Ein Nazi-Konsul und Widerstandskämpfer in Genf
Deutschlands Konsul in Genf, Gottfried von Nostitz-Drzewiecky (1902-1976), galt bei den Nazis als politisch unzuverlässig. Von der Schweiz aus unterhielt er Kontakt zum Widerstand und erleichterte die Arbeit von Fluchthelfern.
In der Geschichtsschreibung finden sich bisweilen Lücken, die von der Forschung aufgrund überraschender Entdeckungen geschlossen werden können. Ein solches Beispiel ist das Wirken des deutschen Vizekonsuls Gottfried von Nostitz-Drzewiecky (1902-1976), der von 1940 bis zum Kriegsende in Genf stationiert war. Seine Persönlichkeit blieb in der Schweiz völlig unbeachtet, aber Nachforschungen zur Geschichte einer Genfer Klinik haben Licht in seine Gesinnung gebracht. Was ist aber so aussergewöhnlich an einem Nazi-Beamten, der überdies der SS angehörte und in den 1930er-Jahren mit Franz von Papen zusammenarbeitete?
Gottfried von Nostitz hatte Rechtswissenschaften studiert und war wie unzählige Adelige überzeugter Monarchist. Als Diplomat wurde er jedoch als politisch unzuverlässig eingestuft und 1940 von Joachim von Ribbentrop aus dem Auswärtigen Amt verdrängt. Seine Vorgesetzten hatten beschlossen, ihm eine zweitrangige Position abseits der grossen Herausforderungen anzuvertrauen, und ihn als Vizekonsul nach Genf abgeschoben, verantwortlich für die militärischen Angelegenheiten des Konsulats.
Der lutherische Aristokrat war seinerzeit der NSDAP und der SS beigetreten, um sich seinen sozialen Status zu sichern. Obschon er gewissen Vorstellungen von Deutschland zugetan war, teilte er weder die antisemitische Haltung noch die völkische Nazi-Ideologie. Als sich Gottfried von Nostitz noch in Deutschland aufhielt, pflegte er Kontakte und enge Beziehungen zu Personen, deren politische Überzeugungen kaum der Parteilinie entsprachen. Dazu gehörten der Cousin von Claus von Stauffenberg, Helmuth von Moltke, der später den Kreisauer Kreis gründen sollte, zweifellos eine der bis heute bekanntesten Bewegungen des deutschen Widerstands, und Ulrich von Hassell, bei dem er im Oktober 1942 wohnte.
Die Entsendung von Gottfried von Nostitz nach Genf hielt ihn nicht nur von den Intrigen fern und rettete ihm nebenbei zweifellos das Leben, sondern ermöglichte es ihm auch, seine Widerstandsnetze konkret aufzubauen. Zusammen mit einigen Genfer Komplizen unterstützte der Diplomat so die Fluchthilfeorganisation CIMADE (Comité inter-mouvements auprès des évacués), die jüdischen Flüchtlingen den Grenzübertritt von Frankreich in die Schweiz ermöglichte und den Widerstandsnetzen wertvolle Informationen lieferte. Der Nazi-Beamte begab sich sogar höchstpersönlich auf die Jurahöhen und war für die Passeure als «Kurier» tätig.
Im Übrigen ist bekannt, dass das deutsche Konsulat in Genf keine Brutstätte eifriger Hüter des Hitler-Regimes war, aber es waren dennoch Vorsicht und Diskretion angesagt, denn Berlin konnte in seinen Büros auf Informanten zählen, sodass jede Widerstandshandlung ein Gefahrenpotenzial aufwies. So musste sich von Nostitz bisweilen vordergründig an die Berliner Weisungen halten, wie im September 1944, als er in Bern vorsprach und gegen zwei Artikel protestierte, die von den Deutschen begangene Gräueltaten beschrieben.
Von Nostitz spielte also ein gefährliches doppeltes Spiel, indem er sich zwar an direkte Befehle hielt, gleichzeitig aber seine Tätigkeiten und seine Beziehungen, etwa seine Freundschaft zum Schweizer Diplomaten und Verleger François Paul Lachenal, der damals Publikationen und Schriften des französischen literarischen Widerstands verbreitete, geheim hielt. 1943 ging der Diplomat nicht unerhebliche Risiken ein, als er Barbara Borsinger, Direktorin der Klinik Grangettes, einen Ausweis ausstellte, der die Rettung von Dutzenden jüdischer Kinder ermöglichte. Er gab ihrem Gesuch statt, ohne eine Miene zu verziehen, bat sie jedoch, keinen Erwachsenen zum Grenzübertritt zu verhelfen und weder schriftlich noch mündlich Informationen zu verbreiten. Die mit dem Diplomaten unter einer Decke steckende Wohltäterin musste nun die Ausschleusung dieser Kinder organisieren und Personen, die sie dem Widerstand zurechnete, in ihre Pläne einweihen. Gewisse Mitglieder des «Gilbert-Netzes», wie Hauptmann Clément, gehörten dem schweizerischen Nachrichtendienst an. Anschliessend brauchte Barbara mit ihren kleinen Schützlingen nur in die Schweiz zurückzukehren, denn ihre Bewilligung diente ihnen als Passierschein. Die offiziellen Papiere des Vizekonsuls ersparten ihr wiederholt Probleme, wenn sie vor den Augen der französischen Zöllner und der Soldaten vom schweizerischen Grenzwachtkorps die Grenze überquerte und dabei auf Schweizer Seite auf keinerlei Widerstand stiess, obwohl eigentlich eine vom Kommandanten der Genfer Grenzwacht ausgestellte Legitimationskarte notwendig gewesen wäre. Ein gefährliches Spiel, für das mehr als ein Passeur hinter den Mauern des Gefängnisses Pax in Annemasse oder im Gefangenenlager Drancy mit seinem Leben bezahlte.
Gottfried von Nostitz setzte seine Tätigkeit im Untergrund fort und erhielt im Sommer 1944 eine enorm wichtige Information. Ende Juni war der Diplomat nach Berlin gereist, wo am Abend des 4. Juli eine geheime Versammlung des Kreisauer Kreises geplant war, bei dem die Zukunft Deutschlands nach dem Tod des Führers besprochen wurde. Während dieses Treffens mit Adam von Trott zu Solz, Hans-Bernd von Haeften und Peter Graf Yorck von Wartenburg erfuhr der Vizekonsul von der Verschwörung gegen Hitler nach den Plänen von Oberst von Stauffenberg. Was danach geschah, ist zur Genüge bekannt: Das gescheiterte Attentat in Ostpreussen hatte zur Folge, dass die meisten Verschwörer innert kürzester Zeit festgenommen und hingerichtet wurden. Die Mitglieder des Kreisauer Kreises wurden des Hochverrats angeklagt und zum Tode verurteilt. Gottfried von Nostitz entging diesem unheilvollen Schicksal, weil er sich weigerte, dem ihm erteilten Befehl zur Rückkehr nach Deutschland Folge zu leisten. Er zog es vor, bis zum Kriegsende in der Calvin-Stadt zu bleiben. Das sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Am 8. Mai 1945 wurde in einem Bundesbeschluss des Politischen Departements verkündet, aus Sicht der Schweiz existiere die Reichsregierung nicht mehr und die Gesandtschaft und die Konsulate Deutschlands auf Schweizer Boden seien zu schliessen. So schloss am 9. Mai ein Bundesinspektor in Begleitung des Generalsekretärs des Genfer Justiz- und Polizeidepartements, eines Polizeikommissars, des Sicherheitschefs und mehrerer Gendarme das Nazi-Konsulat in der Genfer Rue Charles-Bonnet 6. Am Tresor von Konsul Herbert Siegfried sowie an den Türen des Konsulats brachten sie Siegel an und entfernten das Wappen mit dem Hakenkreuz von den schweren Flügeltüren.
Die Mitarbeiter des Konsulats, die dadurch ihre diplomatische Legitimität einbüssten, wurden vom Bund kurz darauf des Landes verwiesen. Gottfried von Nostitz weigerte sich jedoch wiederholt auszureisen, da er sich nicht nur vor Repressalien, sondern auch vor dem Schicksal fürchtete, das die Alliierten möglicherweise für ihn bestimmt hatten. Der berühmte Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt, Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und ab 1945 «Minister» der Schweiz in Paris, sowie Jacques Courvoisier, Dekan der theologischen Fakultät der Universität Genf, setzten sich dafür ein, dass Gottfried von Nostitz in Genf bleiben konnte. Ihre Bemühungen waren allerdings umsonst, denn der Bundesrat wollte das Kapitel der Naziaktivitäten in der Schweiz möglichst schnell abschliessen und alle auf Schweizer Boden verbliebenen Mitglieder der NSDAP verschwinden lassen, selbst wenn sich eines davon am Widerstand beteiligt hatte.
Im März 1946 kehrte der Diplomat daher nach Deutschland zurück. Er konnte sich dem Entnazifizierungsverfahren und den – vom Institut für Zeitgeschichte München überlieferten – Verhören durch die amerikanischen Nachrichtenoffiziere, die 1947 vor dem Amtsgericht Wolfratshausen abgeschlossen wurden, allerdings nicht entziehen. Seine Mitgliedschaft bei der NSDAP und der SS erleichterte die Dinge keineswegs und die Witwen der 1944 von Hitler hingerichteten Verschworenen Helmuth von Moltke und Adams von Trott zu Solz sowie Carl Jacob Burckhardt und Eugen Gerstenmaier, ein Überlebender des Kreisauer Kreises, mussten zugunsten des Vizekonsuls als Zeugen aussagen. Im Verlauf dieser Zeugenaussagen erfuhren die Amerikaner, dass Gottfried von Nostitz nicht nur Flüchtlinge in die Schweiz geschleust, sondern die Schweizer Behörden auch über die Entwicklung der deutschen Aussenpolitik informiert hatte. Leider geben die Quellen darüber nicht mehr preis, aber es ist durchaus denkbar, dass Barbara Borsinger sehr wohl wusste, an wen sie sich wandte, als sie den Diplomaten um einen Passierschein ersuchte. So ist es nicht unwahrscheinlich, dass Barbara von ihrer Schwester Verena Borsinger, die für den eidgenössischen Nachrichtendienst arbeitete, bevor sie die erste Schweizer Strafrichterin wurde, oder ihrem Bruder Paul Borsinger, damals Direktor des Schweizerischen Kurzwellendienstes und gut in die politischen Kreise der Bundeshauptstadt integriert, über die Neigungen des Vizekonsuls ins Bild gesetzt wurde.
Wie auch immer, die von den Zeugen im Prozess gegen Gottfried von Nostitz erbrachten Beweise reichten, um ihn für unschuldig, zum Gegner des Nazi-Regimes und – später im Deutschland Adenauers – zum aktiven Widerstandskämpfer zu erklären. Der alte Aristokrat verstarb 1976, nachdem er seinem Land in der deutschen diplomatischen Vertretung in Den Haag, ab 1957 in Sao Paulo und von 1964 bis 1967 in Santiago de Chile gedient hatte. In diesen letzten Jahren wurde ihm das Grosse Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland verliehen.