Tell-Figur auf dem Dorfbrunnen von Loco im Onsernonetal. Geschaffen von Ermenegildo Degiorgi-Peverada um 1896.
Tell-Figur auf dem Dorfbrunnen von Loco im Onsernonetal. Geschaffen von Ermenegildo Degiorgi-Peverada um 1896. Foto: Noah Businger

Guglielmo Tell

Zu Tell scheinen die Meinungen gemacht: Ein Symbol der patriotischen Nationalgeschichte der Schweiz. Doch ein kleines Denkmal im Tessin wirft Fragen auf.

Noah Businger

Noah Businger

Noah Businger ist Historiker und doktoriert in älterer Schweizer Geschichte an der Universität Bern.

Im Hinterland von Locarno liegt an einer steilen, mit terrassierten Kastanienselven bepflanzten Talflanke des Onsernonetals das Dorf Loco. Den kleinen Dorfplatz von Loco dominiert ein massiver Brunnen aus dem 19. Jahrhundert. In der Mitte des Brunnens steht erhöht auf einer Säule ein scheinbar unspektakuläres Denkmal: Wilhelm Tell wird nach dem erfolgreichen Apfelschuss von Walterli bejubelt. Der Urner Schütze überblickt in heroischer, selbstsicherer Pose die Piazzetta und reckt mit seiner Rechten den Pfeil der Freiheit und der Gerechtigkeit in den Himmel. Auf den ersten Blick steht hier nur ein weiteres Denkmal, das ein altbekanntes Motiv der eidgenössischen Geschichtsmythologie aufnimmt. Was jedoch stutzig macht, ist der Standort dieses Denkmals. Das Onsernonetal war wie alle übrigen Gebiete des heutigen Tessins bis 1798 Untertanengebiet der eidgenössischen Orte. Die Urner, die Schwyzer und die anderen Eidgenossen verstanden sich als die Söhne Tells, regierten aber selbst von Airolo bis Mendrisio als fremde Vögte. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Tessin zum gleichberechtigten Kanton der Eidgenossenschaft. Wie kam es nun, dass ausgerechnet Tell für die ehemaligen Untertanen der Eidgenossen zur Identifikationsfigur werden konnte?
«Palazzo di Landfogti» in Lottigna
Schon der Name des Gebäudes lässt die Machtverhältnisse im Tessin der frühen Neuzeit erahnen: Im «Palazzo di Landfogti» in Lottigna residierten von 1550 bis 1798 die Landvögte der Kantone Uri, Schwyz und Nidwalden. Deren Wappen sind an der Fassade aufgemalt. Das Gebäude beherbergt heute das historische Museum des Bleniotals. Wikimedia / Iolanda Pensa

Deutungs­ver­such 1: Tell als Ausdruck des national-patrio­ti­schen Bewusstseins

Das Denkmal in Loco ist ein Werk des Künstlers Ermenegildo Degiorgi-Peverada (1866-1900). Peverada stammte aus Loco, siedelte aber sehr jung mit seiner Mutter nach Turin über. Dort erlernte er bei seinem Stiefvater Pacifico Peverada das Handwerk des Bildhauers. Als in den 1890er-Jahren in Bern das Bauwesen boomte, eröffnete Ermenegildo in Bern eine Filiale des väterlichen Betriebs. In Bern wurde gerade das schweizerische Nationalbewusstsein in Stein gemeisselt. Der noch junge Bundesstaat gab sich ein repräsentatives Gesicht und investierte in bedeutsame Bauwerke wie das Bundeshaus. Diese Bautätigkeit lockte viele Künstler nach Bern, welche die Repräsentationsbauten mit nationalpädagogischen Werken schmückten. Auch der junge Peverada beteiligte sich an den Ausschreibungen des Bundes. Bisher hatte er sich vor allem mit der Darstellung sozial-romantischer Themen wie dem entbehrungsvollen Leben im Onsernonetal einen Namen gemacht. In Bern versuchte Peverada sein Œuvre zu erweitern und wandte sich patriotischen Motiven zu. 1896 präsentierte er an der Landesausstellung in Genf seinen Tell und folgte damit einem Trend: Die national-pädagogische Skulptur war en vogue.
Fotografie von Ermenegildo Degiorgi-Peverada, um 1898.
Fotografie von Ermenegildo Degiorgi-Peverada, um 1898. Archivio Degiorgi, Lupo
Telldenkmal in Altdorf von Richard Kissling
Telldenkmal in Altdorf von Richard Kissling (1848–1919). Wikimedia
Im Jahr zuvor war in Altdorf das Telldenkmal eingeweiht worden. Das jahrelange Wettbewerbsverfahren, die Diskussion der unterschiedlichen Entwürfe und die feierliche Einweihung waren Ereignisse von nationaler Bedeutung. Wilhelm Tell war so populär wie noch nie. Dass die Geschichtswissenschaft die Tellsgeschichte im 19. Jahrhundert wegen mangelnder Quellenlage in die Welt der Sagen verbannt hatte, spielte dabei keine Rolle. Bei der Einweihung des Telldenkmals 1895 wurde eine Kantate aufgeführt, in der sich Geschichte und Sage duellierten. Wenig überraschend gewann dabei die Sage: Obwohl sie der wissenschaftlichen Quellenkritik nicht standhalte, sei sie als lebendige Erinnerung in die Volksseele eingeschrieben. Die Sage von Tell als historisches Narrativ, die konstruierten Heldentaten der Ahnen als Vorbildfunktion für die gegenwärtige Nation. Das Altdorfer Telldenkmal: Bildung von Nationalbewusstsein und nationaler Identität par excellence. Von nun an bedeutete ein Denkmal für Tell zu erstellen, ein bestimmtes nationales Selbstbild zum Ausdruck zu bringen. Peveradas Tell scheint in dieser Kontinuität zu stehen. Doch die Skulptur wurde erst 1965 in Loco auf den Sockel gestellt und stand zuvor lange im Museum in Loco. Diente den Onsernonesi Tell denn wirklich dazu mit diesem angeblich ureidgenössischen Symbol ihre Zugehörigkeit zum Nationalstaat zum Ausdruck zu bringen? War das überhaupt notwendig? Bietet dieser Tell nicht noch mehr?
Die Geschichte von Wilhelm Tell inspiriert. So auch den italienischen Künstler Angelo Biasioli, der Anfang des 19. Jahrhunderts diese Druckgrafik erschafft.
Wilhelm Tell inspirierte nicht nur eidgenössische Künstler, sondern war auch im Ausland ein beliebtes Sujet. Wie in dieser Druckgrafik von 1820 des italienischen Künstlers Angelo Biasioli. Schweizerisches Nationalmuseum

Deutungs­ver­such 2: Tell als interna­tio­na­les Symbol der nationa­len Unabhängigkeit

Seit der Französischen Revolution hatte ein Tyrannenmörder, ein Kämpfer für die Gerechtigkeit und für die Befreiung von der ungerechten Herrschaft international Karriere gemacht: Wilhelm Tell. Auch für die Figur in Loco gibt es neben der nationalpädagogischen auch eine unerwartete internationale Spur. Diese Spur führt zunächst an die Seepromenade von Lugano. Hier steht seit 1856 das einzige weitere Tessiner Telldenkmal, geschaffen von Vincenzo Vela (1829-1891). Vela war zu der Zeit einer der bekanntesten Bildhauer der Schweiz und Italiens. Er lebte lange in Mailand, später musste er nach Turin umziehen. Vela hatte 1848 gegen die österreichische Fremdherrschaft in der Lombardei gekämpft und wurde deswegen ausgewiesen. Er stand auf der Seite des italienischen Risorgimento, der die nationale Unabhängigkeit und Einheit Italiens anstrebte. Seinen Tell schuf Vela im Auftrag von Giacomo Ciani, Hotelier und radikal-republikanischer italienischer Exilant. Tell erscheint in Lugano ohne Walterli und ohne Apfel. In einfacher Kleidung und mit gesenktem Haupt streckt Tell den freiheitsbringenden Pfeil in die Höhe. Auch für Vela war Tell ein Symbol: Der Urner Schütze als Vorbild für die Kämpfenden des Risorgimento. Die Geschichte der Schweiz inszeniert und verklärt als universales Beispiel der nationalen Unabhängigkeit.
Velas Tell am Quai von Lugano, Aufnahme um 1885.
Velas Tell am Quai von Lugano, Aufnahme um 1885. Schweizerisches Nationalmuseum
Gipsmodell von Peveradas Tell in Loco, 1896.
Gipsmodell von Peveradas Tell in Loco, 1896. Museo Onsernonese
An der Skulptur auf der Piazzetta in Loco erinnert Vieles an den Tell in Lugano. Die beiden Werke ähneln sich stark. In Loco dürfen Walterli und der Apfel zwar mitwirken, doch auch hier ist der Pfeil das zentrale Objekt. Tell, der an beiden Orten als einfacher Mann erscheint, hält die Pfeile in der rechten Hand und stösst sie mutig, trotzig und selbstbewusst gegen den Himmel. Die Ähnlichkeit kommt nicht von ungefähr: Ermenegildo Degiorgi-Peverada war stark von Vincenzo Vela beeinflusst. Als beide in Turin lebten, begegneten sie sich mehrmals und Vela wurde Peveradas Vorbild – nicht nur in der Kunst. Ist der Tell in Loco am Ende schlicht eine Hommage an Vincenzo Vela? Oder wollte Peverada an Velas Aussage anknüpfen und mit seiner Skulptur zum Ende des 19. Jahrhunderts an all die romantisierten Einigungskriege der vergangenen Jahrzehnte erinnern?

Geschich­te ist flexibel

Nach einigen Ausflügen stehen wir wieder auf dem Dorfplatz in Loco und wissen immer noch nicht mit Sicherheit, was uns dieser Tell nun mitteilen will und wofür er steht. Ist er der Tell der eidgenössischen Mythenproduktion? Steht er als Symbol für die nationale Zugehörigkeit? Oder ist er der internationale Tell? Wird hier dem vielseitig einsetzbaren Tyrannenmörder, dem Symbol zahlreicher Revolutionen und Unabhängigkeitsbewegungen Tribut gezollt? Oder ist er ein ganz anderer Tell? Wie viele Geschichten lassen sich zu dieser Figur noch erzählen? Welche Perspektive zimmert sich welche Erzählung?

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