Jacques Chenevière, gemalt von Jean-Louis Gampert, 1924.
Jacques Chenevière, gemalt von Jean-Louis Gampert, 1924. Bibliothèque de Genève

Zeuge des Niedergangs

Abseits des Rampenlichts gibt es Menschen, deren Leben von der Weltgeschichte geprägt ist. Sie sind Sandkörner, ohne die die Geschichte anders verlaufen wäre. Genau so ein Fall ist der Genfer Schriftsteller Jacques Chenevière.

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier

Christophe Vuilleumier ist Historiker und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte. Er hat verschiedene Beiträge zur Schweizer Geschichte des 17. und 20. Jahrhunderts publiziert.

Jacques Chenevière wurde 1886 in Paris in eine angesehene Familie hineingeboren. Schon lange hatten sich seine Eltern in der französischen Hauptstadt niedergelassen, wo sein Vater Adolphe einer der beliebtesten Genfer Schriftsteller war. So kam Jacques schon in seiner Jugendzeit unweigerlich mit den meisten grossen Pariser Intellektuellen jener Zeit in Berührung, die bei seinen Eltern ein und aus gingen. Er lernte die Gesetze und Umgangsformen einer Welt kennen, die von künstlerischer Leidenschaft, politischer Satire und gesellschaftlicher Polemik durchdrungen war, traf sich gelegentlich mit Proust und Liane de Pougy und lernte bald Sarah Bernhardt kennen, mit der ihn eine enge Freundschaft verbinden sollte. Im Alter von 20 Jahren veröffentlichte er seine ersten Verse in der Revue de Paris. In Genf baute sich Jacques als junger Dandy aus der französischen Hauptstadt ein erlesenes Umfeld auf und versammelte einen Grossteil der Jungschriftsteller der ersten Vorkriegszeit, internationale Künstler, jedoch auch die Mächtigen der Aristokratie, insbesondere grosse Kunst- und Literaturliebhaberinnen wie die Fürstin von Metternich oder die Gräfin von Pourtalès, um sich. Innerhalb weniger Jahre entstand zwischen Paris und der Westschweiz ein regelrechter Autoren- und Künstlerzirkel, dem auch zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer angehörten: Gonzague de Reynold, Guy de Pourtalès, Robert de Traz, Igor Stravinsky, Denis de Rougemont, François Mauriac, Leon Paul Fargue, Jacques de Lacretelle, der Gitarrist Andrés Segovia Torres oder auch der Maler André Albert Marie Dunoyer de Segonzac. Sie alle einte die Zuneigung zu diesem lebendigen jungen Mann, der ihre Herzen erobert hatte.
Jacques Chenevière in Triest, um 1910.
Jacques Chenevière in Triest, um 1910. Bibliothèque de Genève
Jacques Chenevière (in der Mitte) mit dem Genfer Schriftsteller Guy de Pourtalès (hinten am Steuerrad).
Jacques Chenevière (in der Mitte) mit dem Genfer Schriftsteller Guy de Pourtalès (hinten am Steuerrad). Fonds Guy de Pourtalès, CLSR, Université de Lausanne
Unter den Augen seiner Zeitgenossen nahm Jacques die literarische Arbeit auf. Inspiriert wurde er dabei vor allem auf seinen Reisen. Von der Adria über die Karpaten bis zum Schwarzen Meer und von Triest bis Konstantinopel labte er sich nach Lust und Laune an den vor seinen Augen vorüberziehenden Horizonten, bis er 1913 eines seiner ersten Essays, La Chambre et le jardin, schrieb. An den Ufern des Bosporus suchte Jacques Zerstreuung in den orientalischen Gässchen des von Türken, Armeniern und Levantinern bevölkerten Balat-Viertels und durchstreifte die europäischen Strassen des Stadtteils Pera, wo er regelmässig die Kunstsalons und Theater besuchte – Treffpunkte für französische und britische Journalisten und Intellektuelle. Die meisten seiner Werke jedoch schrieb Jacques in seiner vertrauten Umgebung zwischen Wettstreit und Nacheiferung am Ufer des Genfersees. Viele Intellektuelle seines Kreises arbeiteten für dieselben Literaturzeitschriften und so gab es hitzige Diskussionen, Festessen bis in die frühen Morgenstunden und Segeltörns auf dem See. Nur wenige von ihnen nahmen allerdings den üblen Geruch des Kriegs wahr, der 1914 in einer heiteren Apokalypse ausbrach und sich innert nur weniger Wochen in ein unsägliches Schlachten wandelte. In diesem Jahr engagierten sich Jacques und sein Vater bei der unter Gustav Ador, dem Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), gegründeten Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene. So verbrachte Jacques die vier Kriegsjahre innerhalb der Mauern des Musée Rath in der lebhaften Atmosphäre der Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene, einer «waschechten «Fabrik» mit tausendzweihundert Arbeitern, einer immensen Kartei, offiziellen Listen, Untersuchungsakten, unzähligen Berichten von Delegierten, einer unaufhörlichen Korrespondenz mit den Behörden und den Stellen des Roten Kreuzes in fast allen Staaten der Welt».
Jacques Chenevière (links) mit seiner Co-Direktorin Marguerite Cramer und dem Archivar Étienne Clouzot in der Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene.
Jacques Chenevière (links) mit seiner Co-Direktorin Marguerite Cramer und dem Archivar Étienne Clouzot in der Internationalen Zentralstelle für Kriegsgefangene. Wikimedia / IKRK
Die 1200 Freiwilligen der Zentralstelle für Kriegsgefangene des Roten Kreuzes, 1914.
Die 1200 Freiwilligen der Zentralstelle für Kriegsgefangene des Roten Kreuzes, 1914. Bibliothèque de Genève
Jacques arbeitete ohne Unterlass, vernachlässigte dafür auch das Schreiben und übernahm nach 1918 die heikle Aufgabe, Kriegsgefangene verschiedener Nationalitäten zu repatriieren. Am 6. November 1919 wurde er Mitglied des IKRK und übernahm dann die Leitung der Services de l'Entente, bevor er 1923 zum Generaldirektor des IKRK ernannt wurde. Niemand anders als Jacques Chenevière wäre damals besser geeignet gewesen, um die von Robert de Traz 1920 gegründete Revue de Genève, Sinnbild der Verständigung, wieder zu beleben: Er, ein Mann von Welt mit einem Netzwerk, das sich von den Literatursalons in Paris bis hin zu den gedämpften Gängen des Völkerbundes erstreckte. Man könnte sogar behaupten, dass die Revue, der Robert de Traz sein vom «Genfer Esprit» inspiriertes europafreundliches Ideal eingehaucht hatte, ohne Jacques weder internationale Bedeutung erlangt hätte noch zu einem Gefäss für lange Debatten über die Probleme, die die internationale Gemeinschaft spalteten, geworden wäre.
Der Schriftsteller François Mauriac zu Besuch bei Jacques Chenevière in seiner Villa Hauterive in Cologny am Genfersee, 1928.
Der Schriftsteller François Mauriac zu Besuch bei Jacques Chenevière in seiner Villa Hauterive in Cologny am Genfersee, 1928. Bibliothèque de Genève, Fonds Chenevière
Obwohl der reiselustige Schriftsteller zwischen seinen Einsätzen und Salons wieder die Zeit zum Schreiben gefunden und 1926 Daphné ou l’Ecole des sentiments veröffentlicht hatte, war er zu stark in die grossen Ereignisse seiner Zeit eingebunden, um produktiv zu sein. So beteiligte sich Jacques an den Bemühungen zur Beendigung des Chacokriegs von 1932 bis 1935, einem der mörderischsten Kriege aller Zeiten, der als Testumgebung für neue Waffen und Einsatztaktiken diente. Auch bei den Lösungsversuchen des Konflikts um den Einmarsch in Abessinien 1936 und des Spanischen Bürgerkriegs war er aktiv. Als sich im September 1938 die Dunkelheit erneut über die Welt breitete, übernahm Jacques die Leitung der Kriegskommission – nur wenige Tage bevor die Tschechoslowakei das Sudetenland an Hitler abtreten musste. Deutschland hatte sechs Monate zuvor bereits Österreich verschlungen, die Konferenz von Évian vom Juli mit dem Ziel, den jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland zu helfen, war gescheitert und das Rote Kreuz ging aufgrund der Ereignisse, aber auch aufgrund der Gerüchte auf den Gängen des Palais Wilson vom Schlimmsten aus. Die Geschichte würde dem Recht geben. Wieder stand der Kriegsausbruch kurz bevor. Das Rote Kreuz nahm die Katastrophe vorweg, indem es sich die Unterstützung von genügend Mitarbeitenden und die nötigen Lokalitäten sicherte, um die Zentralstelle für Kriegsgefangene erneut betreiben zu können.
Die Zentralstelle für Kriegsgefangene im Genfer Bâtiment électoral nach dem Zweiten Weltkrieg, 1946.
Die Zentralstelle für Kriegsgefangene im Genfer Bâtiment électoral nach dem Zweiten Weltkrieg, 1946. Wikimedia / Nationaal Archief
Dabei übernahm Jacques Chenevière den Vorsitz der Zentralkommission mit der Aufgabe, sämtliche Organe des IKRK zu verwalten, und übernahm zwangsläufig die Kommission für Gefangene, Internierte und Zivilpersonen. Auch nach Kriegsende blieb Chenevière der Institution treu. 1945 wurde er Vizepräsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und Mitglied der Sicherheitskommission und übernahm gleichzeitig die Leitung der Delegationskommission. 1959 wurde er zudem zum Ehren-Vizepräsidenten des IKRK ernannt. Jedoch sollte er nicht mehr so stark eingebunden sein wie zuvor. Denn obwohl er trotz der schwer lastenden Verantwortung 1935 Connais ton cœur und 1943 Les Captives veröffentlichen konnte, 1941 als Jurymitglied für den 1936 von Albert Mermoud in Lausanne geschaffenen Prix de la Guilde du Livre fungierte, fehlte ihm die so dringend benötigte Ruhe für das Schreiben. Vor allem machte sich Erschöpfung bemerkbar. Nach einem aussergewöhnlich intensiven Leben als Zeuge der Katastrophen seiner Zeit, massgeblicher Akteur des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Jurymitglied des 1951 von Fürst Rainier III. ins Leben gerufenen Literaturpreises von Monaco an der Seite von Marcel Pagnol und Georges Duhamel, 1959 ausgezeichnet mit dem Schiller-Preis und 1968 mit dem Prix du Rayonnement de la langue et de la littérature françaises der französischen Akademie starb Jacques Chenevière am 22. April 1976 im Alter von 90 Jahren.
Jacques Chenevière im Alter von 82 Jahren, 1968.
Jacques Chenevière im Alter von 82 Jahren, 1968. Wikimedia / IKRK

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