Die weisse Pest
Heute verbreitet das Corona-Virus Angst, Schrecken und Unsicherheit – vor 100 Jahren wurde die Schweiz mit tödlicher Wucht von der Tuberkulose und der Spanische Grippe heimgesucht.
Vor genau 100 Jahren wurde Hans Castorp nach Davos in die Kur geschickt. Er hatte Tuberkulose und traf dort im Höhensanatorium auf eine zivilisationsmüde Bourgeosie, welche die Langeweile pflegte und sich am eigenen Leiden suhlte. Man legte Patiencen, lauschte der Kammermusik, pflegte seine Briefmarkensammlungen und stopfte Kuchen und Schokolade in sich hinein. Die in sich geschlossene Welt solcher Heilstätten umgab eine eigenartige «Mischung von Tod und Amüsement».
Doch dieser Hans Castorp, der in Davos auch «Zanksucht» und «kriselnde Gereiztheit» feststellte, war nicht real; er war eine Phantasiefigur des grossen Schriftstellers Thomas Mann (1875–1955) und der Protagonist in Manns Roman «Der Zauberberg», der ab 1920 entstand. Das Buch war ein Welterfolg; 1924 erschien es und erreichte in den ersten vier Jahren bereits eine phänomenale Auflage von 100'000 Exemplaren. 1929 wurde Thomas Mann dann mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, Neuauflagen und Übersetzungen in 27 Sprachen folgten, die Schweizer Tuberkulose-Szene in der Höhenklinik verbreitete sich in der ganzen Welt.
Auch wenn «Der Zauberberg» ein Jahrhundertwerk war, sah der Roman über die Realität hinweg. Denn die Tuberkulose war nicht die Krankheit von wohlstandsverwahrlosten Reichen, sondern die Krankheit der Armen, die sich keine Heilstätten leisten konnten.
Schwindsucht oder weisser Tod
Während heute der Covid-19-Virus vor allem ältere Menschen und solche mit einer Vorerkrankung tötet, traf vor 100 Jahren die Tuberkulose die Menschen in engen Wohnverhältnissen, die ohne frische Luft in miefigen Verhältnissen hausen mussten. Die Tuberkulose war eine soziale Krankheit, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Menschen in den Mietskasernen und dunklen Hinterhöfen hinwegraffte. Auch wenn der Mikrobiologe Robert Koch 1882 den verantwortlichen Erreger benennen konnte und das Medikament Tuberkullin entwickelte: Die Tuberkulose blieb die Volkskrankheit Nummer eins, sie wurde auch «Schwindsucht», «Weisse Pest» oder «Weisser Tod» genannt. So starben noch in den zehn Jahren von 1916 bis 1925 in der Schweiz über 50'000 Menschen an der Lungentuberkulose. Die Faustregel galt, dass jeder Siebte an Tuberkulose sterbe!
Die Nidwaldner Schriftstellerin Isabelle Kaiser, die selber an der Krankheit litt, publizierte zum 1. August 1921 das Gedicht «Der moderne Drache» im Nidwaldner Volksblatt:
«Man glaubt, die Welt sei mächtig fortgeschritten,
Die Zeit der Drachen sei für uns vorbei. (...)
Und doch, mein Volk, es rast durch alle Lande
Ein Ungeheuer mit verseuchtem Schlund,
Der reisst entzwei die heiligsten der Bande,
Macht blütenjunge Leiber siech und wund.
Ein wilder Geier, kreist er durch die Lüfte,
Und hackt sich ein in jede zarte Brust,
Als Schacherer des Todes und des Grüfte.
Da, wo er niedersaust, erstirbt die Luft. (...)»
Die Worte sind gut gewählt und zeigen die Not der damaligen Zeit: Die Tuberkulose bekommt Gestalt als «moderner Drache» und «wilder Geier». Damit nicht genug: Zur Jahrhundertkrankheit Tuberkulose kam 1918 noch die «Spanische Grippe» hinzu. Zwischen Juli 1918 und Juni 1919 starben allein in der Schweiz 24'449 Menschen daran – die Spanische Grippe war damit die tödlichste Katastrophe der Schweiz im 20. Jahrhundert.
Direkte Kontakte oder Tröpfchen
Die Grippe übertrug sich gleich wie Tuberkulose durch direkte Kontakte oder Tröpfchen – das kommt uns in Zeiten von Corona sehr bekannt vor. Nach der Ansteckung nahm die Spanische Grippe einen dramatischen Verlauf. Die Fieberkranken bekamen neben üblichen Grippesymptomen Flecken im Gesicht, spuckten Blut, ihre Körper verfärbten sich, am Ende erstickten sie elend. Die violett verfärbten Leichen stapelten sich geradezu. Der bekannte Schriftsteller Stefan Zweig notierte im Oktober 1918 in sein Zürcher Tagebuch: «Eine Weltseuche, gegen die die Pest in Florenz oder ähnliche Chronikgeschichten ein Kinderspiel sind. Sie frisst täglich 20'000 bis 40'000 Menschen weg.»
Nach zwei Grippewellen flachte die Kurve der Erkrankten wieder ab. Doch diejenige der Tuberkulose-Kranken blieb. Ärzte hielten landauf, landab Vorträge, in Städten wurden in Restaurantsälen «Lehrfilme zur Volksaufklärung» gezeigt, die – wie die Luzerner Neusten Nachrichten 1921 schrieben – der «Abwehr dieser schrecklichen Geissel der Menschheit» dienen sollten. Statt des Social Distancing von heute kursierte ein Mahnspruch: «Jeder, der auf den Boden spuckt, spuckt in die Lunge des Nächsten!» Zudem gründeten Kantone und private Hilfsorganisationen wie Lungenligen spezialisierte Höhenkliniken in der ganzen Schweiz. Ende der 1920er-Jahre gab es in der Schweiz nicht weniger als 88 Sanatorien – wie jenes, welches Thomas Mann im «Zauberberg»-Roman beschrieben hatte.
Davos hatte übrigens das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, weil Thomas Mann «den Ort in gesundheitlicher Hinsicht in Verruf» gebracht habe. Daraufhin bestellte der Verkehrsverein des Ortes beim humoristisch schreibenden Schriftsteller Erich Kästner einen heiteren Roman über Davos. Kästner verfasste deshalb ein Buch mit Alfons Mintzlaff als Hauptfigur. Er nannte seine Hauptperson in Anlehnung an Manns «Zauberberg» und an Goethes «Faust» anspielungsreich «Der Zauberlehrling». Doch das Werk blieb erfolglos, weil in der Regel krasse Geschichten besser ankommen als liebliche. Aber auch das kennen wir aus der Gegenwart.