Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen».
Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen». Rätisches Museum

Ein düsteres Kapitel der Schweizer Geschichte

Missbrauch statt Fürsorge, auf diesen kurzen Nenner kann man bringen, was bis in die 1970er-Jahre unzähligen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in der Schweiz widerfuhr. «Vom Glück vergessen» – unter diesem Titel bringt das Rätische Museum Chur das Thema der «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» dem Publikum auf eindringliche Weise nahe.

Hibou Pèlerin

Hibou Pèlerin

Seit vielen Jahren fliegt Hibou Pèlerin zu kulturhistorischen Ausstellungen. Für den Blog des Schweizerischen Nationalmuseums greift sich Pèlerin die eine oder andere Perle raus und stellt sie hier vor.

Schon als Kind musste Ruedi morgens zwischen drei und vier aufstehen und erst mal einen Stall voller Kühe und Ziegen durchmelken, in dem er selber auch schlief. Danach bekam er selber ein Schälchen Ziegenmilch. In der Schule schlief er natürlich laufend ein. Zum Mittagessen gab’s dann, was auch die Schweine bekamen: gekochte Kartoffeln mit einer Brühe drüber. Im Stall. Die Schweine waren zuerst dran. Als Achtjähriger musste er im Sommer auf einer Alp einen Zaun ziehen. Dabei führte ein ungeklärter Zwischenfall – eine Explosion, vermutlich wegen naher Militärübungen – dazu, dass er massiv verletzt wurde und nicht nur eine halbe Hand verlor, sondern wochenlang im Koma lag (es war eher ein Zufall, dass er rechtzeitig gefunden und ins Spital gebracht wurde). Dennoch musste er später trotz Invalidität weiterschuften. Hinzu kam sexueller Missbrauch. An über 30 Verdingplätze, von der Romandie bis Graubünden, wurde er durchgereicht. Der Grund dafür ist bis heute unklar. Als er geboren wurde, arbeitete seine Mutter in einem Restaurant, der Vater war im Aktivdienst. Das Kind kam zur Grossmutter, die den erst Dreijährigen weggab. Sein schönstes Kindheitserlebnis: Wie ihn eine Fürsorgerin einmal in den Basler Zoo mitnahm und der dort angekettete Löwe ihm die durchs Gitter hingehaltene Hand leckte. Ruedi hatte einen besonderen Draht zu den Tieren entwickelt. Den Menschen zu misstrauen, hatte er allen Grund. Ruedi Hofer (Name geändert) ist 1943 im Kanton Bern geboren. Heute lebt er zurückgezogen im hintersten Winkel eines Tales, wo er während Jahren Rettungshunde ausgebildet hat. Durch die Opferhilfestelle Graubünden bekam er spät eine bescheidene finanzielle Entschädigung von 25’000 Franken. Ein schwacher Trost für eine gründlich ruinierte Kindheit und Jugend mit unauslöschlichen Folgen.
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«Ich bin behandelt worden wie eine Kiste». Wie der Verdingbub Ruedi Hofer* (geb. 1943) von Platz zu Platz geschoben und schwer verletzt wird. Interview: Tanja Rietmann Rätisches Museum
Seine hier nur grob skizzierte Geschichte ist kein Einzelfall. Das ist, abgesehen von dem bewegenden persönlichen Schicksal dieses Mannes, besonders verstörend. Heute können junge Menschen sich wohl kaum vorstellen, dass es in der Schweiz bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts Tausende sogenannter «Verdingkinder», eigentlich Kindersklaven, gab. Sie waren das Produkt einer Gesellschaft, die teilweise noch extreme Armut kannte, auf billige Arbeit dringend angewiesen war und keine geeigneten Strukturen hatte, um die Folgen gerade für die sozial Schwächsten abzufedern. So wurden die Kinder aus den betroffenen Familien teilweise auf Märkten feilgeboten wie Vieh. Sie waren Teil jener mehr als 100’000 Menschen, die bis in die 1970er-Jahre in diesem Land aus den verschiedensten Gründen von so genannten «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» und Fremdplatzierungen betroffen waren. Das düstere Kapitel dringt erst in den letzten zehn Jahren, seit der Entschuldigungen der Bundesrätinnen Eveline Widmer-Schlumpf (2010) und Simonetta Sommaruga (2013) stärker ins öffentliche Bewusstsein. Dazu trägt neben den inzwischen zahlreichen Berichten der Betroffenen, angefangen mit Mariella Mehrs 1987 erschienener, Aufsehen erregender Dokumentation «Kinder der Landstrasse», nun auch eine sehr bewegende Ausstellung im Rätischen Museum in Chur bei.
«Schwabenkinder» in Ravensburg. Auf dem grossen Ravensburger Markt wurden auch Bündner Kinder gehandelt und an Bauern verdingt.
«Schwabenkinder» in Ravensburg. Auf dem grossen Ravensburger Markt wurden auch Bündner Kinder gehandelt und an Bauern verdingt. Wikimedia
Ruedi Hofers Geschichte lernt man dort zusammen mit vier anderen exemplarischen Einzelschicksalen in knapp zehnminütigen, atmosphärisch dichten Hörstücken kennen, die die Journalistin Christina Caprez gestaltet hat. Wer keine Zeit hat, nach Chur zu reisen, kann sie auch auf der Homepage des Museums abrufen. Doch eindringlicher ist es, sie sich vor Ort anzuhören. Die Hörstationen befinden sich in Räumen aus Karton, die uns in die entsprechende Lebenssituation der Erzählenden versetzen. Im Falle von Ruedi Hofer ist es ein Stall, für Florian Brangers Geschichte, der als rauflustiger, folglich «schwieriger» Jugendlicher seine von der Vormundschaftsbehörde verfügte «Karriere» in der berüchtigten Arbeitsanstalt Realta (Cazis) begann, nehmen wir in einer Strafzelle Platz. Der Kunstgriff mit den immersiven Karton-Räumen von Szenografin Karin Bucher ist zunächst aus der Not geboren: Es gibt, abgesehen von Akten und zumeist dokumentarischen Fotografien und Porträts der Betroffenen, etwa jenen von Theo Frey, wenig museale Zeugnisse dieses Teils der Schweizer Geschichte. Armut hinterlässt wenig Spuren. Der abgewetzte Teddybär und die zertretenen Kinderschuhe im Räumchen der Familie Albin (die Familie mit ihren acht Kindern wurde 1953 wegen Armut und Alkoholismus «fürsorgerisch» aufgelöst) sind karge Spuren von der Sorte, die normalerweise im Müll landet und nicht im Museum. Zugleich bewahrt uns die theatralische Karton-Inszenierung vor der Realismus-Falle: Nein, selbst wenn wir nun beginnen, uns das Leben der Betroffenen lebhaft vorzustellen, es bleibt da eine unüberwindbare Distanz. Und das ist gut so, weil sie die Würde der Opfer wahrt, indem sie klar macht: Wir können deren Leid höchstens ansatzweise nachvollziehen.
Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen».
Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen». Rätisches Museum
Mit Texten, Dokumenten und Fotografien wird an den Aussenseiten der Kartonräume erklärt, wie es überhaupt zu den «Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» kommen konnte und welche Ideen und Akteure hierfür verantwortlich waren. Das beginnt mit einem grundsätzlich neuen Verständnis von Armut ab dem 16. Jahrhundert, als die Unterscheidung zwischen «würdigen» und «unwürdigen» Armen zentral wurde. War das Almosengeben im Mittelalter als Antwort aufs Betteln und die «gottgewollte» Armut noch üblich, geriet nun beides in Misskredit. Der Bezug zur Reformation und zum Protestantismus, die ein neues Arbeitsethos vertraten, wird nicht hergestellt, liegt aber nahe. Im 19. Jahrhundert schliesslich galt Armut als selbstverschuldet durch Faulheit und Bequemlichkeit. Auf diese «Liederlichkeit» musste mit entsprechender, zumeist religiös grundierter Erziehung und «Korrektion» geantwortet werden. Ob der Hintergrund der sozialen Auffälligkeit Not, Verzweiflung, Alkoholismus, körperliche Behinderung oder psychische Beeinträchtigung waren, interessierte nicht. Das war der Ursprung der «Anstalt», deren triste Geschichte als Schattenseite des europäischen Zeitalters der Aufklärung Michel Foucault mit seinen bahnbrechenden Studien in den 1970er-Jahren in den Blickpunkt gerückt hat. Der «fürsorgerische Freiheitsentzug» wurde in Graubünden zuerst in der 1840 errichteten Arbeitsanstalt Fürstenau – wie zum Hohn der neuen Insassen waren die «Anstalten» in ehemaligen Herrschaftsgebäuden untergebracht – umgesetzt. Dort sollten die Eingelieferten zu «nützlichen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft» erzogen werden. Sie blieb längst nicht das einzige Beispiel für eine repressive Sozialpolitik, in der unterdotierte und überforderte Laiengremien und -behörden zum Teil jahrelange und folgenreiche Einschliessungen verfügten. Archäologische Ausgrabungen im Friedhof von Cazis, wo die berüchtigte «Korrektionsanstalt» Realta lag, zeigen, dass extrem viele der dort Begrabenen aus Realta Rippenbrüche oder sonstige Spuren körperlicher Misshandlungen aufweisen.
Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen».
Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen». Rätisches Museum
Ein ökonomischer Hintergrund für solche Entwicklungen waren gerade auch in Graubünden extreme Notsituationen infolge von Missernten und darauffolgenden Hungersnöten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwar versuchte man mit «Armenordnungen» darauf zu reagieren, aber die Ressourcen dafür reichten längst nicht aus. Leider bekommt man von den entsprechenden grossformatigen Gemälden von Albert Anker, die diese Umstände thematisieren, wie seine bekannte «Armensuppe» (Kunstmuseum Bern), nur Reproduktionen zu sehen. Ihre Pointe in diesem Zusammenhang wird dadurch aber fast noch sichtbarer: Als Sujet für Salons reicher Kunstliebhaber und museale Betrachtung war die Armut offenbar geeignet. Zum Nachdenken wurden diese bürgerlichen Kreise, die ihren Wohlstand nicht zuletzt der billigen Arbeit von Unterprivilegierten verdankten, dadurch seltener gebracht. Die Gefahr der zurückgelehnten Betrachtung des Elends anderer besteht immer, wenn es in irgendeiner Form ausgestellt wird. Heute gibt es dafür den Begriff der Elendspornografie. Skizziert wird ausserdem die Rolle von verschiedenen privaten Stiftungen, Vereinen und kirchlichen Organisationen, die in diesem Zusammenhang meist eher Teil des Problems als Teil der Lösung waren. So wird etwa an die 1973 aufgelöste Organisation «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» von Pro Juventute erinnert, die sich massiver Übergriffe in das Familienleben von Roma und Jenischen schuldig machte. Die Betroffene Uschi Waser (Jg. 1952) erzählt davon.
«Die Armensuppe», Gemälde von Albert Anker, 1893.
«Die Armensuppe», Gemälde von Albert Anker, 1893. Wikimedia / Kunstmuseum Bern
Schliesslich zieht die Schweiz ab den 1970er-Jahren einen ersten Schlussstrich in dem dunklen Kapitel. Die Unterzeichnung der UNO-Menschenrechtskonvention 1974 spielte dabei eine Rolle, aber auch die im Anschluss an Foucaults Thesen damals einsetzende Kritik des Anstaltswesens. Doch selbst zu Beginn der 2000er-Jahre lehnte der Bund noch die Aufarbeitung der Geschichte von Waisen, Zwangssterilisierten und Verdingkindern ab. Erst mit der erwähnten Entschuldigung von Bundesrätin Widmer-Schlumpf begann auch auf Ebene von Politik und Verwaltungen ein Umdenken. Der Kanton Graubünden spielt hier eine Vorreiterrolle. So hat der Regierungsrat Jon Domenic Parolini sich bei Betroffenen 2013 entschuldigt und eine Expertenkommission eingesetzt. Ausserdem erforschte die Historikerin Tanja Rietmann im Auftrag der Regierung das Thema. Sie hat auf der Grundlage ihrer Publikation auch diese vorbildhafte Ausstellung konzipiert.
Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen».
Blick in die Ausstellung «Vom Glück vergessen». Rätisches Museum
Eines der Verdienste der konzentrierten Schau ist, dass sie uns nicht mit Antworten abfertigt, sondern durchaus unbequeme Fragen stellt. Diese führen am Schluss der Präsentation sehr unmittelbar in unsere Gegenwart. «Wen bitten wir morgen um Entschuldigung?», «Führt jemand eine Akte über Sie?», «Wie privat ist Familie?», «Wieviel Unglück erträgt ein Mensch?». Denn zwar mögen wenigstens aus administrativer Sicht die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen der Vergangenheit angehören. Dennoch müssen wir nur etwas aufmerksamer um uns herumschauen und können dann kaum übersehen, dass diese Fragen und mit ihnen das Thema eines verantwortungsvollen Umgangs auch mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft noch längst nicht erledigt sind.

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