Pietro Morettini war Ende des 17. Jahrhunderts ein gefragter Festungsbauer. Illustration von Marco Heer
Pietro Morettini war Ende des 17. Jahrhunderts ein gefragter Festungsbauer. Illustration von Marco Heer

Der Festungs­bau­er aus dem Sopraceneri

Pietro Morettini war als «Schutzpatron» in ganz Europa aktiv. Der Festungsbauer aus dem Süden der Eidgenossenschaft arbeitete für verschiedene Herrscher und genoss hohes Ansehen. Nur in der Heimat war er ein eher unbekannter Zeitgenosse.

Raphael Rues

Raphael Rues

Raphael Rues ist Historiker und spezialisiert auf das Tessin und die deutsch-faschistische Präsenz in Norditalien.

Pietro Morettini ist eine Rarität, denn er ist eine der wenigen Ingenieur- und Architektenfiguren des Sopraceneri. Die meisten über die Landesgrenzen hinaus bekannten Namen stammen aus dem Sottoceneri: Solari, Pelli, Trezzini... Aber war Morettini überhaupt ein Tessiner? Jein. Bis 1798 war die Leventina ein Untertanengebiet von Uri. Das Bleniotal, die Riviera und die Region um Bellinzona wurden von den drei Urkantonen Uri, Schwyz und Unterwalden kontrolliert. Der südliche Teil, der Lugano und Mendrisio sowie Locarno und das Maggiatal umfasste, wurde von allen souveränen Kantonen (ausser Appenzell) gemeinsam regiert. Der heutige Kanton Tessin wurde erst 1803 gegründet. Aber zurück zu Pietro Morettini.
Im 18. Jahrhundert waren die Machtverhältnisse im heutigen Kanton Tessin klar.
Im 18. Jahrhundert waren die Machtverhältnisse im heutigen Kanton Tessin klar. Wikimedia / Marco Zanoli
Der «Tessiner» wurde 1660 im Weiler Camanoglio bei Cerentino im Rovana-Tal, einem Seitental der Maggia geboren. Die Region gehörte damals zur Vogtei von Locarno. Pietro Morettini erlebte eine kurze und karge Kindheit, die jedoch durch die Tatsache erleichtert wurde, dass sein Vater Maurermeister war. In der Heimat gab es nur wenig Arbeit, so dass sein Vater bereits mehrmals nach Frankreich gezogen war. Morettini folgte ihm zum ersten Mal im Alter von 14 Jahren und kam als Steinmetz nach Besançon. Die Stadt war 1674 gerade von Ludwig XIV. auf dem Höhepunkt seiner Macht erobert worden. An Arbeit mangelte es also nicht und Morettini wurde bald von Sébastien Le Prestre entdeckt. Der Seigneur von Vauban war ein angesehener französischer Militäringenieur, Architekt und Stadtforscher, der eine Vielzahl von Befestigungsanlagen in ganz Frankreich geschaffen hatte.
Porträt von Sébastien Le Prestre de Vauban.
Porträt von Sébastien Le Prestre de Vauban. Wikimedia
Schnell wurde Morettini geschätzt und so ist es nur logisch, dass er mit Vauban weiter nach Landau in die Pfalz zog. Er arbeitete weiter für Sébastien Le Prestre und nahm auch aktiv an den Expansionsplänen Ludwigs XIV. teil. 1692 war er bei der Belagerung von Namur (Spanische Niederlande) dabei. Morettini blieb nach der Eroberung eine Zeit lang, um die Stadtbefestigung wieder aufzubauen. Dabei festigte er auch gleich sein Privatleben, denn er heiratete eine Dame des örtlichen Bürgertums, Marie-Rose Ronchan. Die Ehe war fruchtbar, insgesamt entsprangen ihr elf Kinder. Doch die Zeiten in Namur waren unruhig. Bereits drei Jahre nach der Belagerung der Franzosen wurde die Stadt von englisch-holländischen Truppen zurückerobert. Morettini hatte sich jedoch nicht nur in Marie-Rose Ronchan, sondern auch in Namur verliebt. Er trat aus Vaubans Diensten aus und wechselte die Seiten. Nur so konnte er weiter in der Stadt arbeiten. Nach zwei weiteren Jahren in der Stadt im heutigen Belgien arbeitete er unter der Leitung von Menno van Coehoorn an Bauten auf dem ganzen Gebiet der Vereinigten Niederlanden. Ironie dieses Seitenwechsels: Im Wettstreit um die besten Festungsbauten war Morettinis neuer Vorgesetzter ein grosser Konkurrent seines alten Chefs.
Die Eroberung von Namur, 1692 durch die Franzosen. Gemalt von Jean-Baptiste Martin.
Die Eroberung von Namur, 1692 durch die Franzosen. Gemalt von Jean-Baptiste Martin. Wikimedia
Porträt von Menno van Coehoorn. Gemalt von Caspar Netscher, um 1700.
Porträt von Menno van Coehoorn. Gemalt von Caspar Netscher, um 1700. Wikimedia
1703 kehrte Pietro Morettini für 15 Jahre nach Locarno zurück, zum ersten Mal überhaupt nach seiner Kindheit. Es war eine Rückkehr im grossen Stil, denn Morettini war nicht nur ein angesehener Ingenieur, sondern auch ein geschickter Unternehmer, der für sein enormes Fachwissen gut bezahlt wurde. Während seines Aufenthalts in Locarno wurde er durch Ankäufe und Anleihen bald auch zum grössten Landbesitzer der Region. Im Auftrag des Herzogs Viktor Amadeus II. von Savoyen plante der Baumeister Kanäle nach Losone. Er träumte sogar von einem Wasserweg zwischen Rotterdam und Venedig, welche Schiffe über das Maggiatal und Locarno Richtung Süden bringen sollte. Daraus wurde zwar nichts, doch auf anderen Ebenen war Morettini erfolgreich. So gelang es ihm, verschiedene Patrizier der Region Locarno zusammenzubringen. Diese hatten damals wenig Interesse an einer Zusammenarbeit und standen in einer fast krankhaften Konkurrenz, dem bekannten Tessiner Campanilismo.
Der ebenso unermüdliche wie polyglotte Morettini machte sich in den katholischen Kantonen der Alte Eidgenossenschaft rasch einen Namen. Er wurde zunächst zum Ingenieur des Kantons Luzern ernannt. Im Auftrag des Kantons Uri und der Gemeinde Andermatt führte er 1707-1708 Ausgrabungen und Arbeiten bei Andermatt beim sogenannten Urnerloch durch. Der Weg in diesem Abschnitt war sehr tückisch und nicht sehr stabil. Um die Schlucht zu überqueren, gab es die sehr gefährliche Twaerrenbrücke. Lange Zeit glaubte man, dass diese Brücke an im Felsen verankerten Eisenketten aufgehängt war. Aktuelle Nachforschungen haben jedoch ergeben, dass es sich eher um eine Konstruktion im Stil der hölzernen Wasserkanäle handelt, die im Wallis Bisses genannt werden. Diese langen Holzbalken wurden auf Felsvorsprüngen oder in ausgehöhlten Nischen lediglich verankert. Das Projekt Urnerloch dauerte rund elf Monate und war für die Region ungemein wichtig, denn das einzige wirtschaftliche Einkommen der Bevölkerung waren die Zollgebühren auf die Durchfahrt von Waren durch die unwegsame Schöllenenschlucht. Mit dem «Loch» entstand der erste Verkehrstunnel der heutigen Schweiz. Er war 64 Meter lang und nur so hoch, dass ein Karren gerade durchfahren konnte.
Blick aus dem Urnerloch heraus gegen Andermatt. Druckgrafik, hergestellt um 1830.
Blick aus dem Urnerloch heraus gegen Andermatt. Druckgrafik, hergestellt um 1830. Schweizerisches Nationalmuseum
In den Jahren 1707-12, während der konfessionellen Wirren, die dem Zweiten Villmergenkrieg vorausgingen, plante Morettini Befestigungsanlagen en masse für die Katholiken: für Freiburg, Solothurn, Rapperswil, Sursee, Bremgarten, Willisau, Mellingen und Baden. Er fertigte vor allem Vorstudien an, die als hervorragend anerkannt wurden, dann aber – glücklicherweise – wegen unzureichender Ausführungsmöglichkeiten und finanzieller Mittel alle nicht realisiert wurden. Die einzige Ausnahme steht in Wassen im Kanton Uri. In vergangenen Jahrhunderten war der Sustenpass ein strategisch wichtiger Alpenpass. Die Urner fürchteten wiederholt den Einmarsch fremder Truppen über den Susten und beschlossen, an verschiedenen Stellen im Meiental Befestigungen zu bauen. Die Meienschanze in Wassen aus dem Jahr 1710 ist das einzige Schweizer militärische Werk Morettinis, das heute noch teilweise sichtbar ist. Die Meienschanze bewährte sich bereits 1712 während des Zweiten Villmergenkriegs. Hier wehrten die Urner erfolgreich die Berner ab, die bereits auf den Sustenpass vorgedrungen waren.
In der einzigen Biografie über Pietro Morettini hat Marino Viganò auch die Pläne der Meienschanze publiziert.
In der einzigen Biografie über Pietro Morettini hat Marino Viganò auch die Pläne der Meienschanze publiziert.   Staatsarchiv des Kantons Bern
Die Meienschanze, auf Leinwand verewigt von Caspar Wolf, 1778.
Die Meienschanze, auf Leinwand verewigt von Caspar Wolf, 1778. Wikimedia
Nach dem Erfolg in der Heimat war Pietro Morettini nicht etwa bequem geworden, sondern ganz im Gegenteil. Er war aktiver denn je und entschied sich nach einer kurzen Dienstzeit im Kirchenstaat (1715-1716), künftig für die Republik Genua zu arbeiten. Er trat diese neue Herausforderung im Alter von 55 Jahren an. Genua war lange Zeit eine wichtige Seemacht gewesen. Mit geschicktem Handel, einem florierenden Bankenwesen und zahlreichen Handelsposten am Schwarzen Meer hatte sich die Republik Jahrhunderte lang behaupten können. Doch nun waren die goldenen Zeiten vorbei. Zermürbt von den Konflikten mit Savoyen und Frankreich war der Niedergang nur noch eine Frage der Zeit. Allerdings wollte man in Genua diesen Niedergang so lange wie möglich hinausschieben. Und dafür brauchte es gute Verteidigungsanlagen. Ein klarer Fall für Pietro Morettini. Der Ingenieur arbeitete zwischen 1717 und 1736 für die Genuesen und wurde zum ersten Ingenieur und Direktor der Festungsanlagen ernannt. Er fertigte Studien an und leitete diverse Baustellen. Unter anderem auf Korsika – in Ajaccio, Calvi und Bonifacio – die damals unter der Herrschaft der Republik Genua standen. Vieles von dem, was Morettini verwirklicht hat, ist bis heute erhalten geblieben. Beispielsweise das wunderschöne Pulvermagazin der Festung von Gavi Ligure oder der Palazzo della Sibilla in der Festung Priamar in Savona. Morettini engagierte sich auch stark in den militärischen Angelegenheiten der Republik Genua, er war inzwischen Oberst. Dieses Engagement bewog zwei seiner Söhne, später als Offiziere, die für die Organisation von Söldnertruppen zuständig waren, im Militärdienst der Republik Genua blieben.
Die Festung Priamar in Savona ist bis heute ein Magnet für Touristen.
Die Festung Priamar in Savona ist bis heute ein Magnet für Touristen. Wikimedia
Im Februar 1737 kehrte der Ingenieur nach Locarno zurück und starb nur einen Monat später im Alter von 76 Jahren. Die Linie der Familie Morettini blieb noch bis 1850 erhalten. Danach verschwand sie ebenfalls für immer. Pietro Morettini war einer der grössten Militäringenieure der Schweiz, der sich auch als Architekt, Stadtplaner und Tunnelbauer einen Namen gemacht hatte. Seine Erfahrungen in ganz Kontinentaleuropa verliehen ihm eine aussergewöhnliche Arbeitskraft und immer wieder neue Ideen: die Realisierung von mindestens 40 Festungen und Bauwerken sowie von rund 100 Projekten beweisen dies eindrücklich. Es ist somit sehr treffend, dass der heutige Tunnel zwischen Tenero und Locarno auch «Mappo-Morettina Tunnel» genannt wird.

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