Die Bleichen von Haarlem, von Jacob van Ruisdael, um 1670/1675.
Die Bleichen von Haarlem, von Jacob van Ruysdael, um 1670/1675. Kunsthaus Zürich

Wie Leinen Europa vernetzte

Die Produktion und der Handel von Leinen waren für viele Menschen in Europa und insbesondere der Ostschweiz das tägliche Brot, buchstäblich. Ein ganz besonderes Landschaftsgemälde aus den Niederlanden im Kunsthaus Zürich erzählt eine Geschichte von globaler Vernetzung und Abhängigkeit.

Barbara Basting

Barbara Basting

Barbara Basting war als Kulturredaktorin tätig und leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

«Die Bleichen von Haarlem» (um 1670) von Jacob Isackszoon van Ruysdael (um 1628-1682) gehört zu meinen Lieblingsbildern. Zunächst lag das sicher an Zufällen – und an der Zugkraft von Ruysdaels Namen. Der niederländische Maler gilt zwar als «Kleinmeister», als einer, der sich alltäglichen Sujets zuwandte. Doch fanden seine Werke schon zu seinen Lebzeiten viele Liebhaber und gelangten in zahlreiche bedeutende Museumssammlungen. Sein Nachruhm verdankt sich auch vielen prominenten Bewunderern aus Kunst und Literatur, darunter Füssli und Goethe. Ruysdael hat nur relativ wenige, bei seiner Käuferschaft erfolgreiche Sujets variiert. Berühmt sind seine Waldlandschaften mit Wasserfällen. Aber auch die zahlreichen Ansichten seiner Heimatstadt Haarlem mit ihren typischen Leinenbleichen fanden grossen Anklang. Unter ihnen ragt das im Kunstmuseum Zürich hängende «Die Bleichen von Haarlem» heraus. Mit dramatisch aufgetürmten Cumulus-Wolken fesselt der Maler zunächst den Blick. Auf rund zwei Drittel der Fläche des eher kleinen Gemäldes zelebriert er die Wolkenspiele und den lichten, hohen Himmel, wie es ihn nur in der Nähe des Meeres gibt. Der erhöhte Standpunkt auf den Dünen vor Haarlem greift die damals beliebte Vogelschau für Stadtansichten auf.
Die Bleichen von Haarlem, von Jacob van Ruisdael, um 1670/1675.
Die Bleichen von Haarlem, von Jacob van Ruysdael, um 1670/1675. Kunsthaus Zürich
Ruysdaels Kunstgriff liegt in der Komposition. Er setzt die rechteckigen Leinenbahnen als kompositorischen Gegenpol zu den runden Formen der Wolken. Zusammen mit dem Teich und seinen unregelmässigen Sandufern reflektieren sie das Licht aus einer Wolkenlücke. So verklammern sie spannungsvoll Himmel und Erde als die beiden dominierenden Bildteile und Sphären miteinander. Zwei Welten, in denen Kräfte und Gesetze herrschen, die aber trotzdem existentiell miteinander verknüpft sind. Dies hat, zusammen mit der Symbolik des reinweissen Leinens, auch schon theologische Deutungen provoziert. Seine exquisiten Lichtspiele hat Ruysdael noch häufiger aufgeführt. Neben Leinwandbleichen benutzt er dafür wahlweise Gischt, ein Getreidefeld oder einen Birkenstamm. All dies macht es leicht, sich für Ruysdael aus ästhetischen Gründen zu begeistern. Doch ein Gemälde wie seines hat auch darüber hinaus vieles zu erzählen. Etwa über die Gesellschaft, in der und für die es entstand, über den ideellen und wirtschaftlichen Kontext. So hat es die dargestellte Szenerie der Arbeit auf den Bleichen in sich. Sie steht nicht nur im Zentrum des Gemäldes, sondern verweist auf ein ebenso zentrales Thema der europäischen Wirtschaftsgeschichte. Die Niederlande hatten sich nach der Erlangung ihrer Unabhängigkeit vom spanischen Habsburgerreich im 17. Jahrhundert zum ökonomischen Zugpferd Europas entwickelt. Ihre freiheitliche Verfassung und insbesondere die Religionsfreiheit trugen zur Blüte bei, da Religionsflüchtlinge etwa aus Flandern einwanderten und Fachwissen mitbrachten. Entscheidend war auch die Flotte als Grundlage der baldigen Dominanz der Niederlande auf den Weltmeeren. Besonders weisse, edle Leinwand brauchten die Niederländer aber weniger für ihre Segelschiffe. Die Leinwand diente vor allem als wertvolles Handelsgut im entstehenden Dreiecks-Kolonialhandel.
Holländische Handelsschiffe vor Anker, Willem van de Velde der Jüngere, 1658.
Holländische Handelsschiffe vor Anker, Willem van de Velde der Jüngere, 1658. Mauritshuis
Heute hat man von der einstigen Bedeutung der Leinenproduktion in Europa kaum noch eine Vorstellung. Schon ab dem 13. Jahrhundert begann der entsprechende Handel. Ausgangspunkt war die bäuerliche Produktion des Gewebes. Leinen ist als Pflanze genügsam, wurde oft als Zwischensaat angebaut. Die Aufbereitung, das Spinnen und Weben, sind im häuslichen Massstab möglich und waren zunächst eine bäuerliche Tätigkeit im Winter für den Eigenbedarf. Leinen war zu einer Zeit, als die Alternativen Wolle und Hanf waren, vor allem in wärmeren Gegenden für Bekleidung begehrt. Die Ausweitung des Handels ging mit der Entwicklung von Qualitätsstandards einher. Dem Historiker Philipp Rösner zufolge waren ab dem 16. Jahrhundert ganze Regionen Europas in die Produktion und den Vertrieb von Leintuch eingespannt, insbesondere der süddeutsche Raum, wo die mächtigen Fugger in Augsburg ihren Reichtum unter anderem den Leinenhandel verdankten, aber auch Schlesien, Schottland, Irland und die Schweiz. Ohne die Leinenproduktion wäre ihre Wirtschaftsgeschichte anders verlaufen. St. Gallen etablierte sich allmählich als Hochburg und lief ab der Mitte des 15. Jahrhunderts dem zuvor dominierenden Konstanz den Rang ab.
Zum Bleichen ausgelegte Leinwandbahnen vor der Stadt St. Gallen in einer Darstellung von 1545. Noch heute zeugt der städtische Flurname «Kreuzbleiche» von der einstigen Bedeutung dieses Vorganges.
Zum Bleichen ausgelegte Leinwandbahnen vor der Stadt St. Gallen in einer Darstellung von 1545. Noch heute zeugen der städtische Flurnamen wie «Bleicheli» oder «Kreuzbleiche» von der einstigen Bedeutung dieses Vorganges. Wikimedia
Der Aufstieg St. Gallens beruhte auf einem Zunftsystem. Der Kern dieses Systems ist die Trennung von Produktion und Vertrieb sowie eine ausgeklügelte Regulierung in Form einer «Leinwandsatzung». Die in Heimarbeit tätigen, meist bäuerlichen Leinwandweber hielt man mit einem «Verlagssystem» in Schach. Ein zentrales Element war dabei die sogenannte «Leinwandschau». Für diese wurden von den Zwischenhändlern die Qualitätsmassstäbe definiert und mittels Preispolitik durchgesetzt.
Der St. Galler Leinwandhändler Claus Gugger steht stolz vor seiner mit dem Qualitätszeichen G für «Gut» gekennzeichneten Ware.
Der St. Galler Leinwandhändler Claus Gugger steht stolz vor seiner mit dem Qualitätszeichen G für «Gut» gekennzeichneten Ware. Das Tafelbild hing bis 1874 am Ort, wo die Leinwandschau abgehalten wurde. Kulturmuseum St. Gallen
Leinen aus St. Gallen gelangte über Seehäfen wie Venedig oder Genua und Antwerpen bis nach Nordeuropa, Nordafrika und sogar nach Asien. Im Gegenzug erwarben die Händler Gewürze, Lebensmittel-Spezialitäten, Juwelen, aber auch Seide. Für die Wertschöpfung spielte die Veredelung des Leinens und damit die von Ruysdael dargestellte Rasenbleiche eine entscheidende Rolle. Sie ist ein aufwändiges photochemisches Verfahren. Dafür wurden entsprechende Rasenflächen vor den Städten freigehalten. Auf ihnen wurden die bis zu 80 Meter langen Leinwandbahnen ausgebreitet. Auch in St. Gallen ging man so vor. Ein unbekannter Maler hat das Bleichen im sogenannten «Leinwandzyklus» festgehalten. Die vergleichsweise ungelenke Darstellung diente wohl weniger dem verfeinerten Kunstgenuss als zu Werbezwecken.
Bild aus dem sogenannten «Leinwandzyklus», aus der Mitte des 17. Jahrhunderts.
Bild aus dem sogenannten «Leinwandzyklus», aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Rechts im Bild werden die Tücher gekocht und gewalkt (gestampft). Links sind weitere Arbeitsgänge wie das Netzen, das Auslegen, das Strecken und Zusammenlegen zu sehen. In der Mitte beaufsichtigt der Bleichemeister die Arbeiten. Kulturmuseum St. Gallen
Die Bleichen von Haarlem hatten aufgrund verfeinerter Verfahren international einen herausragenden Ruf und dominierten die Wirtschaft der Stadt zu Ruysdaels Zeit. Leinen aus der sogenannten «Haarlemmer bleek» war ein Luxusprodukt. «Unsere inländische(n) leinene(n) Tücher erhalten auf der Bleiche lange das Weisse der Holländischen nicht», hält 1778 der Artikel «Leinwand und Garn zu bleichen» aus der Bündner Wochenschrift «Der Mannigfaltige» fest. Danach wird über die Gründe dafür spekuliert: «Die holländische Luft ist wegen des nahen Meeres, und des vielen stehenden Wassers in den Canälen und im Lande weit voller von Dünsten, als andernwärts». In Haarlem wurde mit dem Zusatz von Weidenasche (Pottasche), Kuhmist oder der reichlich vorhandenen Buttermilch gearbeitet. Unter anderem wurde das Gewebe wochenlang darin eingeweicht.
Ein Bleicher bei der Arbeit.
Ein Bleicher bei der Arbeit. Er arbeitet mit einer sogenannten «Güte», einer speziellen Schaufel, mit der er das Wasser aus dem Graben bis zu mehreren Metern weit über die ausgelegten Textilien werfen konnte. Caspar Luyken, nach Jan Luyken, 1694. Rijksmuseum Amsterdam
Zwecks Veredelung wurde Leinen aus ganz Europa nach Haarlem exportiert. Vielleicht stammten einige der von Ruysdael dargestellten Leinwandbahnen aus dem St. Gallischen. Aber auch ohne solche Fantasien eröffnet sein Gemälde den Blick auf eine kaum zu unterschätzende Dimension der wirtschaftlichen Vernetzung und Logistik in Europa, in der sich die Schweiz früh ihren Platz zu sichern wusste. Der zukunftsträchtige Aspekt der Leinenherstellung war die Entwicklung von Produktions- und Vertriebsstrukturen. Diese bildeten die Grundlage der von Europa ausgehenden frühen Globalisierung der Weltwirtschaft.
stehen zwölf Vertreter von Berufsleuten, die im Leinwandgewerbe tätig waren
Die Tafel verbildlicht die Bedeutung des Leinwandhandels für St. Gallen: Vor der Stadt im Hintergrund stehen zwölf Vertreter von Berufsleuten, die im Leinwandgewerbe tätig waren – vom Kaufmann an der Spitze bis zum Küfer, der die Fässer für den Transport der Stoffe herstellte. In der Mitte sticht der Bleichemeister farblich heraus. Kulturmuseum St. Gallen
Ironischerweise wurde der Niedergang des Leinenhandels durch den Kolonialhandel eingeläutet, zu dem er entscheidend beigetragen hatte. Dabei spielte die zunehmende Konkurrenz der günstigeren Baumwolle eine Rolle. Erste Baumwoll-Leinen-Mischgewebe wurden im Nordosten Englands ab 1730 hergestellt. Die Ausbreitung der Baumwollindustrie ging einher mit dem Sklavenhandel. Sie führte aber auch zum Abstieg Indiens. Dieses war lange vor England in der Produktion von Baumwollstoffen führend. Doch nachdem die Engländer sich das entsprechende Know-how angeeignet hatten, bremsten sie Indien durch Schutzzölle zunehmend aus. Im 19. Jahrhundert kam die technologische Revolution durch die Dampfmaschine sowie Spinn- und Webmaschinen hinzu. Die sich wegen der darauffolgenden Ausbeutung und Verarmung der Weber in ganz Europa häufenden Weberaufstände, die Heinrich Heine in seinem berühmten Gedicht «Die schlesischen Weber» exemplarisch thematisiert, interessierten auch einen jungen Philosophen und Ökonomen namens Karl Marx.
Arbeiter zerstören aus Protest einen Webstuhl, 1812.
Arbeiter zerstören aus Protest einen Webstuhl, 1812. Wikimedia
Man könnte Ruysdaels Gemälde auch ganz schlicht als Hommage an seinen Trägerstoff interpretieren: Leinwand als Grund der Malerei, der seit der Renaissance zunehmend die Holztafeln ablöste. Doch interessanter ist der Hinweis auf eine Quelle des Reichtums der Niederlande, zu dem die Bleichen von Haarlem entscheidend beitrugen. Dieser ermöglichte neben dem Bau imposanter Kirchen, wie der Kathedrale St. Bavo am Horizont von Ruysdaels Gemälde, eine regelrechte Explosion der Kunstproduktion. Das «Goldene Zeitalter» steht für etliche glanzvolle Malerkarrieren. Man denke an Ruysdaels Zeitgenossen wie Rembrandt oder Jan Vermeer. Nicht wenige feierten in opulenten Stillleben den Luxus eines zu Reichtum gekommenen Bürgertums. Beim auf Landschaften spezialisierten Ruysdael hingegen darf der Bürger die zu seinem Vorteil wirkenden Arbeitskräfte von einem erhabenen Standpunkt aus betrachten. Die Mühsal der unregulierten Saison-Arbeit in den Bleichen ist bei ihm wohl nicht ohne Grund im Liliputformat dargestellt. So wird der ästhetische Genuss nicht mit lästigen Details gestört.
Die arbeitenden Menschen in den Bleichen sind in Jacob van Ruisdaels Gemälde nur winzig dargestellt.
Die arbeitenden Menschen in den Bleichen sind in Jacob van Ruysdaels Gemälde nur winzig dargestellt. Kunsthaus Zürich
Mit der Wahl des künstlerisch ergiebigen Sujets ist Ruysdael nicht allein geblieben: Gut zweihundert Jahre später wird der deutsche Impressionist Max Liebermann seine «Rasenbleiche» (1882) malen. Auch Liebermann hat die Szene in den Niederlanden gesehen. Doch ihm geht es nicht einmal im Ansatz um die wirtschaftlichen Grundlagen einer Blütezeit, sondern nur noch um die private Wäsche und Bleiche, kurz bevor Waschmitteln wie Persil (ab 1907) die Bleiche übernehmen. Heute erinnern uns höchstens noch Strassen- und Flurnamen an die einstige Nutzung der Areale.
Die Rasenbleiche, von Max Liebermann, 1882.
Die Rasenbleiche, von Max Liebermann, 1882. Wallraf-Richartz-Museum
Als letzte Pointe mag erwähnt sein, wie das Gemälde nach Zürich kam, einer Stadt, die ihren modernen Aufstieg der Textilindustrie verdankt. Ruysdaels Gemälde, das einen chemischen Prozess darstellt, von dem die Stadt Haarlem ökonomisch zu profitieren wusste, wurde 1949 vom ETH-Chemiker und Nobelpreisträger Leopold Ružička für das Museum erworben. Dieser war mit seinen begehrten Chemie-Patenten reich geworden, vor allem für künstliche Duftstoffe und Testosteron.

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