Schellen-Ursli in Japan
Das Bild der Schweiz war – besonders in Ostasien – lange geprägt durch Schweizer Kinderbücher. Und auch in den USA oder in England waren Swiss Picture Books als hochwertige Angebote bekannt. Die Geschichte eines Exporterfolges und überraschender Rückkopplungen.
Der «Schellen-Ursli» erscheint im Herbst 1945. Alois Carigiet hat – mit Unterbrechungen – seit Kriegsbeginn an dem Bilderbuch gearbeitet. Ursli ist also ein Kriegskind, aber für das Ausland ist er vor allem ein Bergbub, ein Botschafter einer verschonten Schweiz, und zudem quasi der Bruder von Heidi. Doch damit Schweizer Bilderbücher nach dem Ende des 2. Weltkriegs überhaupt zu Exportartikeln werden können, braucht es mehrere Entwicklungen:
1. Voraussetzung: Etablierte Qualität
Felix Hoffmann mit seinen eindrücklichen Märchenbüchern, Hans Fischer – genannt fis – mit seinen verspielt quirligen Zeichnungen, und Alois Carigiet mit seinen traditionsorientierten Inhalten in moderner Gestaltung haben den guten Ruf der einheimischen Produktion gefestigt. Ihre Neuerscheinungen und diejenigen ihrer Kolleginnen und Kollegen werden auch während des Krieges meist herausragend lithographiert und gut gedruckt.
2. Voraussetzung: Politisch unverdächtig
Das Weitergeben dieser Werke über Generationen, vor allem derjenigen, die vor 1945 erschienen sind, setzt auch eine Kontinuität der Gesellschaft voraus. Schon in der Zwischenkriegszeit etabliert sich der Begriff «Schweizerbuch». Er ist Ausdruck einer Abgrenzung und einer zeittypischen Selbstvergewisserung. Und während deutsche Kinderbücher nach Kriegsende nur bedingt noch Bestand haben können, gelten Schweizer Bücher unverdächtig, gerade auch aus internationaler Sicht – ein Vorteil für Schweizer Verlage. Die Schweizer Kinderliteratur hatte ausserdem, wie die Literatur insgesamt, durch Texte von Exilautoren an Bedeutung gewonnen.
3. Voraussetzung: Die internationale Kinderbuchbrücke
Unmittelbar nach Kriegsende kommt Jella Lepman nach München. Die Witwe eines deutschstämmigen Amerikaners und Redakteurin in Stuttgart in der Zwischenkriegszeit ist Beraterin der US-Armee für Frauen- und Jugendfragen. Ihre autobiographischen Aufzeichnungen nennt sie später «Die Kinderbuchbrücke» (erschienen 1964). Als Programm und Praxis bedeutet dies: Verbreitung von Toleranz und Friedensliebe durch Kinderbücher, Wiederaufbau der Gesellschaft durch Erziehung zur Weltoffenheit. Lepman gibt international gesammelte Gutenachtgeschichten heraus, organisiert Ausstellungen und gründet die Internationale Jugendbibliothek in München. Aus der Konferenz für Völkerverständigung durch Kinderbücher geht das International Board on Books for Young People IBBY hervor. Damit wird der nicht-kommerzielle Austausch etabliert, der aber direkte Auswirkungen für das Verlagswesen hat. Und wieder kann die Schweiz ihre Neutralität ausspielen: Das IBBY wird 1953 in Zürich gegründet, stark engagiert sind u.a. Astrid Lindgren, Lisa Tetzner, Erich Kästner und die ab 1939 in Zürich lebende Gründerin und Verlegerin des Atlantis-Verlages, Bettina Hürlimann-Kiepenheuer.
Seit 1956 vergibt das IBBY alle zwei Jahre den internationalen Hans Christian Andersen Preis, den «Nobelpreis der Kinderliteratur». 1966 wird er erstmals auch für Illustration verliehen, Preisträger ist Alois Carigiet. Bereits 1950 ist «A Bell for Ursli» bei der Oxford University Press erschienen.
Export, Import, Austausch
Schweizer Bilderbücher werden nicht nur ins Ausland lizenziert. Die Lizenznehmer sehen auch die Gestaltungen und machen den Illustratoren eigene Vorschläge.
Als fis anfängt, den «Gestiefelten Kater» zu illustrieren, zeichnet er zwar eines seiner Lieblingstiere, aber nicht zu einem Text der Brüder Grimm. Das Märchen nach Charles Perrault ist wie viele von dessen Texten in den USA besonders populär. Der Vorschlag, das Märchen neu zu bebildern, kommt denn auch von der New Yorker Lektorin Margaret K. McElderry. Der Künstler tut sich grundsätzlich schwer mit «bestellten Büchern», aber die fertige Bildfolge ist ein Höhepunkt seines Werkes. Zum einen inszeniert er die wechselnden Gestalten des Katers und des Zauberers anspielungsreich (nicht überraschend, denn fis liebt Verwandlungen über alles). Und zum andern macht er seine Arbeit am Buch selbst zum Thema, indem er einen Kater zeichnet, der was er angeht mühsam neu erarbeiten muss.
Und als in den 1970er-Jahren der Verlag Fukuinkan in Tokio die Weihnachtsgeschichte nach Lukas 2, Verse 1 - 20 illustriert herausgeben möchte, fragen die Japaner in Aarau an, bei Felix Hoffmann. Seit 1963 verlegen sie seine Bilderbücher aus dem Sauerländer Verlag. Sie möchten diesen zentralen Text der christlichen Kultur von einem Europäer illustriert haben. Hoffmann hat viele Klassiker bebildert, hat Kirchenfenster gemalt und hat eine Bilderbibel für Kinder gezeichnet. So erscheint die Weihnachtsgeschichte mit Farblithographien von Hoffmann 1975 bei Fukuinkan Shoten. Die bis heute lieferbare deutsche Ausgabe im Theologischen Verlag Zürich ist eine Lizenzausgabe aus Japan. Hoffmann sucht keine Anbiederung an Fixvorstellungen vom Kindgemässen, sein Blick auf die ikonische Tradition ist eigenständig und vor allem eindrücklich in der Alltagsnähe.
«Der gestiefelte Kater» erscheint im Herbst 1957 im Verlag Wolfsbergdruck, Zürich. fis stirbt im Frühjahr 1958. Hoffmann erlebt das Erscheinen der «Weihnachtsgeschichte» nicht mehr. Er stirbt wenige Wochen davor. Die Anfrage aus dem Ausland haben beide Meister mit einer letzten Höchstleistung beantwortet.
Bis 1967 – Abschluss als Aufbruch
Auch nach 1967 entstehen in der Schweiz Bilderbücher, die zwei und mehr Generationen begeistern: 1973 veröffentlicht Jörg Müller seine erste Bildermappe, sein Memento zur Veränderung der Landschaft prägt die Umweltdebatte über Jahre. 1992 erscheint von Marcus Pfister «Der Regenbogenfisch» und wird rasch zum internationalen Bestseller, und auch national schaffen Illustrierende weitere Bücher, die grosses Echo erfahren.
Andererseits nimmt ab den 1960er-Jahren der Einfluss international gehandelter Buchlizenzen stark zu. Diese Entwicklung führt 1963 zur Gründung der jährlich stattfindenden Kinderbuchmesse Bologna, die ganz auf den Rechtehandel ausgerichtet ist, und den Wandel ihrerseits beschleunigt. Und in der Schweiz entstehen Verlage, die von eingewanderten Osteuropäern gegründet werden, die Illustrierende aus aller Welt verlegen und die von Anfang mit mehrsprachigen Koproduktionen rechnen: 1961 Nord-Süd Verlag, 1973 Bohem Press Verlag.
Und doch steht Hans Ueli Stegers «Die Reise nach Tripiti» gleich für mehrere Wendepunkte. Der Zeichner ist auch Karikaturist, der politisch kein Blatt vor den Mund nimmt – ein «68er». Sein Buch erscheint im Diogenes Verlag, dessen Bilderbücher damals erst seit wenigen Jahren auffallen. Das gelingt besonders mit Maurice Sendaks «Wo die wilden Kerle wohnen». Der amerikanische Künstler schreibt mit dem Weltklassiker Geschichte – pädagogisch, psychologisch und gestalterisch. Beide Bücher erscheinen 1967 bei Diogenes. Aber aus Schweizer Sicht ist auch die Handlung der Spielzeugreise revolutionär: Der Teddybär Theodor verlässt eine verregnete Schweiz. Er zieht Leidensgefährten sammelnd Richtung Balkan und findet schliesslich sein Glück unter dem strahlendblauen Himmel einer griechischen Insel. Ein Happyend ohne Rückkehr, ein Happyend im Ausland.
Joggeli, Pitschi, Globi … Beliebte Schweizer Bilderbücher
Forum Schweizer Geschichte Schwyz
02.11.2019 – 15.03.2020
Über Generationen begeistern die Figuren aus Schweizer Bilderbüchern unzählige Leserinnen und Leser. Die Familienausstellung im Forum Schweizer Geschichte Schwyz lässt Kinder in die Bilderbuchwelten eintauchen, während Erwachsene ihren einstigen Lieblingen im kulturellen Kontext begegnen.