Die Schweizer Armee ist nach dem Milizsystem aufgebaut. Fahnenehrung auf dem Berner Bundesplatz, 1945.
Schweizerisches Nationalmuseum

Das Schweizer Milizsystem

Das Milizsystem prägt die Schweiz bis heute massgeblich. Doch was steckt eigentlich hinter dem Begriff Miliz? Und wie hat sich dieses System überhaupt entwickelt?

René Roca

René Roca

René Roca ist promovierter Historiker, Gymnasiallehrer und leitet das Forschungsinstitut direkte Demokratie fidd.ch.

Der Begriff «Miliz» bezeichnet ein im öffentlichen Leben der Schweiz verbreitetes Organisationsprinzip. Jede Bürgerin und jeder Bürger, der sich dazu befähigt sieht, kann neben- oder ehrenamtlich öffentliche Ämter und Aufgaben übernehmen. Die Milizarbeit beinhaltet aber weit mehr als ein Neben- oder Ehrenamt im Sinne der gemeinnützigen Arbeit. Sie weist vielmehr auf eine republikanische Identität hin, die – falls verinnerlicht – eine der wichtigsten Stützen unserer schweizerischen politischen Kultur darstellt. Das Milizprinzip ist in diesem Sinne bis heute nachhaltig in der politischen Kultur der Schweiz verankert und eng mit der direkten Demokratie verknüpft.

Der nur in der Schweiz gebräuchliche Ausdruck «Milizsystem» rührt ursprünglich vom Kriegswesen (lat. militia) her. «Miliz» ist eigentlich die Bezeichnung für Bürgerwehr, beziehungsweise Volksheer, und dies im Gegensatz zum stehenden Heer. Der Begriff wurde im 17. Jahrhundert aus lat. militia «Kriegsdienst; Gesamtheit der Soldaten» entlehnt und war vorerst vor allem im Militärwesen, später auch für den politischen Bereich gebräuchlich.

Historische Wurzeln

Die historischen Ursprünge des Milizprinzips reichen ins alte Griechenland, genauer gesagt, in die attische Demokratie sowie in die frühe römische Republik zurück. Schon damals bezeichnete der Begriff die Ausübung ziviler Ämter. In der antiken Polis berieten und beschlossen die freien und selbständig wehrfähigen Bürger mit Grundbesitz in der Volksversammlung persönlich jede einzelne Angelegenheit. Zudem wurden die politischen Ämter in kurzfristiger Rotation meist per Los bestimmt. Dem lag die Überzeugung zugrunde, dass jeder Bürger zur zeitweiligen Übernahme öffentlicher Funktionen verpflichtet und befähigt sei (was ja auch heute wieder mit der entsprechenden politischen Bildung eine Überlegung wert wäre…).

Nebst antiken Wurzeln sind sicher auch altgermanische Einrichtungen wie das Thing wichtig, die auf altgermanischem Recht fussten (Wer ehrbar ist, ist wehrbar). Ein Erbe dieser Ansätze eines Milizgedankens stellt seit dem Spätmittelalter die vormoderne genossenschaftliche Landsgemeindedemokratie der Eidgenossenschaft dar. Aber auch in den eidgenössischen Städteorten finden sie deutliche Hinweise auf das Milizprinzip.

Nicolo Machiavelli (1469-1527) sah in der alten Eidgenossenschaft die Wiederkunft des römischen Prinzips der Einheit von Bürger und Soldat und hielt in seinem wegweisenden Buch «Il Principe» den Grundsatz fest, dass eine Republik wie die Eidgenossenschaft, sich auf eigene Truppen und nicht auf fremde abstützen müsse. Für die alte Eidgenossenschaft konstatierte er deshalb: «Die Schweizer übertreffen alle andern an Wehrhaftigkeit und Freiheit.»

Die Landsgemeinde ist ein Symbol für das Schweizer Milizsystem. Hier die Landsgemeinde von Glarus, 1941.
Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Milizarmee

Der Grundsatz des Volksheeres im Gegensatz zum stehenden Heer geht in der Schweiz auf die spätmittelalterlichen Aufgebote der einzelnen eidgenössischen Orte zurück. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) hatte das eidgenössische Prinzip der Bürgerarmee vor Augen, als er im Jahre 1772 nach der Rückkehr aus dem Schweizer Exil in seinem Gutachten zur Totalrevision der Verfassung Polens schrieb: «Tout citoyen doit être soldat par devoir, nul ne doit l’être par métier. Tel fut le système militaire des Romains; tel est aujourd’hui celui des Suisses ; tel doit être celui de tout État libre […].» Rousseau stellt damit den positiven Zusammenhang von Bürger und Soldat, von Milizarmee und freiheitlichem Staat her.

Nach dem Vorbild der französischen und amerikanischen Revolutionsarmeen legte die erste gesamtschweizerische Verfassung, die Helvetische Verfassung von 1798, das Milizprinzip unter anderem im Artikel 25 fest: «Jeder Bürger ist ein geborner Soldat des Vaterlands.» Die regenerierten Kantonsverfassungen übernahmen dann ab 1830 dieses Prinzip. Die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 anerkannten die allgemeine Wehrpflicht und untersagten dem Bund, stehende Truppen zu halten. Erst 1999 wurde das militärische Milizsystem mit dem Artikel 58 explizit in der Bundesverfassung verankert: «Die Schweiz hat eine Armee. Diese ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert.» Dieser Hinweis in der Verfassung ist übrigens der einzige, der auf das Milizprinzip hinweist. Das politische Milizprinzip gehört somit weitgehend zum ungeschriebenen Verfassungsbrauchtum. Deshalb fand es wohl bisher so wenig Beachtung in der staatsrechtlichen und auch historischen Forschung und Literatur zur alten Eidgenossenschaft und modernen Schweiz.

Milizsystem in der Politik

Seit der Antike gibt es Hinweise, dass das Milizsystem auch auf den politischen Bereich übertragen wurde. Die bereits erwähnten eidgenössischen Städte- und Landsgemeindeorte haben seit dem 13. respektive 14. Jahrhundert die Milizidee in der Bevölkerung verankert, man lese dazu beispielsweise den Bundesbrief von 1291 oder weitere Gründungsdokument der schweizerischen Eidgenossenschaft. Die politischen Wurzeln des Milizsystems liegen also sicher im Ancien Régime. Das Prinzip der Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit floss auf dem Gebiet der heutigen Schweiz in zahlreiche genossenschaftliche Organisationsformen ein. So vertraute die Genossenschaft auf die «Wägsten», auf ihre zeitliche und materielle Opferbereitschaft für die Gemeinde. Daneben wirkte zweifellos auch das christliche Prinzip der «Caritas», das heisst die Pflicht zur Hilfeleistung an den Kranken, Behinderten, Armen und Gescheiterten, das sich in verschiedenen wohltätigen Milizorganisationen wie den Samaritern niederschlug.

Der Berner Frühaufklärer Beat Ludwig von Muralt (1665-1749) und der Basler Aufklärer Isaac Iselin (1728-1782) stellten die Forderung auf, dass die Schweiz eine eigene republikanische Identität schaffen müsse. In diesem Rahmen betonten sie den Milizgedanken und das Genossenschaftsprinzip und förderten so mit ihren philosophischen Schriften eine Tugend-Diskussion. Es seien republikanische Werte wie Mut, Sparsamkeit, gegenseitige Hilfe, Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen sowie Verachtung der höfischen Pracht nötig, um ein nationales Selbstverständnis und eine schweizerische kommunale Republik aufzubauen. Heinrich Pestalozzi (1746-1827) und Philipp Albert Stapfer (1766-1840) entwickelten dann diese Gedanken weiter und schufen damit Bezüge zwischen dem auf dem Milizgedanken basierten, modernen Republikanismus und dem Schweizer Frühliberalismus.

Druckgrafik mit einem Porträt von Isaac Iselin, um 1780.
Schweizerisches Nationalmuseum

Die regenerierten Kantonsverfassungen ab 1830 übertrugen dann das Milizsystem explizit auf die Gemeinden und deren Selbstverwaltung. In allen öffentlichen Angelegenheiten hatten die Bürger ihre Verantwortung für das Gemeinwesen wahrzunehmen. Darauf stützte sich die republikanische Staatsform ab und daraus bezog sie ihre fortwährende Lebenskraft. Es war deshalb üblich, dass die wichtigen Staatsstellen nicht von fest angestellten Magistraten oder Beamten, sondern von Bürgern auf Amtsdauer eingenommen wurden.

Zusammen mit dem Vereinswesen, das im 19. Jahrhundert Auftrieb erhielt, stellt das Milizprinzip bis heute in politischer Hinsicht auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene ein wesentliches Merkmal unseres föderalistischen direktdemokratischen Staates dar.

Weitere Beiträge