Die protestantischen Familien aus Locarno auf der Flucht über den Zürichsee, Tafelbild aus dem 17. Jahrhundert.
Die protestantischen Familien aus Locarno auf der Flucht über den Zürichsee, Tafelbild aus dem 17. Jahrhundert. Privatbesitz Familie von Orelli / Foto: Archiv der Familie von Muralt in Zürich

Die Protes­tan­ten von Locarno

Es wird oft vergessen, dass Locarno ein Brennpunkt der konfessionellen Konflikte war. Die Protestanten in Locarno und ihre anschliessende Vertreibung im Jahr 1555 lösten unter den Eidgenossen heftige Auseinandersetzungen und grosses Misstrauen zwischen den Konfessionen aus.

James Blake Wiener

James Blake Wiener

James Blake Wiener ist Historiker, Mitbegründer der World History Encyclopedia, Autor und PR-Spezialist, der in Europa und Nordamerika als Dozent tätig ist.

Die Alte Eidgenossenschaft brachte in den Italienischen Kriegen zwischen 1495 und 1513 einen grossen Teil des heutigen Tessins unter ihre Kontrolle. Locarno, das früher zum Herzogtum Mailand gehörte, fiel unter die gemeinsame Herrschaft der zwölf Schweizer Kantone, die am Krieg der Heiligen Liga teilnahmen. Die Stadt und ihr Umland zählten zu den ennetbirgischen Vogteien. Es handelte sich um eine von Eidgenossen verwaltete gemeinsame Herrschaft (Gemeine Herrschaften) über die Alpen. Rotierende Landvögte übten ihr Amt für eine Amtszeit von zwei Jahren aus, während die regierenden Kantone wichtige politische Fragen auf den häufig stattfindenden Tagsatzungen überwachten und diskutierten. Einige Macht befand sich jedoch weiterhin in den Händen der Locarneser: Ein aus 21 Männern bestehender Landschaftsrat überwachte die täglichen Regierungsgeschäfte, während die Capitanei, die sich aus lokalen Adligen zusammensetzten, beträchtlichen wirtschaftlichen und politischen Einfluss ausübten. Der Landschreiber von Locarno war wohl der mächtigste Mann im Territorium, da er  zwischen den wechselnden Landvögten und der Elite aus Locarno vermittelte. Diese Position war zudem unbefristet und sicherte ihm politischen Einfluss.
Die Ennetbirgischen Vogteien der Alten Eidgenossenschaft.
Die ennetbirgischen Vogteien der Alten Eidgenossenschaft. Wikimedia / Marco Zanoli
Die Reformation Zwinglis hatte bis in die späten 1530er-Jahre kaum Auswirkungen auf Locarno und die ennetbirgischen Gebiete. Die katholischen und die reformierten Kantone verwalteten die Vogtei Locarno weiterhin gemeinsam und ohne Feindseligkeiten. Dennoch ist bekannt, dass ein gewisser Baldassare Fontana, ein in Locarno tätiger Karmelitermönch, 1531 einen Brief nach Zürich schrieb, in dem er um Bücher und andere Dokumente der protestantischen Reformatoren bat. Kurz darauf bildete sich langsam ein protestantisches Netzwerk von Predigern und Pädagogen, aus dem sich die evangelische Gemeinde von Locarno entwickelte. Der Priester und Schulmeister Giovanni Beccaria, der ab 1535 in der Umgebung von Locarno tätig war, trug entscheidend zur Gründung der reformierten Gemeinde bei. Beccaria stammte aus einer prominenten Mailänder Familie und war Lehrer an einer angesehenen Schule, die an das Kloster San Francesco in Locarno angeschlossen war. Irgendwann um das Jahr 1539 erlebte Beccaria sein evangelisches Erwachen – er stellte fest, dass das Heil allein durch den Glauben erreichbar sei. Aus Angst vor Repressalien versuchte Beccaria  zunächst, religiöse Kontroversen zu vermeiden, indem er evangelische Predigten hielt, während er die katholische Messe weiterhin respektierte.
Kirche und ehemaliges Kloster San Francesco in Locarno.
Kirche und ehemaliges Kloster San Francesco in Locarno. Wikimedia
Da Beccaria jedoch ein begnadeter Dozent und leidenschaftlicher Prediger war, weckte seine abweichende Lehre bald das Interesse seiner begabtesten Schüler, Taddeo Duno und Martino Muralto. Sie gehörten zu den ersten, die zum reformierten Glauben übertraten. Ab 1542 begannen zudem zwei Prediger, die der Kirchenreform offen gegenüberstanden, der Minorit Benedetto Locarno und der Franziskaner Cornelius von Sizilien (Cornelio di Sicilia), protestantische Predigten zu halten. Es ist historisch belegt, dass Benedetto Locarno bereits in den späten 1530er-Jahren eng mit Beccaria zusammengearbeitet hatte. Die Rolle der Deutschschweizer Reformatoren und Politiker war ebenfalls entscheidend für die Etablierung des Protestantismus in Locarno. Der protestantische Landvogt Joachim Bäldi aus Glarus sorgte in den 1540er-Jahren für einen stetigen Strom protestantischer Texte und Pamphlete nach Locarno, und Beccaria trat 1544 in einen regen und freundschaftlichen Briefwechsel mit dem in Zürich ansässigen Reformatoren Konrad Pelikan.
Konrad Pelikan, anonym, 1590-1600.
Konrad Pelikan, anonym, 1590-1600. Schweizerisches Nationalmuseum

Die Zahl der Gläubigen nimmt von Tag zu Tag zu, obwohl der Antichrist durch seine Irrlehrer nicht aufhört, diejeni­gen zu unterdrü­cken, von denen er weiss, dass sie reine und treue Ansichten über Christus haben.

Giovanni Beccaria in einem Brief an Konrad Pelikan im April 1546
Die Katholiken in Locarno begannen sich Ende der 1540er-Jahre angesichts der steigenden Zahl von Konvertiten Sorgen zu machen. Die Befürchtung, dass sich das Tessin zu einem Bollwerk des reformierten Glaubens entwickeln könnte, schien nach der Ausweisung von Gabriele Benedetti 1545 aus Lugano begründet. Benedetti hatte in Morcote eine evangelische Botschaft verkündet. Die Besorgnis der katholischen Lorcarneser wurde bald auch von den Eliten in den katholischen Kantonen aufgegriffen. 1548 riet der scheidende Landvogt Jakob Feer aus Luzern den katholischen Politikern der Schweiz, Beccaria sofort zu verbannen. Diese Meinung teilte auch der gläubige Katholik Walter Roll von Uri, der von 1540 bis 1556 Landschreiber in Locarno war. Die Protestanten von Locarno verstiessen eindeutig gegen die Erlasse des Zweiten Kappeler Landfriedens von 1531, der es den eidgenössischen Orten gestattete, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen.
Der Zweite Kappeler Landfrieden von 1531, der die konfessionelle Landkarte der Eidgenossenschaft prägte.
Der Zweite Kappeler Landfrieden von 1531, der die konfessionelle Landkarte der Eidgenossenschaft prägte. Staatsarchiv des Kantons Zürich
Die engen Beziehungen zwischen den Protestanten in Locarno und Zürich bestätigten die schlimmsten Befürchtungen der katholischen Kantone. Sie sahen ein gefährliches Spiel des religiösen und politischen Umsturzes auf sich zukommen. Die religiöse Einheit in Locarno war für die Aufrechterhaltung des Friedens in der Alten Eidgenossenschaft unerlässlich. Die katholischen Kantone beschlossen, dass eine theologische Disputation notwendig sei, um die Aufrichtigkeit der protestantischen Gemeinschaft in Locarno zu prüfen. Diese Disputation, die am 5. August 1549 stattfand, verlief katastrophal. Auf die direkte Frage des katholischen Statthalters Nikolaus Wirz aus Unterwalden, ob er an die Kernsätze der katholischen Kirche glaube, gab Beccaria keine angemessene Antwort. Wirz liess Beccaria nach der Disputation sofort verhaften, verbannte ihn aber aufgrund seiner Popularität und aus Angst vor einem Volksaufstand aus Locarno. Beccaria floh nach Mesocco im bündnerischen Val Mesolcina, und sein ehemaliger Schüler Duno entwickelte sich zur führenden Persönlichkeit unter den Locarneser Protestanten.
Der Reformator Beccaria in Locarno, 1549. Radierung von 1835.
Der Reformator Beccaria bei der Disputation in Locarno, 1549. Radierung von 1835. e-rara
1551 veröffentlichten die Protestanten von Locarno ein Glaubensbekenntnis in lateinischer Sprache, das mit den Lehren der reformierten Schweizer Kirchen übereinstimmte. Trotz der Anwesenheit von drei aufeinanderfolgenden protestantischen Landvögten in Locarno in den Jahren 1550 bis 1556 – Hans Jeudenhammer aus Basel, Kaspar Stierli aus Schaffhausen und Esaias Röuchli aus Zürich – war keiner von ihnen in der Lage, Walter Roll herauszufordern, der entschlossen war, den Protestantismus aus Locarno auszumerzen. Inspiriert von den Beschlüssen des Konzils von Trient, fühlte sich Roll in seinem Vorgehen gegen den Protestantismus bestärkt. In seinen Bemühungen fand er viele Unterstützer. Bereits 1550 nahm eine Delegation prominenter Locarneser an der Eidgenössischen Tagsatzung teil und verkündete ihre Loyalität zur katholischen Kirche. In den Jahren 1553 und 1554 befahlen die Katholiken in Locarno allen Einwohnern, an den Osterfeiertagen zur Beichte zu gehen und die Eucharistie zu empfangen. Seltsamerweise befolgten die meisten Protestanten die Anordnungen ihrer örtlichen Beamten, was vielleicht auf ihre Bedrängung hindeutet. Die Locarneser Protestanten waren zunehmend auf geistige und materielle Unterstützung aus Zürich angewiesen, wie die zahlreichen Briefe zwischen Duno und dem Zürcher Reformatoren Heinrich Bullinger belegen.
Erster Brief von Taddeo Duno an Heinrich Bullinger vom 9. August 1549.
Erster Brief von Taddeo Duno an Heinrich Bullinger vom 9. August 1549. Bullinger digital / Staatsarchiv Zürich
Obwohl Bullinger die protestantischen Locarneser stark unterstützte und sie sogar gegen den Vorwurf des Täufertums verteidigte, waren die politischen und religiösen Eliten in den anderen reformierten Kantonen weniger empfänglich für ihre Notlage. Bern war weit mehr an der Übernahme und Integration der Grafschaft Greyerz interessiert als am Schicksal der Protestanten von Locarno. Die Aufrechterhaltung des Friedens und der Stabilität entlang der Westgrenze zu Savoyen war ein zusätzliches Anliegen, das durch den Ausbruch des Italienischen Krieges 1551 noch verstärkt wurde. Die Feindschaft mit den Schweizer Katholiken war ein Risiko, das die Berner nicht eingehen wollten. Basel und Schaffhausen ihrerseits fehlten die Entschlossenheit und die materiellen Mittel, um eine Auseinandersetzung mit den Schweizer Katholiken im Namen der Protestanten von Locarno zu führen. Im Oktober 1554 erklärten deshalb Bern, Basel und Schaffhausen, dass die katholische Mehrheit in Locarno zu respektieren sei. Sie bestätigten, dass die Anwesenheit von Protestanten in Locarno eine Übertretung des Zweiten Kappeler Landfriedens darstellte. Zürich protestierte gegen diese Beschlüsse.

Die Kirche ist der Weinberg Gottes.

Heinrich Bullinger
Im November und Dezember 1554 trat die Eidgenössische Tagsatzung in Baden zusammen. Dank der Intervention von Othmar Kunz von Appenzell und Aegidius Tschudi von Glarus kam es zu einem Kompromiss, der die konfessionellen Gegensätze entschärfte. Die Protestantinnen und Protestanten in Locarno sollten ermutigt werden, zum Katholizismus überzutreten. Diejenigen, die aber ihrem reformierten Glauben treu bleiben wollten, wurden gezwungen, bis zum 3. März 1555 auszuwandern. Als Reaktion darauf boykottierte Zürich den Kompromiss. Im Januar 1555 trafen Abgesandte aus den katholischen Kantonen der Alten Eidgenossenschaft in Locarno ein, um den Beschluss der Tagsatzung zu verkünden und den Prozess der Konvertierung und Auswanderung abzuwickeln. Die ländlichen Gemeinden in der Umgebung der Stadt waren mehrheitlich katholisch geblieben und hielten ohne Zögern am angestammten Glauben fest. In der Stadt selbst entwickelten sich die Ereignisse langsamer. Von den fast 4000 Einwohnerinnen und Einwohnern erklärten sich 211 Personen – 71 Männer, 54 Frauen und 86 Kinder – als protestantisch. Nach einer Zeit intensiver Schikanen und erzwungener Konversion wurde diese Zahl um die Hälfte reduziert. Am 3. März 1555 verliessen 100 Personen Locarno in Richtung Zürich, wo sie zwei Monate später, Mitte Mai 1555, ankamen.
Tafelbilder aus dem 17. Jahrhundert berichten von den Geschehnissen bis zur Auswanderung der protestantischen Familien aus Locarno nach Zürich. Privatbesitz Familie von Orelli / Foto: Archiv der Familie von Muralt in Zürich
Der Auszug der protestantischen Familien im Jahr 1555 aus Locarno, dargestellt mit ihren Familienwappen.
Der Auszug der protestantischen Familien im Jahr 1555 aus Locarno, dargestellt mit ihren Familienwappen. Archiv der Familie von Muralt in Zürich
Bullinger traf die Flüchtlinge persönlich und setzte sich für sie ein. Ihm ist es zu verdanken, dass die bedrängten Locarneser in der Zürcher St. Peterskirche ihre Gottesdienste auf Italienisch endlich frei abhalten konnten. Die meisten Zürcherinnen und Zürcher begegneten den Flüchtlingen aus Locarno jedoch mit Argwohn und Misstrauen. Aus historischen Aufzeichnungen geht hervor, dass die Zürcher Zünfte befürchteten, die Zugezogenen aus Locarno würden ihren Status als Flüchtlinge nutzen, um sich vor allem wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen. Einige Locarneserinnen und Locarneser zogen später nach Basel, Graubünden und ins Veltlin, um neue wirtschaftliche Möglichkeiten und Unternehmungen zu verfolgen. Andere blieben in Zürich, wo es ihnen trotz regelmässiger sozialer und religiöser Spannungen gelang, erfolgreiche Unternehmen aufzubauen. Sie nutzten ihre italienische Muttersprache und bauten Netzwerke mit anderen italienischsprachigen Emigrierten auf, die ihren Glauben und ihre Geschäftsinteressen teilten. Mit der Zeit erhielten die Familien Duno, Muralto, Orelli und Pestalozzi die Staatsbürgerschaft. Seither spielen sie eine wichtige Rolle in der sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Geschichte Zürichs.
Das Muraltengut in Zürich gehörte einst dem Politiker und Industriellen Hans Conrad von Muralt.
Das Muraltengut in Zürich gehörte einst dem Politiker und Industriellen Hans Conrad von Muralt. Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich
Die Buchhandlung Orell Füssli geht auf eine reformierte Druckerei zurück, an der die Familie Orelli, später eingedeutscht Orell, beteiligt war.
Die Buchhandlung Orell Füssli geht auf eine reformierte Druckerei zurück, an der die Familie Orelli, später eingedeutscht Orell, beteiligt war. Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich

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