Kartoffelernte von Zürcher Schülerinnen und Schülern Anfang des 20. Jahrhunderts.
Schweizerisches Nationalmuseum

Die Kartoffel

Heute ist sie auf jeder Speisekarte zu finden - vor drei Jahrhunderten bescherte sie einigen Zeitgenossen grässliche Magenschmerzen. Der lange Weg der Kartoffel von der Zierpflanze zum Energielieferanten.

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer

Benedikt Meyer ist Historiker und Autor.

Glarus, 1697: Irgendwer sass auf der Toilette und hatte Bauchschmerzen. Grund dafür war eine eigenartige Pflanze, welche Söldner aus Italien mitgebracht hatten: die Kartoffel. Zum ersten Mal hatte die Pflanze aus der Neuen Welt ihren Weg in die Schweiz gefunden. Später sollte sie zu einem der wichtigsten und populärsten Nahrungsmittel werden – jetzt aber wusste man noch nicht viel mit ihr anzufangen. Man betrachtete sie als Zierpflanze, ass ihre Beeren, die grünen oder zu wenig gekochten Knollen und verdarb sich den Magen. So wurde die Kartoffel wenig kultiviert, kaum gegessen und blieb vorläufig, was sie ja ohnehin ist: ein Nachtschattengewächs. Und zwar für die nächsten Jahrzehnte.

Erst mit den Hungerkrisen von 1770/71 und 1816/17 besserte sich der Ruf der Knolle: Man erkannte, dass sie weniger sensibel ist und höhere Flächenerträge als Getreide liefert. Allerdings erforderte sie auch viel Dünger, noch mehr Arbeit und bedrohte den Getreidezehnten. Deshalb startete die Kartoffel erst im 19. Jahrhundert so richtig durch. Ohne sie wäre die schnell wachsende Unterschicht des Industriezeitalters kaum zu ernähren gewesen. Auch in der Vieh- und Schweinemast setzte man nun zusehends auf Kartoffeln und in manchen Gegenden entstand gar eine problematische Abhängigkeit. In den 1840er-Jahren wütete die Kartoffelfäulnis, verursachte Ernteausfälle und trieb viele Leute in die Emigration, insbesondere nach Russland und Übersee.

Kartoffelstock wurde schnell zu einem beliebten Fertigprodukt.
Schweizerisches Nationalmuseum

Kartoffelchips sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein beliebter Snack.
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Der Siegeszug der Kartoffel war trotzdem nicht aufzuhalten, insbesondere Rösti wurde immer beliebter. Zunächst als Bauernfrühstück, später auch als währschafte Speise für die Oberschicht. Sie avancierte zu einem Klassiker und Identitätsstifter der Schweizer Küche und wurde wohl auch während des Zweiten Weltkriegs häufig aufgetischt. Für die «Anbauschlacht» wurden auch in Blumenbeeten, auf Fussballfeldern, auf der Sechseläutenwiese und sogar direkt neben dem Bundeshaus Kartoffeln angepflanzt. Die Produktion wurde damit verdreifacht.

Nach dem Krieg ging der Pro-Kopf-Konsum langsam wieder zurück. Pasta und Reis waren neu, exotisch und oft einfacher und schneller zubereitet. Dabei war die Kartoffel eigentlich auch beim Trend zur schnellen Zubereitung zunächst führend. In der Küche der Nachkriegszeit war der fixfertige Kartoffelstock zum Anrühren wohl der erste und erfolgreichste Convenience-Food. Von den seit 1950 produzierten Kartoffelchips ganz zu schweigen.

Bauernfamilie Bosshard bei der Kartoffelernte, um 1945.
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Was in der Schweiz Ende des 17. Jahrhunderts als Zierpflanze begann, sorgte später für wohlig volle Bäuche. Und inzwischen weiss man auch, was dem armen Tropf mit den Bauchschmerzen geholfen hätte: ein Kartoffelschnaps für die Verdauung.

Geschichte der Kartoffel.
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