Szene aus dem Film «Gilberte de Courgenay» mit Anne-Marie Blanc. 
Szene aus dem Film «Gilberte de Courgenay» mit Anne-Marie Blanc. Schweizerisches Nationalmuseum

Der «Gilberte-Mythos» lebt weiter

Auch im Zweiten Weltkrieg schweisste Gilberte Montavon die Schweiz zusammen. Nun nicht mehr persönlich, sondern auf der Theaterbühne, im Buchladen und auf der Kinoleinwand.

Beat Kuhn

Beat Kuhn

Beat Kuhn ist Regionalredaktor beim Bieler Tagblatt und bereitet dort gelegentlich auch spannende Geschichten aus der Geschichte auf.

Webseite: Bieler Tagblatt
Im Zweiten Weltkrieg lebte der «Mythos Gilberte» wieder auf. Für die Wiederbelebung verantwortlich war zunächst der Basler Schriftsteller Rudolph Bolo Mäglin, ein linksliberaler Vertreter der sogenannten geistigen Landesverteidigung. Bei Recherchen in verschiedenen Teilen des Landes hätten ihm «alte Troupiers» mit leuchtenden Augen Anekdoten aus ihren jurassischen Grenzbesetzungstagen erzählt, schrieb Mäglin später. Ausserdem hätten ihm die zahlreichen Gespräche, die er geführt habe, gezeigt, «dass ‹la petite Gilberte› lebendiger als je in rührender Erinnerung steht».
Gilberte Montavon im Gespräch mit einem Offizier, um 1915.
Gilberte Montavon im Gespräch mit einem Offizier, um 1915. Schweizerisches Nationalmuseum
Was er hörte, verflocht Mäglin zunächst zu einem Bühnenstück mit dem Titel «Gilberte de Courgenay». Dieses erlebte am 24. August 1939 – also eine Woche vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – im Zürcher Schauspielhaus seine Uraufführung. Die acht Vorstellungen im Schauspielhaus waren alle umgehend ausverkauft. Es folgten 125 Vorstellungen im grossen Zürcher Kino Corso, 80 in Basel, 50 in St. Gallen sowie weitere in der ganzen Schweiz. Insgesamt brachte es das Stück auf über 450 Aufführungen. Nach diesem Grosserfolg verwendete Mäglin die mit einer frei erfundenen Romanze ausgeschmückte Geschichte der Gilberte auch noch für einen Roman mit dem gleichen Titel. Den publikumswirksamen Stoff auch noch zu verfilmen, brauchte dann weiss Gott keine Risikobereitschaft mehr. Mut bewies Produzent Lazar Wechsler von der Praesens-Film allerdings trotzdem. Denn für die Regie verpflichtete er den Burgdorfer Franz Schnyder, der bis dahin lediglich als Theaterregisseur bekannt war.
Und die Hauptrolle gab er der Nachwuchsschauspielerin Anne-Marie Blanc, die zuvor erst in «Wachtmeister Studer» von Friedrich Glauser und «Die missbrauchten Liebesbriefe» von Gottfried Keller Filmrollen gespielt hatte. Wobei sie ursprünglich nicht für die Titelrolle, sondern nur für die Nebenrolle der Tilly vorgesehen gewesen war und den Text der Gilberte erst noch hinzulernen musste, wie sie einmal erzählte. Seither stellt man sich unter Gilberte gemeinhin Anne-Marie Blanc vor, während kaum jemand weiss, wie die echte Gilberte ausgesehen hat und wie sie war.
Gilberte Montavon, das Original auf einem Bild von 1915.
Gilberte Montavon, das Original auf einem Bild von 1915. notrehistoire.ch
Gilberte de Courgenay im gleichnamigen Film dargestellt von Anne-Marie Blanc.
Gilberte de Courgenay im gleichnamigen Film dargestellt von Anne-Marie Blanc. Schweizerisches Nationalmuseum
Der Plot des Films: 1915 bezieht eine Kompanie aus der Deutschschweiz in Courgenay Stellung. Soldaten und Offiziere verfallen schnell dem Charme der hübschen und hilfsbereiten Gilberte. Aufgrund der Anordnung, dass sie auch die Weihnachtszeit in Courgenay verbringen müssen, macht sich Empörung breit. Vor allem Kanonier Peter Hasler (Erwin Kohlund) ist traurig. Er hat sich in Tilly verliebt, die Tochter des reichen Hoteliers Friedrich Odermattt (Heinrich Gretler), und schreibt ihr immer wieder Liebesbriefe. Antwort erhält er allerdings nie – weil Odermatt, der diese unstandesgemässe Beziehung ablehnt, die Briefe abfängt. Gilberte versucht, Hasler zu trösten und aufzubauen. Dabei entspinnt sich zwischen den beiden ein dezentes Liebesverhältnis. Als Tilly von den Machenschaften ihres Vaters Wind bekommt, fährt sie umgehend nach Courgenay. Dort platzt sie mitten in die Weihnachtsfeier, an der Hasler gerade das Lied anstimmt, das er zur Ehre von Gilberte komponiert hat. Tilly spürt, dass zwischen Hasler und Gilberte etwas läuft, und ist verzweifelt. Doch Gilberte verzichtet selbstlos auf Hasler. Als die Soldaten abziehen, steht sie mit Tränen in den Augen am Fenster.
Ein Lied, ganz für Gilberte alleine. Filmausschnitt des Streifens von 1941. SRF
Nur in einer Passage konfrontiert der Film das Publikum mit dem Grauen des Krieges: Ein sogenannter Kriegsverwundetenzug des Roten Kreuzes auf der Fahrt von Verdun nach Konstanz macht in Courgenay Halt. Als Gilberte und Hasler im Zug Suppe verteilen, erkennen sie: So sieht der Krieg wirklich aus.

Handkuss vom General

Bei den Dreharbeiten im Winter 1940/41 dienten in Courgenay selbst lediglich der Bahnhof und die katholische Kirche als Kulisse. Von aussen ist das Hotel bei den Bahnhofszenen gelegentlich am Rande zu erkennen. Die Innenaufnahmen sind aber nicht im echten Restaurant gedreht worden. Die Aussenaufnahmen mit Militär wurden übrigens alle bei Lignières oberhalb des Bielersees gemacht. Der Premiere im April 1941 in Zürich, der auch mehrere Bundesräte beiwohnten, ging aufgrund der Zensur, wie sie zu Kriegszeiten üblich war, eine Visionierung durch die Armeespitze voraus. Anne-Marie Blanc erzählte mal, dass General Henri Guisan sie anschliessend zum Bahnhof begleitet und mit einem Handkuss verabschiedet habe. «Diese Hand», so Blanc, «habe ich eine Woche lang nicht mehr gewaschen.» Obwohl der Film sicherlich kein Meisterwerk ist, wurde er zu einem der grössten Erfolge der Schweizer Filmgeschichte überhaupt und zu einem Pfeiler der geistigen Landesverteidigung. Für Anne-Marie Blanc bedeutete die Rolle den Durchbruch.
Postkarte von General Guisan.
Postkarte von General Guisan. Schweizerisches Nationalmuseum
Im selben Jahr kam auch der Film «S’Margritli und d’Soldate» heraus. Er wirkt wie eine Kopie von «Gilberte de Courgenay». Denn darin geht es um Marguerite, die Tochter des Dorfwirtes von Estavayer am Neuenburgersee, die von den Soldaten als Helferin und Trösterin verehrt wird. Dieser Film ist allerdings vergessen – bis auf das Lied «Margritli» mit dem herzerwärmenden Refrain «Margritli, i lieb di vo Härze mit Schmärze». Die Geschwister Schmid, die es im Film sangen, traten später sogar in Las Vegas auf, als «Trio Shmeed» oder «Happy Yodlers». Teddy Stauffer, der es komponiert hatte, wanderte 1944 nach Acapulco in Mexiko aus, das damals ein Fischerdorf mit 8000 Bewohnern war. Er wurde Manager mehrerer bekannter Hotels, vermochte Hollywood-Prominenz anzulocken und machte den Ort weltberühmt.
Das Trio Shmeed vermischte moderne Rhythmen mit Jodelelementen. YouTube
Gilberte Montavon lernte nach dem Ersten Weltkrieg im Tessin den St. Galler Kaufmann Ludwig Schneider kennen und lieben – der nie in Courgenay stationiert gewesen war. Im Jahre 1923 folgte die Heirat und bald darauf die Geburt einer Tochter. Die Familie wohnte in Zürich, ihr Mann wurde später Jelmoli-Direktor. Auch im zivilen Leben ging sie immer auf die Leute zu und war hilfsbereit. Darum hatte sie auch einen grossen Bekanntenkreis. Am 2. Mai 1957 starb Gilberte Schneider-Montavon im Alter von 61 Jahren an Krebs. Beigesetzt ist sie auf dem Friedhof Nordheim in Zürich. Das Grab ist nicht wie üblich nach 20 Jahren aufgehoben worden, sondern besteht noch immer, weil Gilberte zu den prominenten Bestatteten gehört.
Dieser Artikel wurde vom Bieler Tagblatt übernommen. Er ist dort am 10. Juli 2020 unter dem Titel «Wie eine Kellnerin zum Mythos wurde» publiziert worden. Lesen Sie hier, wie der «Gilberte-Mythos» im Ersten Weltkrieg entstanden ist.

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