1. August-Feier im Fabrikinternat, 1925.
Privatarchiv Bruno Bussmann

Heil dir Helvetia, hast noch der Töchter ja

Lauter Frauen sind es, die hier den Nationalfeiertag neu aufmischen. Vorerst wirken die Bundesgründerinnen und Helvetia zwar unfroh. Bald aber drehen sie auf und werden zum Jungbrunnen der Schweiz.

Kurt Messmer

Kurt Messmer

Kurt Messmer ist Historiker mit Schwerpunkt Geschichte im öffentlichen Raum.

«Mädchenheim» der Textilfabrik Viscose in Emmen LU. Vermutlich kurz nach der Einweihung, 1925. Bereits haben junge ledige Arbeiterinnen den stattlichen Bau bezogen. Wohl deshalb soll der erste Nationalfeiertag zu einem denkwürdigen Akt werden. Die leitenden Ordensschwestern sind sich rasch einig: Am besten schwören die «Fabrik-Mädchen» nochmals den Bund von 1291. Helvetia soll die 22 Kantone unter ihre Fittiche nehmen und den Eid beglaubigen.

Fabrikation von Textilien und Mythen

Nach dem Start 1906 geht die «Viscosi» sofort auf die Überholspur. Der Betrieb beschäftigt zu Beginn 60 Mitarbeitende, 1914 sind es 800, beim Bau des «Mädchenheims» 2400. Was Wunder, dass das Unternehmen «eine beträchtliche Zahl fadengewandter Arbeiterinnen» sucht und «darauf angewiesen ist, auch ausländische Leute anzustellen».

Der Werkstoff für Viscose kommt aus der Natur, Holzzellulose, die zu Kunstseidegarn verarbeitet wird, reissfest. Der Werkstoff für die 1. August-Feier stammt 1925 aus der mythischen Überlieferung, nicht reissfest. Das muss er auch nicht sein. Nach wie vor wird Friedrich Schillers Drama «Wilhelm Tell» von vielen für Geschichte gehalten. Das szenische Projekt im «Mädchenheim» orientiert sich denn inhaltlich auch am «Sänger Tells». Formal ist es entfernt zu vergleichen mit bengalisch beleuchteten Pyramiden von Turnern. Im «Mädchenheim» geht es allerdings nicht um Muskelkraft, sondern um den Kraftakt einer vermeintlichen Staatsgründung.

Markantes Gebäude, halb Schloss, Kloster, Internat, repräsentativ bekrönt von einem Dachtürmchen; sogar eine Schlossallee fehlt nicht: «Mädchenheim» der Société de la Viscose Suisse in Emmen LU, erbaut 1923. Der Speisesaal hat 156 Plätze, in den Schlafräumen sind je 37 junge Frauen untergebracht. Heute, nach mehreren Umbauten, dient das ehemalige Fabrik-Internat als Durchgangszentrum der Caritas für Asylsuchende.
Kurt Messmer

Heil dir, Helvetia, hast noch der Töchter ja – Dieses Bild, aufgenommen wohl am Nationalfeiertag 1925 im «Mädchenheim» der Viscose in Emmen, wurde mit Adresslinien versehen auch als Postkarte gedruckt.
Privatarchiv Bruno Bussmann

Der Saal blitzblank – da soll niemand etwas sagen können; vermutlich der damalige Aufenthaltsraum. Die Vorhänge zu beiden Seiten deuten an, dass hier verschiedene Darbietungen stattfinden, passend dazu die Theaterkulisse, dunkle Waldpartie, einsames Haus. An zwei Schnüren, quer durch den Raum gespannt, lässt sich allerhand befestigen. Die Abdeckung oben an der Diele erscheint in ihrer radikalen Modernität als Gruss von DADA.

Zentrum und Rand

Bitte nachzählen: zweiundzwanzig plus eins. Perfekter kann man den schweizerischen Bundesstaat nicht darstellen: 22 junge Frauen, die je einen Kanton verkörpern, dazu Mutter Helvetia. Die Kantonsvertreterinnen haben je zwei Erkennungszeichen: eine Ehren-Schärpe in den Standesfarben, die von der rechten Schulter zur linken Hüfte führt, dazu ein Kantonswappen, deutlich erkennbar bei der Vertreterin von Neuenburg. Niemand wird der jungen Frau, vielleicht aus der Lombardei, vorwerfen, dass sie das Neuenburger Kantonswappen seitenverkehrt hält. Auch ihre Sitznachbarin, die für die Waadt LIBERTÉ ET PATRIE verkündet, stört sich nicht daran.

Wer dominiert die Szene? Vielleicht Mona Lisa-Helvetia, an der Spitze einer flachen Pyramide. Doch der Mittelpunkt ist sie nicht. Ein Zentrum gibt es nicht. Ein Zentrum ist unschweizerisch. Das Schweizerwappen behauptet sich zwar mit Verve, vorn in der Mitte, hinten mit Helvetias Fahne, und jede Kantonsvertreterin hält ein Schweizerfähnchen – immerhin wird der 1. August gefeiert. Aber auch hier gilt die Kraft der Zahl: die zweiundzwanzig Kantonsvertreterinnen sind es, welche die Schweiz stiften. Das Kollektiv zählt, der Bund, obwohl dieser bis 1798 vor allem überlebte, weil die Bundesglieder in der losen Vereinigung doch etwas mehr Vor- als Nachteile sahen. So wird nachvollziehbar, dass die Schwurszene an den Rand gerät, zur Beilage wird.

«Wir waren mit ihren Leistungen und ihrem Betragen bestens zufrieden.» Arbeitszeugnis der Mona Lisa-Helvetia, eine gebürtige Italienerin aus der Emilia-Romagna. 1934 heiratet sie an ihrem Arbeitsort einen Schweizer.
Privatarchiv Bruno Bussmann

Feiertag – Tristesse à discrétion

Die Kleider einfach, weiss, runder Halsausschnitt, am Saum Bordüren wie bei einer Tunika, genäht wohl in der hauseigenen Nähstube, wo die jungen Frauen unter «mütterlich-strenger» Obhut der Klosterfrauen auch an ihren Aussteuern arbeiten. Der putzige Kopfputz der jungen Frauen, Lampions als Perücken, ist ein weiterer Gruss von DADA – ein geradezu genialer Einfall der Ausstatterin.

Alles ist akribisch und effektvoll vorgekehrt, ausstaffiert, arrangiert – bloss nationale Festfreude will und will nicht aus den Augen der jungen Frauen leuchten. Unfroh, was nur unfroh sein kann. Frei nach Schiller: «Es glänzt der Boden, nicht ihr Blick.» Sind die jungen Frauen letzten Endes zu dieser Inszenierung abkommandiert worden? Haben viele von ihnen, aus der Lombardei oder der Provinz Belluno, zum Rütli-Schwur und zum schweizerischen Föderalismus nicht das erforderliche innige Verhältnis? Und überhaupt: Ist nicht längst Feierabend, Ende eines strengen Arbeitstages in der Fabrik? Jedenfalls hat man hier nicht das ideale Bild vor sich, eher das gerade noch tolerierbare, endlich erreicht nach vielem Zureden und Zurechtweisen.

Die Stützen der Gesellschaft

Was im 19. Jahrhundert darunter zu verstehen war, als das Grossbürgertum an die Stelle der Aristokratie trat, braucht hier nicht beschrieben zu werden. Wer die «Stützen der Gesellschaft» sind, ist auch heute eine Frage der Perspektive. Nachdem die Frauen im «Mädchenheim» in verordneter Würde fast erstarrten, treten sie nun jedenfalls forsch ins pralle Leben. Recht so.

Serment du Grütli actualisé: trois femmes prêtant serment avec une fillette. Rütlischwur. Margot Güttinger, Yverdon. 1991. 34,5 x 21,5 x 32 cm. Gips bemalt.
Schweizerisches Nationalmuseum

Ausgerechnet an der 700 Jahr-Feier bemächtigen sich 1991 drei Frauen des Nationaleigentums der Eidgenossenschaft, der Rütli-Wiese, und erst noch in diesem Aufzug – du meine Güte! Und ein Kind, von dem im Weissen Buch von Sarnen 1470 ja gar nicht die Rede ist, muss um jeden Preis auch noch mit? Wo führt das noch hin? Eine alleinerziehende Mutter als Bundesgründer*in und neue «Stütze der Gesellschaft»? Korrekt. Jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass auf sie das Stelleninserat zutrifft: «Suche fünf Männer oder eine tüchtige Frau».

Eidgenössisches Wunschbild mit Ablaufdatum

Bei den Altvorderen ging es noch um einiges ernster, würdiger, stilvoller zu. So etwa auf dem Gemälde eines anonymen Malers aus dem Jahre 1612. Helvetia trägt eine Krone, aber wiederum zählt nicht die Krone, sondern das Kollektiv ihrer Zierde: in der obersten Reihe die Wappen von sieben der acht alten Orte, aus Platzgründen darunter Glarus sowie die weiteren fünf Orte, zusammen also die dreizehn alten Orte; im Kronreif schliesslich die Wappen der wichtigsten Zugewandten. Neben solcher Pracht verblasst jede Fürstenkrone.

Helvetia und Europa. Zum ersten Mal wird die künftige Landespatronin 1612 personifiziert. Der Maler ist nicht bekannt.
Schweizerisches Nationalmuseum

Man mag finden, Helvetia blicke etwas verdutzt. Doch wer hätte dafür nicht Verständnis, da sie gleich von sechs europäischen Fürsten umringt, mehr als das: umworben wird. An ihren Wappen erkennbar, melden ihre Ambitionen an, von links der Markgraf von Baden-Durlach, der Erzherzog von Österreich und der Herzog von Savoyen, sodann die Könige von Spanien und Frankreich sowie der Doge von Venedig. Helvetia ist «den Königreichern gleich». Als einzige im Licht und von einem dunkel-vornehmen Tonnengewölbe triumphal in Szene gesetzt, wird sie, selbsternannt, «Wunder Schweizerland, werthster Freyheit höchste Zier».

Mutter Helvetia fliegt fürs Vaterland

Als Landespatronin muss frau mit der Zeit gehen. Die Anfänge der Schweizer Militäraviatik sind 1892 noch gemütlich und vor allem geräuschlos. Fesselballons machen keinen Lärm. Man darf mit Fug und Recht annehmen, die Ballon-Pionierkompanie 1, mit einem eigenen Lastwagen ausgerüstet, sei von der Schweizer Bevölkerung wohlgelitten gewesen.

«Fürs Vaterland. Flugtag in Altdorf 1913». Helvetia wirbt für die Schweizer Luftwaffe.
Schweizerisches Nationalmuseum

Aus heutiger Sicht erscheint Altdorf als Durchführungsort für einen nationalen Flugtag eher zweite Wahl. Mit den Flügeln eines riesenhaften Vogels und den Pferdestärken von drei Rossen trotzt man aber den prekären Platzverhältnissen. Die Landespatronin zeigt sich, wie man das von ihr erwartet: unerschrocken. Auf Helm, Sicherheitsfallschirm und dergleichen wird verzichtet. Schwert und Schweizerkreuz auf ihrer Brust sollen’s richten.

Einmal mehr zeigt die Epoche ihren Janus-Kopf. Zum einen geht der Blick zurück in mythische Vergangenheit, angedeutet mit der 1882 geschaffenen Tellskapelle, zum anderen in die Zukunft, im Bewusstsein, dass mit der Luftfahrt eine neue Aera beginnt.

Helvetia auf Reisen

«Eines Tages verlässt Helvetia ein Zweifrankenstück, mischt sich unter das Volk und unternimmt eine längere Reise. Unterwegs kommt sie auch nach Basel. Nach einem anstrengenden Gang durch die Stadt stellt sie Schild, Speer und Koffer ab, legt den Mantel über die Brüstung und ruht sich aus und blickt nachdenklich rheinabwärts.» So kommentiert Bettina Eichin ihr Werk «Helvetia auf Reisen».

Seit 1980 ruht sich die «Helvetia» von Bettina Eichin am Rheinufer in Basel aus, am rechten Brückenkopf der Mittleren Brücke.
Wikimedia

Dass Helvetia sitzt, ist nicht aussergewöhnlich. Das tat sie bereits von 1850 bis 1874, auf der 2-Franken-Münze. Allerdings ist dort nicht restlos zu klären, ob ihre ausgestreckte Rechte den Weg weist oder huldreich Berg und Tal schützt. Seit 1874 steht sie, elegant und locker, den einen Arm auf den Schweizer Schild gestützt, mit dem anderen lässig den Speer haltend. Das tut sie bis zum heutigen Tag.

Die Helvetia am Rheinufer hat diese angestrengt lockere Haltung 1980 abgelegt. Sie mag nicht mehr unnahbare Denkmalfigur sein, die Menschen auf einem Sockel überragen. Heldische Posen sind ermüdend, für Akteure wie für Betrachtende. Helvetia will sich als gewöhnliche Frau zu den gewöhnlichen Menschen setzen und vor allem: nachdenken statt feiern. Die Zeichen von Würde und Rang hat sie beiseitegelegt. Was sie mit dem Siegeskranz in der linken Hand machen soll, weiss sie nicht.

2-Franken-Stück 1850–1874.
Schweizerisches Nationalmuseum

2-Franken-Stück seit 1874.
Schweizerisches Nationalmuseum

Helvetia von Bettina Eichin.
staedte-fotos.de / Markus Wagner

Beim Anblick der nachdenklichen Frau – ohne Attribute – würde niemand an Helvetia denken. Die Beigaben, Schild und Speer, machen aber rasch alles klar, wie bei Heiligen-Statuen. Bleiben der Mantel und vor allem der Koffer. Das zeigt: zurückkehren auf einen Sockel und dort zum Leben auf Distanz gehen, damit ist endgültig Schluss.

O schwöre doch beim Speer, dem wandelbaren

Wenn sich ein Minister in Deutschland bereits 1985 in Turnschuhen vereidigen lassen konnte, warum sollte Helvetia dreissig Jahre später nicht in Turnschuhen im Schweizerischen Nationalmuseum stehen? Ob die junge Frau fromm sei, mag offen bleiben, dass sie frisch-[fromm-]fröhlich-frei ist, scheint gewiss. Doch was ist mit den verschränkten Armen, den übereinander geschlagenen Beinen?

Ob so oder anders, entscheidend ist der Speer. Siegesgöttinnen sowie Ururahninnen von Helvetia zeigen mit der Speerspitze stets nach oben. Das deutet an, was Sache wäre, wenn – in extremis. Da schwingt eine Spur Wehrhaftigkeit, Abwehrhaltung, Drohgebärde mit. Nicht so bei der Limmat-Helvetia. Ihre Speerspitze zeigt nach unten und wird so zur Botschaft an Gegenwart und Zukunft. Aus Wehrhaftigkeit wird Friedfertigkeit, aus Abwehrhaltung Offenheit, aus Drohgebärde Dialogbereitschaft. Kann man den Spiess besser umdrehen?

Seit 2016 wartet Helvetia im Landesmuseum Zürich geduldig auf Besucherinnen und Besucher – wortlos. Sie verlässt sich darauf, dass ihre Gegenüber zu denken beginnen. Auf dem Tablet verweist Helvetia auf ihren Stammbaum. Wandel als einzige Konstante.
Kurt Messmer

PS. Der Rapper Müslüm singt zwar nicht «Heil dir Helvetia, hast noch der Töchter ja», aber sein Rap lässt sich durchaus als Hymne verstehen:

Sei wer du bisch, sei, sei, sei! Bleib wie du bisch! Ai, ai, ai!
Helvetia! I chenne daine Gesetze ja! Ich will se nich verletze ja!
Aber wenn du nich tanzisch, dann tanz ich dich freeeeeeeeeiiiiiiiiiii!!!
Heeeeeelveeeeeeetiiiiiaaaaaaaaaa!

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