es gibt bestechende Perspektiven, mitunter bestochene oder diktierte. Letzteres war 1483 der Fall, in Bern. Die Obrigkeit diktierte, liess entfernen, was der Chronist mit eigenen Augen gesehen und dargestellt hatte. Wer die Macht hat. Ein Tatort. «Gang doch e chli der Aare naa, dene schöne, schöne, schöne Urner o Schwizer Fahne naa.»
Der dreifache Sieg über Burgund schlug ein wie ein Meteor, veränderte das Fremd- und Selbstbild der Eidgenossen, dazu ihren Finanzhaushalt. Schon im Jahrzehnt vor den siegreichen Schlachten, 1461–1470, schickten der Papst und Österreich Hilfsgelder nach Luzern, Pensionen, wie man sie später nannte, von ausländischen Mächten entrichtet für das Recht, in der Eidgenossenschaft Söldner anzuwerben. Im Jahrzehnt der Burgunderkriege jedoch, 1471–1480, kamen noch Savoyen und vor allem Frankreich dazu. Das liess die Gesamtsumme explodieren. Vor 1470 machten diese Beträge 6 Prozent der Luzerner Verbrauchsrechnung aus. Nachher waren es unerhörte 41 Prozent, fast sieben Mal mehr. Zur Zeit der Burgunderkriege wurden Silberlinge noch in Geldkisten transportiert, nichts von e-Banking. Auf den Rücken von Saumtieren gelangten 1471–1480 allein nach Luzern insgesamt 58 Kilo Silber. Die Kisten waren mit den Hoheitszeichen der jeweiligen Absender versehen, und die auffälligen Traglasten wurden nicht bei Nacht und Nebel spediert. An jeder Zollstelle, an jeder Schiffsstation, in jeder Ortschaft, in jeder Herberge wurde offenkundig, um was für einen Transport es sich handelte, entlang von Routen, die über den halben Kontinent führten. Von Paris nach Luzern sind es 550 Kilometer, von Rom aus über die Alpen 900 Kilometer.
«Wart dazemal ein samen in Eitgnossen gesäigt, darvon vil unruw erwuchs», berichtet der Chronist Diebold Schilling der Jüngere (1460–1515), und weiter: «Wann da was nieman me des andern fründ anders dann welher aller meist mocht darvon bringen, der was meister.» Galoppierende Geldgier als Gift für die Gesellschaft. Hier die «Kronenfresser» Frankreichs, dort ihre Gegner, Hans was Heiri, dazwischen jene, die für Hans und Heiri ihr Leben aufs Spiel setzten. Der französische Gesandte hatte «geltz genug (…) das jederman im geneigt war ze dienen».
Nach der Schlacht in Nancy am 5. Januar 1477 kehrten Tausende von eidgenössischen Söldnern aus Lothringen heim. Winter, auf den Feldern keine Arbeit, Fastnachtszeit, Unzufriedenheit: eine explosive Konstellation. In der Innerschweiz rotteten sich Urner und Schwyzer Kriegsleute zusammen, die mit der Verteilung der Kriegsbeute von Grandson nicht einverstanden waren. Ihnen schlossen sich Kriegsknechte aus anderen eidgenössischen Orten an. Der wilde Haufen umfasste schliesslich etwa 1700 Mann. Passend zu den Fastnachtsanlässen, an denen sie sich sammelten, nannten sie sich die «Gesellschaft vom torechten Leben». Ihr Banner war allerdings nicht Narretei, sondern Protest. Der populäre Name «Saubannerzug» ist irrig, korrekt der Ausdruck «Kolbenbannerzug». Die Kriegsgesellen führten im Banner einen wilden Eber mit einem Kolben. Dieser keulenartige Schlegel war ein Zeichen für Unzufriedenheit und – entscheidend – ein Symbol für unstaatliche Eigengesetzlichkeit.
Von Zug aus brachen sie Richtung Westschweiz auf, savoyisches Herrschaftsgebiet, verbündet mit Burgund. Von der Stadt Genf sollte der Rest einer Brandschatzsumme eingefordert werden. Im Vorfeld des Burgunderkriegs hatten die Eidgenossen 1475 auf einem Kriegszug in die savoyische Waadt eine horrende Summe von Genf erpresst, wenn die Stadt verschont und von den Eidgenossen nicht angezündet werden sollte. Die Stadtkasse allein reichte nicht, den Schaden abzuwenden. Kirchengelder mussten mit dazu. Dennoch blieb Genf 24‘000 Gulden schuldig. 1477, zwei Jahre später, nach der Schlacht bei Nancy, sollte nun der Rest eingetrieben werden.
Für die Obrigkeiten von Zürich, Bern und Luzern das bare Schreckensszenario: Der ungebärdige Zug war bereits tief in die Westschweiz vorgedrungen, dabei standen die Regierungen der drei Städte mitten in Verhandlungen mit Frankreich und Savoyen um lukrative Soldverträge! Was, wenn die ausländischen Mächte feststellten, dass ihre eidgenössischen Verhandlungspartner ihre Untertanen nicht unter Kontrolle hatten? Gesandtschaften aus Bern und den anderen eidgenössischen Orten, dazu aus Genf, Basel und Strassburg wurden aufgeboten, schliesslich sogar reguläre Truppen ausgeschickt, gemäss einer Berner Aushebungsliste 3‘000 Mann. Dieses Aufgebot hatte neben der Machtdemonstration nach aussen noch eine zweite Funktion, nach innen: Ziel war ein Manifest solidarischer Einheit von Landschaft und städtischer Obrigkeit. Die Berner Aristokratie machte aus der Not eine Tugend, nahm den Kolbenbannerzug zum Anlass, ihre eigenen Untertanen auf ihren Führungsanspruch einzuschwören.
In Payerne konnte der Zug schliesslich gestoppt werden, ein Voraustrupp in Lausanne. Genf blieb verschont, wurde aber durch die Mangel gedreht: 8000 Gulden waren sofort zu entrichten, für den Rest waren acht Geiseln zu stellen, je zwei in Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug. Zudem musste die verschonte Stadt jedem Teilnehmer des Auszugs zwei Gulden als Entschädigung bar in die Hand drücken und den Gesellen vier Fässer Wein spendieren. «Bumperlibum aberdran heiahan!»
Dann kam a) die Stunde des Chronisten. Diebold Schilling der Ältere (1436–1486), der Onkel seines ebenso berühmten Neffen in Luzern, schrieb im Auftrag des Berner Rats in den Jahren 1474–1483 eine dreibändige Chronik. Im dritten Band gab Schilling dem Kolbenbannerzug breiten Raum und hielt fest, wie die wilden Gesellen in Luzern, Burgdorf, Bern und Freiburg einzogen. Vier Mal waren die Fähnlein von Uri und Schwyz in Front, die Feldzeichen regulärer Truppen aus den Waldstätten also. Dahinter erst folgte gemäss Schilling in Bern und Freiburg das Kolbenbanner. Wer militärisch den Ton angab und wer mitlief, war klar, unmissverständlich.
Dann kam b) die Stunde der Berner Obrigkeit. Den Blick auf weitere lukrative Verträge mit dem Ausland gerichtet, wollte sie in der offiziellen Stadtchronik partout nichts davon wissen, dass reguläre Truppen diesen Auszug angeführt hatten. Schillings Darstellungen wurden entfernt. Ein Kollege hatte die Bilder so zu ersetzen, dass der tiefe Stadt-Land-Graben, der durch die Eidgenossenschaft ging, als blosse Aktion wilder Buben «vom torechten Leben» erschien.
Die Zeche bezahlte der Chronist. Immerhin wurde er in den 1990er-Jahren rehabilitiert. In der offiziellen Berner Chronik bleiben jene Fakten zwar für immer auf der Strecke. Aber die Fachgemeinschaft der Historiker arbeitete das Lehrstück spätmittelalterlicher Geschichtspolitik geradezu akribisch auf. Insofern haben die Mächtigen von damals die Rechnung sozusagen ohne den historischen Fachwirt gemacht. Das soll so bleiben. «Gang doch e chli der Aare naa, dene schöne, schöne, schöne Urner o Schwizer Fahne naa.»
Historische Fabrik
In einer losen Serie setzt sich Professor Kurt Messmer in die Historische Fabrik und «schraubt» alte Daten neu zusammen. Seit Jahrzehnten beschäftigt sich der Zentralschweizer mit den Geschichten hinter der Geschichte. Die Resultate seiner «Schichten» in der Fabrik sind spannend, manchmal irritierend und ab und zu revolutionär.
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