Orpheus lockt mit seinem Gesang Tiere an. Ausschnitt aus der Allianzscheibe von Jos und Barbara Murrer-Schön, um 1580. Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Arion und Orpheus in Zürich

Sie waren die berühmtesten Musiker der griechischen Antike: der Lyriker Arion und der mythische Sänger Orpheus. Ihre Kunst soll die Tiere angezogen und den Sturm besänftigt haben. Bei den Zürcher Künstlern der Renaissance und des Barock erfreute sich die Darstellung der Zauberkraft ihrer Musik grosser Beliebtheit.

Felix Graf

Felix Graf

Felix Graf, bis 2017 Kurator am Landesmuseum Zürich, ist freier Publizist.

Ein 1562 mit der Feder gezeichneter Scheibenriss des jungen Zürcher Glasmalers Jost Ammann (1539–1591) zeigt die dramatischste Szene im Leben des Sängers Arion: Auf der Rückfahrt von einer Tournee durch Süditalien nach Griechenland beraubt ihn die Schiffsbesatzung seines vielen Geldes und wirft ihn mitsamt der «Harfe» über Bord. Es sind kräftige Männer, die Hand anlegen. Auch und gerade der Musikstar Arion wirkt eher als Athlet denn als Sänger. Das Gedränge auf dem in der stürmischen See hin- und hergeworfenen Schiff und die hohen Wellen lassen die Situation aussichtslos erscheinen. Aber im Bildvordergrund rechts taucht auch schon der rettende Delfin auf. Angelockt vom Abschiedslied, das Arion in vollem Sängerornat vor dem scheinbar sicheren Tod noch singen durfte. Auch die Matrosen wollten den neusten Hit noch hören. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Periander, der Tyrann von Korinth, liess sie ans Kreuz schlagen, nachdem die Geschichte aufgeflogen war. Die glückliche Wende für Arion, den die antike Überlieferung mit dem Beginn des tragischen Bühnenspiels der Griechen in Verbindung bringt, ist im Bildhintergrund dargestellt: Zwischen dem Schiff und dem Festland reitet der gerettete Sänger auf dem Rücken des Delfins davon. Der Sturm hat sich gelegt.

Arion wird von der Besatzung eines Segelschiffs ins Meer geworfen. Federzeichnung von Jost Ammann, 1562. Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Über dem Hauptbild links ist die Einschiffung Arions in Süditalien dargestellt, oben rechts geht er beim Poseidontempel am Kap Tainaron auf der Peloponnes an Land. Jost Ammann wusste Bescheid: Sein Vater Johann Jakob Ammann (1500–1573) war Lateinprofessor am Carolinum, der damaligen Hohen Schule Zürichs. Die Humanisten der Stadt, auch Huldrych Zwingli, gingen in seinem Haus ein und aus. Kannte der hochtalentierte und gebildete Zeichner Jost Ammann auch bildliche Vorlagen? Zweifellos. Aber den Weg des Motivs nach Zürich kennen wir nicht. Nur mögliche Wegmarken: Andrea Mantegnas zwischen 1465 und 1475 entstandene Fresken im Herzogspalast von Mantua, Albrecht Dürers Pinsel- und Tuschzeichnung von 1514 im sogenannten Ambraser Kunstbuch, die ihrerseits auf eine Darstellung in Hartmann Schedels Weltchronik nach einer Vorlage von Cyriacus von Ancona zurückgeht, und schliesslich – und zeitnah – die Druckermarken des Basler Humanisten und Buchdruckers Johannes Oporinus (1507–1568), der den ersten Koran und den ersten modernen anatomischen Atlas druckte.

Arion und der Delfin im Zürcher Seebecken. Johannes Meyer, 1685. Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Die sorgfältig ausgeführte Federzeichnung von Jost Ammann bildet den ikonografischen Auftakt zu einer ganzen Reihe von Darstellungen von Arion auf dem Delfin im Zürichsee. Am bekanntesten ist das von Johannes Meyer radierte, erste Neujahrsblatt der Gesellschaft ab dem Musiksaal (1685). Arion und der Delfin erscheinen im unteren Seebecken vor dem Panorama der Stadt. Die Zürcher Neujahrsblätter waren ursprünglich Einblattdrucke, welche die Gesellschaften der Stadt jeweils am Bächtelistag, also am 2. Januar, den Kindern der Gesellschafter zur Erbauung und Belehrung überreichten. «Einer Kunst- und Tugend liebenden Jugend in Zürich / ab dem Music-Sal daselbst, am Neuen-Jahrstag des 1685. Jahres verehrt», steht auf dem ersten «Neujahrsstück» der Musikgesellschaft. Mediengeschichtlich betrachtet handelt es sich bei den ab 1645 gedruckten Neujahrsblättern um die ersten periodisch erscheinenden, bebilderten Kinder- und Jugendschriften der Schweiz.

Orpheus und die Tiere, Hans Leu d. J., 1519. Bild: Kunstmuseum Basel

In Zürich nicht minder beliebt war das Motiv des mythischen Sängers Orpheus, der mit seinem Gesang und Saitenspiel nicht nur Tiere, sondern auch Pflanzen und Steine bewegte. Berühmt ist das von Hans Leu d. J. 1519 auf Leinwand gemalte Bild Orpheus und die Tiere, das sich durch detailgetreue Naturbeobachtung und eine zauberhafte, fast schon romantisch anmutende Landschaftsdarstellung auszeichnet. Es gehört zu den schönsten künstlerischen Darstellungen des Themas überhaupt und ist eines der wenigen Bilder des Malers, welche die Reformation überdauert haben.

Orpheus auf der Allianzscheibe von Jos und Barbara Murrer-Schön, um 1580. Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Auch der vielseitige Künstler und Dramatiker Christoph Murer (1558–1614) greift das Thema im Kreissegment einer für seine Eltern Jos Murer und Barbara Schön geschaffenen Allianzscheibe auf. Orpheus war damals das Sinnbild der poetischen Inspiration schlechthin. Der prominente Platz auf der repräsentativen Allianzscheibe unterstreicht seine zentrale Bedeutung für die wichtigste Zürcher Künstlerdynastie ihrer Zeit.

Neujahrsblatt der Gesellschaft ab dem Musiksaal mit Orpheus und den Tieren, Zürich 1698. Die «Neujahrsstücke» bestanden aus einem Kupferstich mit einem belehrenden oder moralischen Text und, im Fall der Gesellschaft ab dem Musiksaal, der Vertonung eines geistlichen Gedichts. Bilder: Schweizerisches Nationalmuseum

Übrigens: Die fünfbändige, in der Offizin Froschauer gedruckte Tierkunde des Zürcher Universalgelehrten und Renaissancegenies Conrad Gessner mit den nach der Natur gezeichneten Tierbildern erschien zeitlich ziemlich genau zwischen dem Gemälde von Hans Leu d. J. und dem Scheibenriss von Jost Ammann sowie der Allianzscheibe von Christoph Murer. Sie gilt als Auftakt der modernen Zoologie. Das ist kein Zufall. Das Tier war in der Forschung und Kunst Zürichs im 16. Jahrhundert ein auffallend wichtiges Thema.

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