Die Zürcher Guillotine wurde 1836 an einem Schaf getestet. Illustration von Marco Heer
Die Zürcher Guillotine wurde 1836 an einem Schaf getestet. Illustration von Marco Heer

Der Guillo­ti­nen­bau­er

Johann Bücheler war ein gewöhnlicher Schreiner aus Kloten. 1836 erhielt er vom Kanton Zürich den Auftrag, eine Guillotine zu bauen. Danach war ein normales Leben nicht mehr möglich.

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw ist promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller. Er veröffentlicht regelmässig historische Bücher.

Johann Bücheler fertigt in seiner Holzwerkstatt Stühle, Tische und Schränke – bis er einen delikaten Auftrag vom Polizeirat des Kantons Zürich bekommt. Er soll nach Genf reisen, um dort die erste Guillotine der Schweiz zu studieren. Denn der Kanton Zürich, neuerdings von Liberal-Radikalen regiert, will nicht länger gruselige Spektakel mit manuellem Enthaupten durchführen. Das fachgerechte Köpfen ist anspruchsvoll und ging in der Vergangenheit mehrfach daneben. Stattdessen möchte man in Zürich sauberes und rationelles Töten, wie es die französische Guillotine erlaubt. Das maschinelle Töten per Fallbeil hat sich seit der Französischen Revolution bewährt und soll bald auch in Zürich zur Anwendung kommen.
Mit der Französischen Revolution verbreitete sich auch die Guillotine in ganz Europa.
Mit der Französischen Revolution verbreitete sich auch die Guillotine in ganz Europa. Wikimedia
Deshalb besteigt Johann Bücheler am 28. Januar 1836 die Postkutsche nach Genf – wie Melinda Nadj Abonji und Michael Marti 1996 recherchiert und im «Das Magazin» publiziert haben. Bücheler ist allerdings nicht die erste Wahl: Zuvor war ein Schreiner Danner dorthin geschickt worden, doch diesen ergriff eine «Gemüthskrankheit in so hohem Grade», das er bald vom Auftrag Abstand nahm, wie die Akten berichten. Danner wollte nicht sein «bisher frohes Gemüth» dieser delikaten Aufgabe opfern. Johann Bücheler kennt diese Gefühle nicht, er sieht sich die Genfer Tötungsmaschine ganz genau an, lässt sich die Funktionsweise erklären und vermisst mit Gehilfen die Einzelteile, sodass sie dann anfangen, mit vereinten Kräften die Guillotine zu reproduzieren. «Mechanicus» Bücheler wohnt im Hotel Lion d’Or, isst und trinkt gut und belohnt seine Assistenten mit üppigen Trinkgeldern. Die Pfeiler sind aus Eichenholz gefertigt, zwischen denen das Beil hochgefahren und hinuntergelassen werden kann. Mit einem Seil kann Bücheler den Mechanismus des hinunterschnellenden Beils in Gang setzen. Es funktioniert, und nach sechs Wochen ist das Gerät fertig: 3,93 Meter hoch, 74 Zentimeter breit und 2,12 Meter tief. Die Gehilfen zerlegen die Guillotine in ihre Einzelteile, verpacken diese in Holzkisten, und Bücheler reist damit zurück nach Zürich.
Die Guillotine von Luzern.
Die Guillotine von Luzern. © MUSEUM LUZERN / Foto: Theres Bütler
In der Strafanstalt Oetenbach setzen im März 1836 Sträflinge die Teile zur Tötungsmaschine zusammen. Der Polizeirat schaut gespannt zu, als der erste Versuch stattfindet. Dazu erküren die Beamten ein Versuchstier, nämlich ein Schaf – um nicht vom Unschuldslamm zu sprechen. Der Versuch gelingt, das Tier wird sauber geköpft, die Maschine beweist ihre Funktionstüchtigkeit. Bücheler bekommt für seine Arbeit 160 Franken. Die Guillotine kostet den Kanton Zürich mit allen Löhnen, Spesen, dem Material und den Unterkünften 1555 Franken. Das Tötungsgerät wird, weil so gross, wieder zerlegt und in Kisten gelegt. Diese verstaut man im Estrich der Zürcher Strafanstalt.
Die Strafanstalt Oetenbach in Zürich auf einem Bild von 1900.
Die Strafanstalt Oetenbach in Zürich auf einem Bild von 1900. Wikimedia
Als im Luzernischen das manuelle Köpfen mit Schwert oder Beil ebenfalls aufhören soll, wendet sich Bücheler an den Kanton Luzern und bietet dort seine Tötungsmaschine an. Im September 1836 fährt der Handwerker mit unauffälligen Holzkisten nach Luzern – und verkauft eine neue Guillotine. Zum Testen schnallen die Luzerner einen Widder auf das Liegebrett; das Fallbeil saust nach unten, doch das Beil fällt «nicht gehörig», wie man es damals beschreibt, und haut dem Tier den Kopf nicht ganz ab. In der Folge untersuchen zwei Handwerker das Gerät. Sie erkennen, dass die Naht, in welcher das Messer läuft, ohne Ölfarbe sein müsste, stattdessen sollen «Wasserbley und Saifen» die Fallgeschwindigkeit der Klinge beschleunigen. Das hilft und Bücheler kehrt zufrieden nach Zürich.

Geächtet statt geachtet

Doch Bücheler ist aufgrund der Guillotine jetzt ein geächteter statt ein geachteter Mann, so gilt er doch als der neue Henker. Als er in den mechanischen Werkstätten der Escher Wyss & Comp. um Arbeit nachsucht, wird er trotz seiner Erfahrung abgewiesen. Auch sonst bekommt er keine Aufträge mehr; er wird wie früher die Scharfrichter ausgegrenzt. Die Maschine, schreibt er dem Polizeirat, habe ihn in «eine thrurige Lage» gebracht, er könne ««kein Brod mehr finden», obwohl er Frau und Kind zu ernähren habe. Der Polizeirat empfiehlt eine Anstellung in der Strafanstalt, doch der dortige Direktor winkt ab, ein Guillotinenbauer passe nicht als Staatsdiener. Der Schreiner signiert seine verzweifelten Briefe mit «Bücheler der Unglückliche». Er bleibt es, denn nach dem «Züri-Putsch» von 1839 kehrt der politische Wind im Kanton Zürich. Die Konservativen übernehmen die Macht und drehen das Rad der Zeit zurück. Das maschinelle Hinrichten mit der Guillotine wird verboten, der Schwerthieb durch den Scharfrichter ist bei der Todesstrafe wieder angesagt. Büchelers Maschine bleibt, wo sie ist: irgendwo eingelagert.
Während des Alten Zürichkrieges wurden 1444 in Greifensee 62 Männer enthauptet. Nach dem Züri-Putsch kehrten die Zürcher Behörden zurück zu dieser Hinrichtungsmethode.
Während des Alten Zürichkrieges wurden 1444 in Greifensee 62 Männer enthauptet. Nach dem Züri-Putsch kehrten die Zürcher Behörden zurück zu dieser Hinrichtungsmethode. e-rara
Bücheler fürchtet um seine Existenz. Deshalb baut er 1840 in seiner Werkstatt eine neue Guillotine, sie ist aber nur gerade 150 Zentimeter hoch und 60 Zentimeter breit – ein Vorzeigemodell, das voll funktioniert. Damit überzeugt Bücheler die Kantone Thurgau und St.Gallen, die sich seine Dienste sichern. Bis dahin zeigt er die Bonsai-Version als Schausteller dem interessierten Publikum, zuerst auf der Strasse Zürich–Klotens, dann im Löwen in Kloten. Dazu köpft er mit dem Fallbeil Selleriestangen, was dem Publikum ein paar Münzen entlockt.
Modell der Luzerner Guillotine.
Modell der Luzerner Guillotine. © MUSEUM LUZERN / Foto: Theres Bütler
Schliesslich kommt Büchelers Maschine im Echtformat doch noch in Zürich zum Einsatz, weil der politische Wind abermals aus anderer Richtung bläst. Die beiden Raubmörder Jakob Lattmann und Heinrich Sennhauser sollen hingerichtet werden – dazu wird Büchelers Tötungsmaschine ausgepackt, zusammengesetzt und nochmals überholt. Am 15. Juli 1845 saust das Fallbeil zweimal nieder. Bücheler hatte sich zwar für die Bedienung seiner Maschine anerboten, doch waren ihm professionelle Scharfrichter aus Rheinfelden und Genf vorgezogen worden. Und so ist Bücheler bloss einer der vielen Zuschauenden im Zürcher Schanzengebiet. Über das weitere Leben des «Mechanicus» ist nur wenig bekannt. Er zieht nach Baselland, und wenig später erzählt man sich in Kloten, Bücheler sei ab nach Frankreich. Auf jeden Fall wird seine Familie armengenössig – es ist das traurige Ende einer unglücklichen Geschichte.

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