Ein Leben wie auf Schienen
Ende des 19. Jahrhunderts war die Welt im Eisenbahnfieber. Schweizer Fachwissen war gefragt. Der Luzerner Jakob Müller wanderte in die heutige Türkei aus und wurde dort Chef beim legendären Orient-Express.
Als Jakob Müller die Schule verlässt, boomt der Aufbau der Eisenbahn in der Schweiz. 1875 tritt er bei Alfred Eschers Nordostbahn eine Stationslehre an. Heute würde man sagen: Er nimmt an einem Start-up teil. Denn die Eisenbahn ist so etwas wie das Internet des 19. Jahrhunderts. Sie wälzt die Wirtschaft um, verkürzt die Distanzen, ermöglicht mehr Handel und bringt neue Branchen hervor, etwa die Elektrotechnik.
Seit 1883 verkehrt täglich der legendäre Orient-Express zwischen Paris und Konstantinopel. Die Deutsche Bank, angetrieben von Kaiser Wilhelm II., zieht im Hintergrund die Fäden. Immer dabei ist auch Alfred Eschers andere grosse Gründung, die Schweizerische Kreditanstalt. Zusammen sorgen sie für die internationale Finanzierung der Orientbahn. Und schon ist die Rede von einer Fortsetzung der Eisenbahn durch Anatolien bis Bagdad! Kein Zweifel, diese Branche hat Zukunft!
Als der 1857 geborene Jakob Müller mit der Lehre fertig ist, zieht er mit dem gleichaltrigen Kollegen Edouard Huguenin nach Konstantinopel. Fachleute aus der neutralen Schweiz sind gesucht. Die fremde Welt und die hohen Löhne locken. Müller fängt bei der Orientbahngesellschaft ganz unten an, als Schalterbeamter. Huguenin geht auf die asiatische Seite, zur Anatolischen Eisenbahn. Stufe um Stufe steigen beide bis zur Spitze ihrer Firmen auf. 1903 wird Jakob Müller zum Subdirektor bestellt. Das Jahresgehalt beträgt 32 000 Franken. Steuerfrei. Das ist mehr als zehn Mal so viel wie der Bund zur gleichen Zeit dem Beamten Albert Einstein im eidgenössischen Patentamt bezahlt. Inzwischen hat Müller geheiratet. Gattin Rosy kommt aus der wohlhabenden Seidenhändler-Dynastie Honegger aus dem zürcherischen Rüti. Sie haben vier Kinder. Wenn die Familie in den Ferien in die Schweiz fährt, dann im reservierten Salonwagen des Orient-Express. Müllers Chef ist Ulrich Gross, auch «Türken-Ueli» genannt, aus Zurzach, ein weltgewandter Jurist.
Orient-Express in Schweizer Händen
Anfang des 20. Jahrhunderts brechen schlimme Zeiten an. Das schwache Osmanische Reich wird zum Spielball der Weltmächte. Das osmanische Militär lässt Truppen und Material in die Unruheprovinzen des Balkans transportieren, zahlt aber nicht. Dennoch rentiert die Bahngesellschaft glänzend. Als «zweites Standbein» betreibt sie den Nahverkehr von Konstantinopel und Saloniki. 1912 beginnt der erste Balkankrieg. Gross pflegt die Aussenbeziehungen, Müller das Tagesgeschäft, vor allem die Buchhaltung. Sie wird umso wichtiger, je höher die Kriegsschäden steigen. Manchmal werden Bahnhöfe überfallen, die Bahnbeamten ermordet, die Gebäude angezündet. Am laufenden Band gibt es auch Bombenattentate auf die Bahngeleise. Müller notiert alles und vergisst nichts. Über 300 Rapporte schicken Gross und Müller von 1911 bis 1915 an den Hauptsitz der Bahngesellschaft nach Wien. Mit Müllers Tabellen reist Ulrich Gross im Dezember 1912 an die Friedenskonferenz nach London und fordert erfolgreich Schadenersatz. 1913 tritt Gross von seinem Posten als Generaldirektor der Orientbahn zurück. Für den Verwaltungsrat ist es keine Frage, dass Jakob Müller die Nachfolge übernimmt.
Doch die Ruhe hält nicht lange: 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. Noch 1915 wird Generaldirektor Müller mit Bonuszahlungen belohnt, die nach heutigem Geldwert in die Millionen gehen. Einen Teil dieses Geldes verliert er durch Kriegsanleihen. Im November 1917, drei Tage nach seinem 60. Geburtstag, demissioniert er. Stundenlang versucht der Verwaltungsrat, ihn umzustimmen. Aber Jakob Müller weiss, dass seine Position an Bedeutung verlieren wird. Ausserdem hat er Krebs. Er kauft am Zürichberg eine Villa und zieht sich zurück. So zurückhaltend, wie er gewirkt hat, so leise geht er am 16. Oktober 1922 von der Welt.