Lebensmittelkarte für eine Person, Januar 1944.
Lebensmittelkarte für eine Person, Januar 1944. Schweizerisches Nationalmuseum

Lebens­mit­tel­ra­tio­nie­rung in der Schweiz

Während des Zweiten Weltkriegs brauchte es für den Kauf von Milch, Kaffee oder Zucker Coupons. Eine Geschichte aus der analogen Welt...

Bernard Degen

Bernard Degen

Bernard Degen forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Geschichte der Universität Basel.

Lebensmittelkarten gehörten für Erwachsene, die seit den späten 1930er-Jahren in der Schweiz lebten, während fast eines Jahrzehnts zu den wichtigsten Dokumenten. Nur diese auf festes Papier gedruckte Berechtigung eröffnete von Ende Oktober 1939 bis in den Sommer 1948 hinein den Zugang zu den meisten wichtigen Nahrungsmitteln. Zur Erschwerung von Fälschungen wurde sie auf kontrolliert hergestelltes Rationierungskartenpapier gedruckt. Die Karten enthielten eine sich im Laufe der Zeit ausweitende und ausdifferenzierende Anzahl von Coupons im Format 21 x 12,5 Millimeter, die sich einzeln abtrennen liessen. Diese erlaubten nicht den direkten Zugriff auf Lebensmittel, sondern verliehen nur das Recht, solche zu kaufen.
Lebensmittelcoupons vom November 1945.
Lebensmittelcoupons vom November 1945. Schweizerisches Nationalmuseum
Die Hausfrau, die als Verantwortliche für die Meisterung der Mangelwirtschaft angesprochen wurde, brauchte gegen Ende des Krieges eine kleine Verwaltung, um die Übersicht zu behalten. Die Familie eines Bahnarbeiters mit einer berufstätigen Frau sowie zwei Jugendlichen über 16 Jahre erhielt beim vollen Ausbau der Rationierung vom Bund monatlich 22 Lebensmittelkarten. Dazu kamen weitere eidgenössische Rationierungskarten für andere Güter und je nach Region auch Zusatzkarten. Insgesamt mussten landesweit monatlich bis zu 700 Millionen Konsumentencoupons verarbeitet werden. Kriegswirtschaftliche Behörden grenzten das Ergebnis ihrer Tätigkeit von den Zuständen im Ersten Weltkrieg ab, etwa Alfred Fleisch (1892-1973), Präsident der Eidgenössischen Kommission für Kriegsernährung (EKKE). 1947 schrieb er in seiner Bilanz: «Im gegenwärtigen Krieg war die EKKE immer und immer wieder bestrebt, eine ähnliche Entwicklung wie 1918 zu verhindern, und dies mit gutem Erfolg.»
Eine Hausfrau kauft während des Zweiten Weltkriegs Lebensmittel, aufgenommen im Jahr 1943.
Eine Hausfrau kauft während des Zweiten Weltkriegs Lebensmittel, aufgenommen im Jahr 1943. Keystone / Photopress-Archiv / STR
Wenngleich der Landesstreik im bürgerlichen Lager gerne als Werk bolschewistischer Agitation dargestellt wurde, waren sich viele Politiker bewusst, dass sich ein wirtschafts- und sozialpolitisches Debakel wie im Ersten Weltkrieg nicht wiederholen durfte. Das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD) begann früh mit dem Aufbau einer Kriegswirtschaft. Das Bundesgesetz über die Sicherstellung der Landesversorgung mit lebenswichtigen Gütern (Sicherstellungsgesetz) konnte schon im Sommer 1938 in Kraft treten und verlieh dem Bundesrat Kompetenzen zu Kontrollen, Vorschriften zur Lagerhaltung (Pflichtlager), Beschlagnahmungen und Enteignungen sowie zur Anordnung von Mehranbau. Ende 1938 war der Apparat betriebsbereit, ohne dass darüber breitere öffentliche Debatten stattgefunden hatten. Die Verteilung der knappen Lebensmittel erfolgte nach den Prinzipien der Kontingentierung und der Rationierung, wobei erstere für private Haushalte von untergeordneter Bedeutung blieb. Die Festlegung der Rationen orientierte sich an zwei Dimensionen, den vorhandenen Lebensmitteln und am physiologisch notwendigen Bedarf.
Lebensmittelrationierung in der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. YouTube
In einer ersten Phase wurden laufend die vorhandenen Lebensmittel erfasst. Dann errechnete man, wie viel monatlich an jede Person abgeben werden konnte. Die Ration wurde auf den Coupons der Lebensmittelkarten aufgeführt. Die Coupons liefen im Gegenkreislauf der Waren, vom Detailhändler über den Zwischenhandel zum Produzenten oder Importeur. Dort zeigte die Schlusskontrolle, ob die Coupons mit den ausgelieferten Waren übereinstimmten. Die Lebensmittelkarten wurden über die Gemeindestellen für Kriegswirtschaft an die Endverbraucher verteilt. Anfänglich liessen sie sich viele per Post zustellen; als aber eingeschriebene Briefe und damit höhere Abonnementsgebühren nötig wurden, ging die Postzustellung zurück.
Ein Umschlag für Rationierungskarten für Textilprodukte, Zucker, Schuhe...
Ein Umschlag für Rationierungskarten für Textilprodukte, Zucker, Schuhe... Schweizerisches Nationalmuseum
Als im Verlauf des Krieges die Ernährung stärker von der Rationierung geprägt wurde und zudem die Teuerung ein beachtliches Ausmass erreicht hatte, zeigte sich, dass lange nicht alle Coupons eingelöst wurden. Die soziale These, wonach vielen das Geld fehlte, gewann an Bedeutung. Eine Lösung bot die B-Karte, die statt des teuren Fleischs mehr Brot, Milch und Käse enthielt und die anstelle der normalen Lebensmittelkarte – nun A-Karte genannt – bezogen werden konnte. Sie war vor allem bei grossen Familien, Vegetariern, Alleinstehenden und Familien mit niedrigem Einkommen populär. Ab 1943 gelang es nur noch in wenigen Monaten, die für Erwachsene als nötig angesehenen 2160 Kalorien pro Tag zu erreichen. Der Tiefpunkt fiel bereits in die Nachkriegszeit, weil die Lieferketten nicht sofort wieder hergestellt werden konnten. Ab Herbst 1945 verbesserte sich die Lage erheblich, wenn auch 1946 und 1947 noch einige Monate knapp unter den 2160 Kalorien lagen. Zunehmend wurden Waren aus der Rationierung entlassen, im Juli 1948 schliesslich alle Lebensmittel. Einige blieben allerdings noch bis August 1949 kontingentiert.
Lebensmittelkarte für den Bezug von Mehl und Fett, Juli 1948.
Lebensmittelkarte für den Bezug von Mehl und Fett, Juli 1948. Schweizerisches Nationalmuseum
Die Ernährung wurde im Zweiten Weltkrieg nicht mehr wie im Ersten dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen. Auch weniger begüterte Schichten erhielten Zugang zu einer möglichst ausreichenden Ernährung. Diese wurde zwar stark durch die Verfügbarkeit der Lebensmittel geprägt, aber unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse zusammengestellt. So entstand trotz aller immer wieder kritisierten Mängel der Eindruck einer gewissen Gerechtigkeit, der sich mit zunehmendem Abstand vom Krieg verstärkte.

Karten­land Schweiz

Die Originalfassung dieses gekürzten Blogbeitrags ist im Buch «Kartenland Schweiz. Geschichten aus der analogen Welt» erschienen. Es ist 2021 im Zytglogge Verlag erschienen.

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