
Guglielmo Tell
Zu Tell scheinen die Meinungen gemacht: Ein Symbol der patriotischen Nationalgeschichte der Schweiz. Doch ein kleines Denkmal im Tessin wirft Fragen auf.
Was jedoch stutzig macht, ist der Standort dieses Denkmals. Das Onsernonetal war wie alle übrigen Gebiete des heutigen Tessins bis 1798 Untertanengebiet der eidgenössischen Orte. Die Urner, die Schwyzer und die anderen Eidgenossen verstanden sich als die Söhne Tells, regierten aber selbst von Airolo bis Mendrisio als fremde Vögte. Erst im 19. Jahrhundert wurde das Tessin zum gleichberechtigten Kanton der Eidgenossenschaft. Wie kam es nun, dass ausgerechnet Tell für die ehemaligen Untertanen der Eidgenossen zur Identifikationsfigur werden konnte?
Deutungsversuch 1: Tell als Ausdruck des national-patriotischen Bewusstseins
Als in den 1890er-Jahren in Bern das Bauwesen boomte, eröffnete Ermenegildo in Bern eine Filiale des väterlichen Betriebs. In Bern wurde gerade das schweizerische Nationalbewusstsein in Stein gemeisselt. Der noch junge Bundesstaat gab sich ein repräsentatives Gesicht und investierte in bedeutsame Bauwerke wie das Bundeshaus. Diese Bautätigkeit lockte viele Künstler nach Bern, welche die Repräsentationsbauten mit nationalpädagogischen Werken schmückten.
Auch der junge Peverada beteiligte sich an den Ausschreibungen des Bundes. Bisher hatte er sich vor allem mit der Darstellung sozial-romantischer Themen wie dem entbehrungsvollen Leben im Onsernonetal einen Namen gemacht. In Bern versuchte Peverada sein Œuvre zu erweitern und wandte sich patriotischen Motiven zu. 1896 präsentierte er an der Landesausstellung in Genf seinen Tell und folgte damit einem Trend: Die national-pädagogische Skulptur war en vogue.


Von nun an bedeutete ein Denkmal für Tell zu erstellen, ein bestimmtes nationales Selbstbild zum Ausdruck zu bringen. Peveradas Tell scheint in dieser Kontinuität zu stehen. Doch die Skulptur wurde erst 1965 in Loco auf den Sockel gestellt und stand zuvor lange im Museum in Loco. Diente den Onsernonesi Tell denn wirklich dazu mit diesem angeblich ureidgenössischen Symbol ihre Zugehörigkeit zum Nationalstaat zum Ausdruck zu bringen? War das überhaupt notwendig? Bietet dieser Tell nicht noch mehr?
Deutungsversuch 2: Tell als internationales Symbol der nationalen Unabhängigkeit
Diese Spur führt zunächst an die Seepromenade von Lugano. Hier steht seit 1856 das einzige weitere Tessiner Telldenkmal, geschaffen von Vincenzo Vela (1829-1891). Vela war zu der Zeit einer der bekanntesten Bildhauer der Schweiz und Italiens. Er lebte lange in Mailand, später musste er nach Turin umziehen. Vela hatte 1848 gegen die österreichische Fremdherrschaft in der Lombardei gekämpft und wurde deswegen ausgewiesen. Er stand auf der Seite des italienischen Risorgimento, der die nationale Unabhängigkeit und Einheit Italiens anstrebte.
Seinen Tell schuf Vela im Auftrag von Giacomo Ciani, Hotelier und radikal-republikanischer italienischer Exilant. Tell erscheint in Lugano ohne Walterli und ohne Apfel. In einfacher Kleidung und mit gesenktem Haupt streckt Tell den freiheitsbringenden Pfeil in die Höhe. Auch für Vela war Tell ein Symbol: Der Urner Schütze als Vorbild für die Kämpfenden des Risorgimento. Die Geschichte der Schweiz inszeniert und verklärt als universales Beispiel der nationalen Unabhängigkeit.
Ist der Tell in Loco am Ende schlicht eine Hommage an Vincenzo Vela? Oder wollte Peverada an Velas Aussage anknüpfen und mit seiner Skulptur zum Ende des 19. Jahrhunderts an all die romantisierten Einigungskriege der vergangenen Jahrzehnte erinnern?


