
Zeuge des Niedergangs
Abseits des Rampenlichts gibt es Menschen, deren Leben von der Weltgeschichte geprägt ist. Sie sind Sandkörner, ohne die die Geschichte anders verlaufen wäre. Genau so ein Fall ist der Genfer Schriftsteller Jacques Chenevière.
In Genf baute sich Jacques als junger Dandy aus der französischen Hauptstadt ein erlesenes Umfeld auf und versammelte einen Grossteil der Jungschriftsteller der ersten Vorkriegszeit, internationale Künstler, jedoch auch die Mächtigen der Aristokratie, insbesondere grosse Kunst- und Literaturliebhaberinnen wie die Fürstin von Metternich oder die Gräfin von Pourtalès, um sich. Innerhalb weniger Jahre entstand zwischen Paris und der Westschweiz ein regelrechter Autoren- und Künstlerzirkel, dem auch zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer angehörten: Gonzague de Reynold, Guy de Pourtalès, Robert de Traz, Igor Stravinsky, Denis de Rougemont, François Mauriac, Leon Paul Fargue, Jacques de Lacretelle, der Gitarrist Andrés Segovia Torres oder auch der Maler André Albert Marie Dunoyer de Segonzac. Sie alle einte die Zuneigung zu diesem lebendigen jungen Mann, der ihre Herzen erobert hatte.


In diesem Jahr engagierten sich Jacques und sein Vater bei der unter Gustav Ador, dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), gegründeten Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene. So verbrachte Jacques die vier Kriegsjahre innerhalb der Mauern des Musée Rath in der lebhaften Atmosphäre der Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene, einer «waschechten «Fabrik» mit tausendzweihundert Arbeitern, einer immensen Kartei, offiziellen Listen, Untersuchungsakten, unzähligen Berichten von Delegierten, einer unaufhörlichen Korrespondenz mit den Behörden und den Stellen des Roten Kreuzes in fast allen Staaten der Welt».


Niemand anders als Jacques Chenevière wäre damals besser geeignet gewesen, um die von Robert de Traz 1920 gegründete Revue de Genève, Sinnbild der Verständigung, wieder zu beleben: Er, ein Mann von Welt mit einem Netzwerk, das sich von den Literatursalons in Paris bis hin zu den gedämpften Gängen des Völkerbundes erstreckte. Man könnte sogar behaupten, dass die Revue, der Robert de Traz sein vom «Genfer Esprit» inspiriertes europafreundliches Ideal eingehaucht hatte, ohne Jacques weder internationale Bedeutung erlangt hätte noch zu einem Gefäss für lange Debatten über die Probleme, die die internationale Gemeinschaft spalteten, geworden wäre.

Als sich im September 1938 die Dunkelheit erneut über die Welt breitete, übernahm Jacques die Leitung der Kriegskommission – nur wenige Tage bevor die Tschechoslowakei das Sudetenland an Hitler abtreten musste. Deutschland hatte sechs Monate zuvor bereits Österreich verschlungen, die Konferenz von Évian vom Juli mit dem Ziel, den jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland zu helfen, war gescheitert und das Rote Kreuz ging aufgrund der Ereignisse, aber auch aufgrund der Gerüchte auf den Gängen des Palais Wilson vom Schlimmsten aus. Die Geschichte würde dem Recht geben. Wieder stand der Kriegsausbruch kurz bevor. Das Rote Kreuz nahm die Katastrophe vorweg, indem es sich die Unterstützung von genügend Mitarbeitenden und die nötigen Lokalitäten sicherte, um die Zentralstelle für Kriegsgefangene erneut betreiben zu können.

Nach einem aussergewöhnlich intensiven Leben als Zeuge der Katastrophen seiner Zeit, massgeblicher Akteur des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Jurymitglied des 1951 von Fürst Rainier III. ins Leben gerufenen Literaturpreises von Monaco an der Seite von Marcel Pagnol und Georges Duhamel, 1959 ausgezeichnet mit dem Schiller-Preis und 1968 mit dem Prix du Rayonnement de la langue et de la littérature françaises der französischen Akademie starb Jacques Chenevière am 22. April 1976 im Alter von 90 Jahren.
