Ein Sandsteinrelief im Tösstal oberhalb von Rikon zeigt polnische Motive.
Ein Sandsteinrelief im Tösstal oberhalb von Rikon zeigt polnische Motive. Zu sehen sind typische Hausformen aus Zakopane aber auch ein Mann mit einer Kopfbedeckung aus dieser Gegend. Dominik Landwehr

Zeugen des Krieges: Die Sandstein­re­li­efs im Tösstal

Über 100’000 Soldaten fremder Heere waren im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz interniert – ihre Spuren finden sich noch heute. Zum Beispiel im Zürcher Tösstal.

Dominik Landwehr

Dominik Landwehr

Dominik Landwehr ist Kultur- und Medienwissenschafter und lebt in Zürich.

Wer an der Töss vom Winterthurer Stadtteil Sennhof nach Kollbrunn wandert, kann in einem Felsen etwa 20 Meter über dem Weg in der kalten Jahreszeit mit etwas Glück eine Figur erkennen: Ein arbeitender Mann von hinten, in den weichen Sandstein gehauen. Er sei das Werk von polnischen Internierten im Zweiten Weltkrieg, sagen die alten Leute im Tal. Allerdings gibt es auch andere Erklärungen: Die Figur sei schon vor dem Zweiten Weltkrieg von einem Mann gemacht worden, der die Schweiz für immer verlassen habe. Unsere Gewährsperson im Tal weist auf ein zweites Sandsteinrelief hin: Es liegt an einem steilen Wanderweg zwischen Rikon und dem Weiler Dettenried. Das Relief ist vom Weg aus nicht zu übersehen und zeigt einen Mann mit Kopfbedeckung und Häuser mit eigentümlichen, runden Formen, die etwas an die Bilder von Marc Chagall erinnern.
Das Sandstein-Relief von Sennhof im Tösstal
Das Sandstein-Relief von Sennhof im Tösstal. Es zeigt einen Arbeiter von hinten. Einheimische schreiben das Bild den internierten Polen zu, es gibt aber auch andere Erklärungen. Dominik Landwehr
Wir zeigen die Bilder dem polnisch-schweizerischen Bildhauer Romuald Polachowski, er lebt in Aadorf, nur wenige Kilometer vom Tösstal entfernt. Polachowski ist selber Sohn eines polnischen Internierten. Als er unsere Bilder sieht, ist er elektrisiert: «Die Darstellung von Rikon zeigt den Kopf eines Bauern von Zakopane im polnischen Tatra-Gebirge». Und auch die Häuser seien typisch für jene Gegend.
Der polnisch-schweizerische Bildhauer Romuald Polachowski
Der polnisch-schweizerische Bildhauer Romuald Polachowski ist überzeugt, dass polnische Internierte diese Figuren geschaffen haben. Sein Vater war einer der internierten polnischen Soldaten. Dominik Landwehr
Romuald Polachowski hat eine ungewöhnliche und bewegte Lebensgeschichte: Sein Vater Pawel gehörte zu jenen 12‘500 Polen, welche im Juni 1940 zusammen mit 20'000 französischen Soldaten die Schweizer Grenze im Jura überschritten. Die Polen hatten sich nach dem deutsch-sowjetischen Überfall auf ihr Land im gleichen Jahr aufgemacht um an der Seite der Alliierten gegen Nazideutschland zu kämpfen. In der Gegend von Belfort in Frankreich wurden diese Truppen von der deutschen Wehrmacht eingekesselt. Sie brachten sich in der neutralen Schweiz in Sicherheit, wie das in der Haager Landkriegsordnung vorgesehen war: Die Schweiz entwaffnete die Soldaten und musste sie bis zu Ende des Krieges unterbringen. Grössere Lager erwiesen sich dafür als ungeeignet, es kam zu Problemen und sogar Rebellionen. Im Bundesarchiv finden wir den umfangreichen Schlussbericht des Eidgenössischen Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung (EKIH). Das Dokument listet nicht weniger als 1200 Schweizer Ortschaften auf, die Internierte aufnahmen. Darunter praktisch jedes Dorf im Tösstal.
Der polnisch-schweizerische Bildhauer Romuald Polachowski in seinem Atelier
Der polnisch-schweizerische Bildhauer Romuald Polachowski in seinem Atelier. Im Hintergrund eine Darstellung der schwarzen Madonna von Tschenstochau. Das Original der Ikone ist so etwas wie das Nationalheiligtum der Polen. Dominik Landwehr
Hier finden wir Spuren dieser Zeit: So gibt es oberhalb von Gibswil einen so genannten Polenweg. Er wurde während des Zweiten Weltkriegs von einem sportbegeisterten jungen Mann geplant und mit Hilfe von 30 polnischen Internierten zum Preis von damals 800 Franken gebaut. In der Schweiz gibt es über 25 solcher Wege. Deren Bau war eine Möglichkeit, die jungen Männer zu beschäftigen, ohne das einheimische Gewerbe zu konkurrenzieren.
Rodungen durch Internierte in Langenhard bei Rikon im Tösstal
Die internierten Soldaten wurden vor allem für landwirtschaftliche Arbeiten eingesetzt, um das lokale Gewerbe nicht zu konkurrenzieren. Hier eine Aufnahme aus Langenhard bei Rikon im Tösstal. Privatarchiv Hedi Werren Langenhard
Die Geschichte des Soldaten Pawel Polachowski ist aber noch nicht zu Ende: Er heiratete nach dem Krieg eine Schweizerin. Damit verlor die Frau die Schweizer Staatsbürgerschaft und die Familie musste ausreisen. So kam 1947 Sohn Romuald in Polen zur Welt. Erst anfangs der 1950er-Jahre durfte die Familie zurück. Es gab in jener Zeit Hunderte solcher Ehen und wir wissen von über 500 Nachkommen von polnisch-schweizerischen Paaren, die Zuger Journalistin Marie-Isabell Bill hat einige ihrer Lebensgeschichten in einem 2020 veröffentlichten Buch rekonstruiert.
Im Tösstal finden sich weitere Spuren aus dieser Zeit: Französische Internierte haben den Boden des Schulhaus Hirsgarten in Rikon gepflastert und dort zur Erinnerung ein Mosaik mit dem Wappen von Mülhausen hinterlassen, das heute noch gut sichtbar ist. Ältere Leute erinnern sich noch gut an diese Zeit und haben die Kontakte von damals noch lange nach dem Krieg weiter gepflegt. Ursula Vetter aus Turbenthal war damals ein Kind. Sie erinnert sich gut an italienische und englische Internierte: Einer davon, der Italiener Gino Bollani, hat sie als damals fünfjähriges Mädchen ab und zu in den Kindergarten begleitet. Mit Gino Bollani hatte Ursulas Mutter, Emma Frei- Gubler, nach dem Krieg noch brieflichen Kontakt. Emma Frei reiste als junge Frau nach England um in einer Pfarrersfamilie Englisch zu lernen. Zur Zeit der Internierten war sie vermutlich die Einzige im Dorf, die fliessend Englisch sprach. Diese Tatsache war unter den englischsprachigen Internierten schnell bekannt und daher wurde die Stube von Familie Frei bald zu einem Treffpunkt.
Die Familie von Ursula Vetter aus Turbenthal auf einem Bild aus dem Jahr Sommer 1944
Die Familie von Ursula Vetter aus Turbenthal auf einem Bild aus dem Jahr Sommer 1944. Ursula Vetter ist das fünfjährige Mädchen im Bild. Bei den beiden internierten Soldaten handelt es sich um Tom Wilson und Eric Bown. Privatarchiv Ursula Vetter
britischen Soldaten in Bauma
Kontakte zwischen den internierten Soldaten und der lokalen Bevölkerung waren nicht erlaubt, das hat die Leute aber nicht daran gehindert, die gemeinsame Geselligkeit zu pflegen, wie dieses Foto mit britischen Soldaten aus Bauma zeigt. Chronikarchiv Bauma
Internierte französische Soldaten vor dem Mosaikboden beim Schulhaus Hirsgarten in Rikon
Ein Foto aus dem Zweiten Weltkrieg zeigt internierte französische Soldaten vor dem Mosaikboden beim Schulhaus Hirsgarten in Rikon. Das Bild dürfte 1941 entstanden sein. In der Mitte ist das Wappen von Mülhausen erkennbar. Privatarchiv Hedi Werren Langenhard
Ein bauliches Zeugnis aus jener Zeit finden wir in Bauma, weiter hinten im Tösstal: An der reformierten Kirche erinnern zwei Gedenktafeln an die französischen und britischen Internierten. Von den französischen und polnischen Internierten war bereits die Rede. Wie kamen aber die italienischen und britischen Internierten in die Schweiz? Im Chronikarchiv von Bauma finden wir die Übersetzung eines Dokumentes, das die Erklärung liefert.
Gedenktafeln Kirche Bauma
An der reformierten Kirche in Bauma erinnern zwei Gedenktafeln an den Aufenthalt der französischen und britischen Soldaten 1940 respektive 1944/45. Chronikarchiv Bauma
Im Brief beschreibt einer der internierten Briten wie er am 6. Juni 1942 in der Wüste bei Gazala von Libyen in Kriegsgefangenschaft geriet. Dort fand eine der grossen Wüstenschlachten im Zweiten Weltkrieg statt. Truppen der britischen achten Armee kämpften gegen die Truppen des deutschen Feldmarschalls Rommel und seine Panzerarmee Afrika. Diese wurden von italienischen Einheiten unterstützt. Die ersten sechs Monate blieb der Brite in einem Gefangenenlager in Tripoli. Danach ging es mit dem Zug über Neapel nach Rom, wo er weitere drei Monate in einem Gefangenenlager war. Im September 1943 – Italien hatte gerade den Waffenstillstand mit den Alliierten verkündet – hätte er nach Deutschland überstellt werden müssen. Weil seine Bewacher den Transportzug verpassten, mussten sie bei Pavia in Oberitalien eine Nacht im Freien übernachten. Dort gelang ihm und drei weiteren Kriegsgefangen im dichten Nebel die Flucht und so gelangten sie schliesslich in die sichere Schweiz. Bauma war eines der Zentren für britische Soldaten, denen die Flucht aus der Kriegsgefangenschaft gelang. Auf einem Gruppenbild sehen wir gegen 60 britische Soldaten in Uniform vor einem Haus im Dorf.
60 britische Soldaten in Uniform vor einem Haus in Bauma
Gegen Ende des Krieges kamen auch britische Soldaten in die Schweiz. Sie waren meist aus Kriegsgefangenschaft entflohen, darunter hatte es aber auch Flugzeug-Besatzungen von Maschinen, die in der Schweiz abgeschossen wurden oder notlanden mussten. Das Foto entstand 1944 oder 1945 in Bauma im Tösstal. Chronikarchiv Bauma
Die französischen Internierten durften bereits 1941 wieder zurück in ihre Heimat. Alle anderen blieben bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945. Die meisten der internierten Polen wollten nicht zurück in ihr Land, das nun zur sowjetischen Zone gehörte und suchten ihr Glück in der Emigration. Einige blieben auch in der Schweiz. Noch mehr zu diesem Thema auf sternenjaeger.ch.

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