Die Schweizer Rollstuhl-Athletin und mehrfache paralympische Goldmedaillen-Gewinnerin Edith Wolf-Hunkeler (Mitte). Hier in einem Rennen an den Paralympics in London 2012.
Die Schweizer Rollstuhl-Athletin und mehrfache paralympische Goldmedaillen-Gewinnerin Edith Wolf-Hunkeler (Mitte). Hier in einem Rennen an den Paralympics in London 2012. Wikimedia / Sport the Library

Wettkampf auf Rädern: Der Rollstuhl­sport als Integrationsmodell?

Es ist heute selbstverständlich, dass nach den Olympischen Spielen die Paralympics stattfinden, an denen Menschen mit Behinderungen antreten. Doch erst seit 1988 sind die beiden Sportanlässe untrennbar miteinander verbunden. Ein Blick in die Geschichte des Behindertensports.

Michael Jucker

Michael Jucker

Michael Jucker ist Sporthistoriker, Leiter von Swiss Sports History und Co-Leiter des FCZ-Museums.

Unvergesslich sind die TV-Bilder des völlig ausgepumpten, aber überglücklichen Heinz Frei, der an den Paralympics (2020) in Tokio am 1. September 2021 die Silbermedaille im Handbike-Strassenrennen holt: Es ist seine 35. olympische Medaille zum Karriereende mit 63! Genauso einprägsam sind der Sieg von Marcel Hug im Marathon und die Silbermedaille von Manuela Schär. Doch woher kommen solche Erfolge und wie hat sich der Sport für Menschen im Rollstuhl überhaupt entwickelt? Welche Faktoren spielten da eine Rolle? War und ist dies ein geradliniger Weg der Integration? Dieser Beitrag geht der Geschichte des Rollstuhlsports in seiner internationalen und schweizerischen Entwicklung nach. Er beschränkt sich auf den Rollstuhlsport, weil mit ihm der Behindertensport begann und er für die Entwicklung der Paralympics zentral war. Menschen mit Behinderungen erlebten lange und teilweise immer noch Ausschluss. Sei es im täglichen Leben durch Barrieren baulicher Art, aber auch durch Vorurteile und Beschimpfungen, falsches Mitleid und schwierige allgemeine Bedingungen in der Berufswelt. Vieles hat sich zum Besseren gewandelt, ist aber längst nicht gut. Der Sport bot nicht immer die heutige Offenheit, im Verlauf der Geschichte gab es immer auch Möglichkeiten der Teilhabe.
Die Geschichte der paralympischen Bewegung. YouTube / Paramlympic Games
Angefangen hat es eigentlich mit einem Krieg: Der Zweite Weltkrieg tobte noch, als am 1. Februar 1944 in Stoke Mandeville (GB) das erste Paraplegiker-Zentrum der Welt eröffnet wurde – gegründet von Sir Ludwig Guttmann, ursprünglich Deutscher, der 1939 nach England floh. Gross war die Anzahl an kriegsversehrten Patienten. Guttmann verfolgte dabei das Ziel, die Para- und Tetraplegiker/innen wieder zu integrieren. Dabei kam dem Sport eine wichtige Rolle zu: Sport sollte der Aktivierung von Lebensfreude (viele waren traumatisiert) und der körperlichen, spielerischen Leidenschaft dienen. Ganz nach englischem Muster: Der Sport prägt das Selbstvertrauen, die Disziplin und den fairen Wettkampfgeist. Die Kriegsmedizin war damals anders ausgerichtet: wer nicht wieder Kriegsdienst leisten konnte, galt als «Invalid» und sollte nicht noch mit Sport unnötige Ressourcen verschleissen. Deshalb hatte Guttmann von Anfang an einen schweren Stand. Doch er setzte sich durch.
Sir Ludwig Guttmann (1899-1980), Vater der paralympischen Spiele.
Sir Ludwig Guttmann (1899-1980), Vater der paralympischen Spiele. Wikimedia
Bereits 1948 organisierte Guttmann sportliche Wettbewerbe, die so genannten «Stoke Mandeville Games for the Paralysed». Bewusst wählte Guttmann dasselbe Datum wie für die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in London: den 28. Juli. Dahinter stand der Gedanke, dass in Zukunft die Mandeville Games auch Teil der olympischen Bewegung würden. Diese Entwicklung verlief jedoch keineswegs reibungslos. Die Spiele wurden jährlich wiederholt und zunehmend populär. 1952 kamen erstmals holländische Sportlerinnen und Sportler nach Mandeville. Die Wettkämpfe bekamen deshalb ab 1953 den Zusatz «International Games». Der Rollstuhlsport beschränkte seine internationalen Spiele noch lange auf die Sommersportarten. 1960 wurden die Wettkämpfe direkt anschliessend an die Olympischen Sommerspiele in Rom an denselben Sportstätten durchgeführt. Diese Koppelung führte zu mehr Aufmerksamkeit und war eine bewusste Nutzung von Synergien unter olympischen Rahmenbedingungen: Die ersten Paralympics waren geboren. Nun sollten diese äquivalent zu den Olympischen Spielen der «Fussgänger», alle vier Jahre durchgeführt werden.
Die Schweizer Delegation an den Paralympics 1960 in Rom.
Die Schweizer Delegation an den Paralympics 1960 in Rom. Wikimedia
Doch der Weg in die Zukunft war beschwerlich. Die räumliche Zusammenführung mit den seit 1896 bestehenden Olympischen Spielen der «Fussgänger» war nicht immer gegeben. Gesellschaftsvorstellungen und die Politik bremsten die Entwicklung mehrfach aus: 1968 in Mexiko weigerte sich die Regierung; in München 1972 war die bauliche Fehlplanung des olympischen Dorfes dafür verantwortlich, dass kurzfristig nach Heidelberg umdisponiert werden musste. An den Olympischen Sommerspielen in Moskau 1980 war die Ablehnung politischer Natur: Im sowjetischen Denksystem existierten «Invalide» nicht. Vermutlich spielte aber auch die Tatsache eine Rolle, dass die Paralympics bislang von den Westmächten durchgeführt wurden und die «normalen» Spiele in der Sowjetunion boykottiert wurden. Doch auch die USA stand in Sachen Diskriminierung dem Ostblock in Nichts nach: Der olympische Austragungsort Los Angeles argumentierte 1984, dass der Behindertensport nicht in sein professionelles Image passe. Die Wettbewerbe im Rollstuhlsport wurden kurzfristig in Stoke Mandeville durchgeführt, während gleichzeitig die anderen Behindertensportarten auf einen Vorort New Yorks ausweichen mussten. Erst 1988 in Seoul und dann 1992 in Barcelona gelang die endgültige Zusammenführung und vor allem auch der sportpolitische Durchbruch. Staaten, die Olympische Spiele durchführen wollen, sind mittlerweile auch zur Veranstaltung der Paralympics verpflichtet. Dies hat eine positive Wirkkraft: Die Publikumszahlen steigen an; die Übertragung und mediale Berichterstattung wurden besser und nehmen stetig zu. Die Erfolge der Schweizerinnen und Schweizer im Behindertensport lassen sich, wie eingangs erwähnt, sehen. Interessant ist, dass die Schweiz schon früh im Behindertensport aktiv war. Dies, obwohl die Schweiz keine Geschichte der Kriegsversehrten hatte. Schon 1956 reiste eine Schweizer Delegation nach Stoke Mandeville. In Rom 1960 waren bereits 60 Athletinnen und Athleten dabei und Denis Favre holte im Schwimmen die erste Schweizer Goldmedaille. Typisch für die Schweiz war und ist, dass neben der langanhaltenden Förderung durch das Bundesamt für Sport, stets ein Milizsystem parallel dazu existierte: Es gibt zahlreiche Verbände wie «ProcapSport» und «Plusport Behindertensport Schweiz», oder die «Schweizer Paraplegiker Vereinigung», die der Paraplegiker Stiftung angegliedert ist. Diese vertraten ihre sportpolitischen Interessen erfolgreich und organisieren auch internationale und nationale Wettkämpfe.
Die Paraplegiker der Region Zürich beim Training für die Paralympics in Tel Aviv 1969. SRF
Doch auch in der Schweiz verlief nicht alles reibungslos: Lange wehrte sich der bereits 1960 gegründete «Schweizerische Verband für Invalidensport» gegen wettkampfmässige Sportveranstaltungen, die angeblich schädliche Auswirkungen hätten: Sport sollte lediglich der Gesundheit der Behinderten förderlich sein. Die zunehmende Professionalisierung auf allen Ebenen war jedoch nicht zu stoppen. Mit den internationalen Erfolgen kamen auch die stärkere Förderung und mediale Aufmerksamkeit. Ein weiterer Baustein zur verstärkten Anerkennung und zur sportlichen Weiterentwicklung war sicher auch, dass grundsätzlich Mittel und Möglichkeiten der technischen Innovation vorhanden waren. In einem Land der Tüftler und Ingenieurinnen und durch das fortschrittliche Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil (1990) war dies einfacher möglich als in anderen Ländern. Gerade im Rollstuhlsport ist technische Innovation ein Wettkampfvorteil. Die Topzeiten von Manuela Schär, Edith Wolf-Hunkeler, Marcel Hug, Heinz Frei und weiteren Athletinnen und Athleten sind auch aufgrund der individuellen Einzelanfertigung von allerbesten Rollstühlen möglich.
Die Schweizer Delegation an den Paralympics 2016 in Rio.
Die Schweizer Delegation an den Paralympics 2016 in Rio. Wikimedia
Bericht über die Erfolge der Schweizer Delegation an den Paralympics in Atlanta 1996, mit einem Interview mit Edith Hunkeler, die spätere siebenfache paralympische Sportlerin des Jahres. SRF
Der Rollstuhlsport und mit ihm der Behindertensport ist in der Schweiz angekommen und breit anerkannt. Gleichwohl sind noch Diskriminierungsformen vorhanden. Noch immer existieren Sportanlagen mit Barrieren. Bis heute ist der Behindertensport weniger stark gefördert als der «Fussgängersport». Warum eigentlich? Und eine weitere Parallele besteht: Frauen verdienen weniger, erhalten weniger Förderung und geringere mediale Aufmerksamkeit, dies obwohl sie genauso oft trainieren, ihre Zeit und Energie investieren und zahlreiche nationale und internationale Triumphe feiern. Sinnbild dafür ist, dass an den Schweizer Sports Awards in der Kategorie paralympische Sportlerinnen und Sportler (seit 1987) nur ein einziger Preis verliehen wird: entweder für eine Frau oder einen Mann. Entsprechend seltener wurden Frauen gekürt (Frauen 8 Mal, Männer 27 Mal). Während bei den Sportarten der Nichtbehinderten seit 1971 sowohl jeweils eine Sportlerin als auch ein Sportler den Preis erhalten. Warum eigentlich?

Swiss Sports History

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Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Swiss Sports History, dem Portal zur Schweizer Sportgeschichte, entstanden. Die Plattform bietet schulische Vermittlung sowie Informationen für Medien, Forschende und die breite Öffentlichkeit. Weitere Informationen finden Sie unter sportshistory.ch.

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