Barbara Borsinger (rechts) mit Bundesrat Giuseppe Motta (Mitte) und Dr. Mégevand (links) bei der Eröffnung des Klinik Chemin des Grangettes, 1933.
Archives des Grangettes

Barbara Borsinger – wohltä­ti­ges Wirken im Stillen

Die heute weitgehend in Vergessenheit geratene Krankenschwester stammte aus dem Aargau und wirkte in Genf. Sie erlebte zwei Weltkriege und rettete unzähligen Kindern das Leben.

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier ist Historiker und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Er hat verschiedene Beiträge zur Schweizer Geschichte des 17. und 20. Jahrhunderts publiziert.

Kurz wird sie im Buch Les Femmes dans la mémoire de Genève von Erica Deuber und Natalia Tikhonov erwähnt: Barbara Borsinger, eine Ausnahmegestalt vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch obwohl sie einen aussergewöhnlichen Charakter hatte und stets an vorderster Front stand, ist sie heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Meine Recherchen für das nächste Jahr erscheinende Buch über die von ihr 1918 ins Leben gerufene Institution «Les Amis de l’Enfance», aus der schliesslich die «Clinique des Grangettes» hervorging, führten mich nach Genf. Dabei konnte ich viel über diese Frau, ihr Leben und ihr Wirken erfahren.

Barbara Borsinger, Tochter einer Familie des Aargauer Hochbürgertums, entschied sich schon früh für den Beruf der Krankenschwester. Ihre Ausbildung genoss sie in Genf unter der Ärztin Marguerite Champendal, die wenige Jahre zuvor die Krankenpflegeschule «Bon Secours» gegründet hatte. 1914, mit Ausbruch des ersten Weltkriegs, musste Barbara Borsinger, die gläubige Katholikin mit dem ungestümen Temperament und der frankophilen Einstellung, ihre Ausbildung unterbrechen. Wie viele andere auch, schloss sie sich den französischen Sanitätstruppen an. Da sie Französisch und Deutsch gleichermassen beherrschte, wurde sie bald an die Front abkommandiert, wo sie schnell zur Oberschwester und schliesslich zur Assistentin eines Chirurgen aufstieg, der sich hinter den Schlachtfeldern um die Verwundeten kümmerte. Für ihr Engagement wurde sie mit der belgischen «Médaille de la Reine Élisabeth» geehrt. Zudem stählten das Leid und der Schrecken, deren Zeugin sie in den Kriegsjahren geworden war, ihren Willen.

Fotografie von Barbara Borsinger.
Archives Hôpitaux Universitaires de Genève

Barbara Borsingers Ausbilderin, die Ärztin Marguerite Champendal.
Centre d’iconographie genevois

Ein Gang des Genfer Kantonsspitals während der Spanischen Grippe 1918.
Archives Hôpitaux Universitaires de Genève

Ihre Entschlossenheit bewies sie erneut, als sie im Herbst 1918 in die Schweiz zurückkehrte, wo sie ihre Ausbildung abschliessen wollte. So traf die die junge Krankenschwester in Genf als dort die Spanische Grippe wütete. Aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte in der Stadt schien die Situation völlig ausser Kontrolle zu geraten. Am 6. Juli 1918 befanden sich bereits 500 Menschen mit Grippe in Spitälern, zwei Monate später schloss der Staatsrat die Schulen, untersagte Schauspiel- und Kinovorführungen und verbot öffentliche Veranstaltungen. Die kantonalen Behörden ersuchten die Armee darum, die Kaserne Les Vernets für die Unterbringung von Grippepatienten zur Verfügung zu stellen, was diese jedoch verweigerte. Daher sah sich das Kantonsspital, dessen Personal teils selbst erkrankt war, wie beispielsweise der Klinikleiter Henry D’Arcis, zu drastischen Massnahmen gezwungen. Da nicht ausreichend Betten zur Verfügung standen, brachte man die Kranken auf den Gängen unter. Ende Oktober gab es in Genf 10'189 Fälle der Spanischen Grippe, was etwa 7 Prozent der Bevölkerung entsprach. Diese medizinische Katastrophe zwang das Krankenhaus dazu, nur noch die schwersten Fälle aufzunehmen und die übrigen Betroffenen ihrem Schicksal zu überlassen.

Kaum angekommen, bot Barbara Borsinger als Veteranin des Ersten Weltkriegs ihre Hilfe an. Während das krisengeschüttelte Spital die eben aus Frankreich zurückgekehrte junge Deutschschweizerin abwies, zögerte die Ärztin Marguerite Champendal keine Sekunde, ihrer ehemaligen Schülerin eine Stelle anzubieten. Barbara sollte Hausbesuche durchführen. In Carouge stiess sie nun als Kinder- und Erwachsenenpflegerin auf zahlreiche Erkrankte. Dort waren Schweizer und französische Bauern gestrandet, die in den Vororten Genfs auf Hilfe gehofft hatten. Schnell wandelte sich Barbara Borsinger von einer Krankenschwester zur Pflegemutter und rettete das Leben von Neugeborenen, deren Eltern der Krankheit erlegen waren. Damit legte die Krankenschwester den ideellen Grundstein für ihre spätere «Clinique des Grangettes».

Unterstützt durch einen Frauenorden beherbergte sie die kleinen Waisen in einer leerstehenden Geschäftspassage und bildete ihre ersten Schülerinnen aus. Schnell wurden Gönner und Wohltätigkeitsorganisationen auf das selbstlose Engagement der in der Calvin-Stadt gestrandeten Aargauerin aufmerksam und ermöglichten es Barbara, die Notunterkunft aufzugeben und ein besseres Gebäude in Champel zu beziehen. Vierzehn Jahre und zwei weitere Umzüge später konnte Barbara am 25. Juni 1933 am Chemin des Grangettes ihre Klinik einweihen, die damals in der Schweiz als beispielhaft modern galt. Finanziert wurde das Vorhaben durch Spenden und einen Teil ihres Erbes. Zur Eröffnung war ein alter Freund der Familie, der Bundesrat Giuseppe Motta, erschienen, der zwangsläufig Journalisten und Persönlichkeiten der Genfer Politik der damaligen Zeit im Gefolge hatte.

Barbara Borsinger war auf dem Weg, zu einer Leitfigur zu werden. Dies galt umso mehr, als ihr Einsatz für Kinder von Eglantyne Jebb gewürdigt wurde, der berühmten Gründerin der Kinderschutzorganisation Save the Children, die Barbaras Bemühungen 1919 finanziell unterstützt hatte und ihrerseits unter der Schirmherrschaft des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz stand.

Die Klinik, deren Strahlkraft weit über die Grenzen des Kantons hinausreichte, sollte nach und nach ausgebaut werden. Dieses Vorhaben fand mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jedoch ein jähes Ende. Trotz der Ungewissheit, die der Krieg brachte, stürzte sich die ehemalige Kriegskrankenschwester in einen neuen Kampf. Umgeben von Genfer Ärzten, gab sie ab 1938 die medizinische Leitung der Einrichtung nicht an einen Mann, sondern an eine Frau ab, noch dazu eine Deutsche: Viola Riederer, Freiin von Paar zu Schönau, eine Adelige und Cousine zweiten Grades des deutschen Obersts von Stauffenberg, der 1944 in Ostpreussen ein Attentat auf Hitler verüben sollte. Mit Viola Riederer begann Barbara ihre Widerstandsaktionen gegen Nazideutschland. So nahm sie Flüchtlinge wie den Schriftsteller Robert Musil bei sich auf und bot jüdischen Kindern, die sie mit dem Auto bei den französischen Widerstandsgruppen abholte, hinter den Klinikmauern Schutz.

Das Genfer Kantonsspital 1918.
Archives Hôpitaux Universitaires de Genève

Nach Kriegsende setzte Barbara Borsinger ihre Wohltätigkeitsaktivitäten fort, etwa durch ihren Beitritt zum kantonalen Komitee für die Schweizer Spende. Auch organisierte sie auf ausdrückliche Bitte von Bundesrat Ernst Wetter eine Hilfsaktion zugunsten der Säuglinge in Marseille, wo es in der unmittelbaren Nachkriegszeit am Lebensnotwendigsten mangelte. Als Klinikleiterin nahm sie noch andere Flüchtlinge auf, deutsche Kriegsgefangene, die aus französischen Internierungslagern geflohen waren. Diese ganz besonders heikle und an ein Tabu grenzende Angelegenheit, wird in einem späteren Artikel näher beleuchtet werden.

Am 9. August 1972, nach zwei Weltkriegen und einem abenteuerreichen Leben im Dienste der Kinder, verstarb Barbara Borsinger in Horben infolge einer Krankheit.

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