Porträt von Adèle d’Affry, Herzogin von Castiglione, von Édouard-Théophile Blanchard, 1877.
Porträt von Adèle d’Affry, Herzogin von Castiglione, von Édouard-Théophile Blanchard, 1877. Museum für Kunst und Geschichte Freiburg

«Marcello», die Frau mit vielen Gesichtern

Wie Adèle d’Affry, Herzogin von Castiglione Colonna (1836–1879), als Künstlerin unter dem Pseudonym «Marcello» berühmt wurde und mit den Grossen ihrer Zeit verkehrte.

Sandrine Vuilleumier

Sandrine Vuilleumier

Ägyptologin, Forscherin beim Schweizerischen Nationalfonds.

Adèle d’Affry wird als Tochter eines Grafen und einer Marquise im Freiburgerland geboren, wo sie auch ihre Jugend verbringt. Im Winter weilt sie entweder in Nizza oder in Italien. In Rom wird Adèle im Atelier des Schweizer Bildhauers Heinrich Max Imhof ins Modellieren eingeführt und heiratet 1856 Carlo Colonna, der alsbald zum Herzog von Castiglione-Altibrandti geadelt wird. Leider erliegt ihr Ehemann in Paris noch vor Ende Jahr dem Typhus. Im Alter von 20 Jahren ist Adèle Witwe. Zurück in Rom widmet sie sich weiterhin ihren künstlerischen Neigungen und fertigt eine Büste ihres verstorbenen Gatten an. Zwei Jahre später lässt sie sich in Paris nieder, wo sie in der Rue Bayard 1 ein Atelier mietet. Ihre Abstammung und ihre kurze Ehe öffnen ihr die Türen zu den Salons des Second Empire. Sie verkehrt unter anderem mit dem Journalisten und Staatsmann Adolphe Thiers und dem Schriftsteller Prosper Mérimée und trifft den Maler Eugène Delacroix. Ihre künstlerische Tätigkeit setzt sie unter dem wachsamen Auge von Auguste Clésinger fort, dem Schwiegersohn von George Sand, einer Schriftstellerin und Feministin der ersten Stunde. Adèle nimmt Zeichenunterricht und besucht als Mann verkleidet diskret die Anatomiekurse der École de médecine de Paris. In jene Zeit fällt ihr erstes vollendetes Werk, La Belle Hélène (1860). Aber die Kunst hindert sie nicht an einer regen Teilnahme am Pariser Gesellschaftsleben. Wie es ihr Rang gebietet, ist sie an Diners und Bällen anzutreffen. Nachdem im folgenden Jahr die École des Beaux-Arts de Paris ihr als Frau die Immatrikulation verweigert, kehrt Adèle nach Rom zurück, wo sie mit Jean-Baptiste Carpeaux Bekanntschaft macht. Trotz ihres freundschaftlichen Verhältnisses lehnt sie seinen Heiratsantrag ab. Sie geniesst ihre Freiheit.
Bianca Capello, 1863.
Bianca Capello, 1863. Wikimedia
La Mauresque souriante, 1869.
La Mauresque souriante, 1869. Wikimedia
Um die Klippen ihres Geschlechts und ihres Titels zu umschiffen, stellt Adèle 1863 am Pariser Salon unter dem Pseudonym «Marcello» drei Büsten aus, unter anderem von Bianca Capello, die ihr einen gewissen Erfolg beschert, sodass Kaiserin Eugénie auf sie aufmerksam wird. Darauf verkehrt sie regelmässig am Hof. Wie ihre Korrespondenz bezeugt, ist sie eine grosse Verehrerin von Napoleon III. und sein Tod betrübt sie zutiefst. Sie bleibt dem Kaiserpaar, das ihr mehrere Werke in Auftrag gibt, bis ans Lebensende verbunden. Am Salon von 1865 stellt Marcello die Marmorbüste La Gorgone aus, von der sich Théophile Gautier begeistern lässt, worauf George Sand sie in ihrem Atelier besucht. Eine Bronzeversion ist später in der Londoner Royal Academy zu sehen. Ihre Werke Marie-Antoinette à Versailles und Marie-Antoinette au Temple werden am Salon von 1866 ausgestellt. Die Büste der Impératrice Eugénie, eine Auftragsarbeit für das Rathaus von Paris, wird dagegen scharf kritisiert und von der Kunstkommission abgelehnt. An der Weltausstellung von 1867 präsentiert Marcello anschliessend Hécate et Cerbère, eine Bestellung von Napoléon III. für die Gärten von Compiègne, sowie sieben weitere Werke. Im gleichen Jahr bereist die Herzogin Europa und nimmt in Budapest an der Krönung von «Sissi» teil. Nach ihrer Rückkehr nach Paris fertigt sie eine kleine Büste der Impératrice Elisabeth an, die heute im Schloss Greyerz zu sehen ist. Als Marcello im folgenden Jahr in Spanien verletzte Revolutionäre pflegt, modelliert sie das Portrait du Général Milan del Bosc, das von der Freiburger Fondation Marcello aufbewahrt wird.
Vernissage am Salon de Paris 1890. Zeichnung von Jean-André Rixens.
Vernissage am Salon de Paris 1890. Zeichnung von Jean-André Rixens. Wikimedia
1869 schafft Marcello die Pythia, die im folgenden Jahr am Salon von Paris ausgestellt wird. Der Architekt Charles Garnier wählt dieses Meisterwerk als Schmuck für die neue Oper aus, die 1875 eröffnet und nach seinem Namen benannt wird. Für ihre an der Weltausstellung von 1873 ausgestellten fünf Büsten erhält sie eine Medaille. In jener Zeit wendet sich Adèle der Malerei zu, die körperlich weniger anspruchsvoll ist und sich für ihre bereits zerbrechliche Gesundheit besser eignet. Sie ist Schülerin von Ernest Hébert in der Villa Medici, wo sie auch mit den Komponisten Charles Gounod und Franz Liszt verkehrt, und später von Léon Bonnat in Paris. Das von Marcello für den Salon von 1874 eingereichte Gemälde wird jedoch zurückgewiesen, was sie zutiefst verletzt. Im folgenden Jahr malt sie das Portrait de Berthe Morisot.
Portrait von Adèle d’Affry, gemalt von Gustave Courbet, 1870.
Portrait von Adèle d’Affry, gemalt von Gustave Courbet, 1870. Musée des beaux-arts, Reims
Während der Belagerung von Paris 1870–1871 flieht Adèle in die Schweiz und gewährt Gustave Courbet Zuflucht, einem Vertreter des Realismus, von dem sie sich hat porträtieren lassen. In seinem Atelier im Schloss von Givisiez wird sie auch vom befreundeten Georges Clarin porträtiert. Sie weigert sich hingegen, für den Maler Édouard Manet Modell zu stehen, weil sie die Skandale fürchtet, die ihn immer wieder begleiten. Dafür lässt sie sich von ihrem Freund Édouard-Théophile Blanchard malen. Adèle erliegt im Juli 1879 im Alter von 43 Jahren der Tuberkulose und hinterlässt mehrere Werke von hoher Qualität, unvollendete Memoiren sowie das Andenken an eine talentierte Künstlerin, eine mondäne und intellektuelle Herzogin ohne Ehegatten.

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