1994 musste der Bundesrat, hier Arnold Koller, Otto Stich und Flavio Cotti (von links) an der Abstimmungsurne Einiges einstecken.
1994 musste der Bundesrat, hier Arnold Koller, Otto Stich und Flavio Cotti (von links) an der Abstimmungsurne Einiges einstecken. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL

Aussen fix, innen nix

Selten zeigte sich so deutlich wie 1994, dass in der Schweiz Innen- und Aussenpolitik auf das Engste miteinander verzahnt sind. Die Stimmbevölkerung widersetzte sich mehrfach dem internationalen Öffnungskurs des Bundesrats.

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser

Thomas Bürgisser ist Historiker bei der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis).

Das Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom 6. Dezember 1992 sollte kein Einzelfall bleiben. Das Jahr 1994 führte dem Bundesrat eindrücklich vor Augen, dass die internationale Ausrichtung seiner Politik systematisch starkem Gegenwind ausgesetzt war. Am 20. Februar erfolgte der erste Paukenschlag, als das Stimmvolk gegen den Widerstand der Landesregierung überraschend die sogenannte Alpen-Initiative annahm. Die Umsetzung des neuen Verfassungsartikels zum Schutz des Alpengebiets vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs stellte den Transitvertrag mit der Europäischen Union (EU) und die Verhandlungsposition der Schweiz im heiklen Verkehrsdossier in Frage. Das Abstimmungsergebnis machte die Schweiz zum unsicheren Partner in Europa. Prompt fror Brüssel die Vorarbeiten zu den Verhandlungen über bilaterale sektorielle Verträge, welche die Schweiz mit der EU als Kompensation für den EWR-Beitritt abschliessen wollte, vorübergehend ein. Der Bundesrat war abermals vom eigenen Volk ausgebremst worden.
TV-Beitrag über die Sieger der Alpen-Initiative vom Februar 1994. YouTube/SRF
Noch deutlicher wurde dies am 12. Juni. Alle drei eidgenössischen Vorlagen scheiterten an der Urne. Sowohl der Kulturförderungsartikel wie die erleichterte Einbürgerung für junge Ausländer wurden von Volk und Ständen abgelehnt. Am deutlichsten scheiterte mit über 57% Nein-Stimmen das Bundesgesetz über schweizerische Truppen für friedenserhaltende Operationen. Nicht nur würde kein schweizerisches Blauhelm-Bataillon der UNO zur Verfügung gestellt werden. Mit dem «Nein» schien der vom Bundesrat verfolgte Kurs einer weiteren Öffnung der schweizerischen Aussen- und Sicherheitspolitik in seiner Gesamtheit in Frage gestellt. Aufgrund der dreifachen Abstimmungsniederlage sah sich der Bundesrat mit einem allgemeinen Vertrauensverlust konfrontiert. Das Land sei gespalten, hielten die Regierungsmitglieder an einer Krisensitzung fest. Gemäss Bundesrat Flavio Cotti, dem Vorsteher des Aussendepartements, sei das politische System in der Schweiz mit einer neuen Art von Opposition konfrontiert, die vom grossen Sieger der EWR-Abstimmung, dem Zürcher SVP-Nationalrat Christoph Blocher und dessen starken «Erosionskraft» verkörpert werde. «Das Schlimmste wäre es aufzugeben, Blocher Recht zu geben und in unseren aussenpolitischen Bemühungen zu kapitulieren», gab Cotti kämpferisch zu Protokoll.
Schweizer Blauhelme? Der Bundesrat meinte ja, das Volk war allerdings dagegen.
Schweizer Blauhelme? Der Bundesrat meinte ja, das Volk war allerdings dagegen. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
Auch der Asylpolitik drohte von Rechtsaussen ein Eingriff in die internationalen Beziehungen der Schweiz. Fremdenfeindliche Parolen heizten den öffentlichen Diskurs über Missbräuche im Flüchtlingswesen sowie über Asyl und Zuwanderung im Allgemeinen an. Die von den nationalistischen Partei Schweizer Demokraten 1990 lancierte Volksinitiative «für eine vernünftige Asylpolitik» hätte im Falle einer Annahme die Schweiz zu einer Abkehr der Non-Refoulement-Bestimmungen gezwungen. Dem Verbot der Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Verfolgung droht, hatte sich die Schweiz in verschiedenen völkerrechtlichen Konventionen verpflichtet. Der schweizerische Justizminister empfahl deshalb der Staatspolitischen Kommission des Ständerats im November 1994 die Initiative Volk und Ständen gar nicht erst zur Abstimmung zu unterbreiten. Mit einem solchen «vollständigen Bruch mit der humanitären Tradition unseres Landes», so Bundesrat Arnold Koller, «würden wir aufhören, ein Rechtsstaat zu sein, und wären international isoliert.» Es war dies das erste Mal überhaupt, dass der Bundesrat eine Volksinitiative als ungültig erklären wollte, weil sie unvereinbar mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz war. Das Parlament folgte dieser Empfehlung im März 1996. Um kritische Stimmen zu besänftigen, stützte Bundesrat Koller seine Argumentation auf die Tatsache, dass die Asylzahlen seit der Einreichung der Initiative gesunken seien und die Regierung neu Zwangsmassnahmen bei der Wegweisung krimineller Asylbewerber und Ausländer vollziehen würde.
Arnold Koller und der Bundesrat setzten sich durch: Die «Asyl-Initiative» der Schweizer Demokraten wurde für ungültig erklärt. Titelseite des Thuner Tagblatts vom 24. Juni 1994.
Arnold Koller und der Bundesrat setzten sich durch: Die «Asyl-Initiative» der Schweizer Demokraten wurde für ungültig erklärt. Titelseite des Thuner Tagblatts vom 24. Juni 1994. e-newspaperarchives
Schliesslich geriet auch der Beitritt der Schweiz zur Antirassismus-Konvention der Vereinten Nationen zum nationalen Politikum. Die Übernahme der UNO-Bestimmungen machte eine Erweiterung des Strafrechts notwendig, gegen die das Referendum ergriffen wurde. Im Abstimmungskampf warnten die rechtspopulistische Freiheitspartei, die Lega dei Ticinesi und die Schweizer Demokraten vor einer unzulässigen Einschränkung der Redefreiheit und einer unerwünschten Annäherung an die UNO. Solcher Stoff war eine Steilvorlage für die Arena. Die vom Schweizer Fernsehen im Sommer 1993 lancierte Polit-Diskussionssendung hatte sich rasch zu einem zentralen Forum entwickelt, in dem sowohl innen- wie aussenpolitische Themen publikumswirksam debattiert wurden. Ob und wie sich Mitglieder des Bundesrats in dieses neue und ungewohnte Format einbringen sollten, diskutierte die Landesregierung in einer Sitzung ausführlich. Verkehrsminister Adolf Ogi hatte seinen missglückten Auftritt in der Sendung über die Alpen-Initiative zu verdauen und Bundesrat Kaspar Villiger – der sich anlässlich der Blauhelm-Vorlage der Arena verweigert hatte – stellte grundsätzlich in Frage, dass Regierungsmitglieder «in Zirkuskämpfe gegen Parlamentarier» antreten sollten. Für Otto Stich, der im Jahr 1994 als Bundespräsident amtete, war die «Teilnahme an kontradiktorischen Sendungen» dagegen kein Problem. Er anerbot sich, am 16. September mit den Gegnern der Vorlage in den Ring zu steigen. Der bünzlig wirkende Sozialdemokrat aus dem Solothurner Schwarzbubenland, der als Finanzminister für einen konsequenten Sparkurs einstand, trug mit seiner unprätentiösen Performance in der Arena vielleicht zur (knappen) Annahme der Antirassismus-Strafnorm bei.
TV-Sendung Arena im September 1994 mit Bundesrat Otto Stich. SRF
Im Herbst 1994 liess sich die EU vom bundesrätlichen Konzept zur Umsetzung der Alpen-Initiative überzeugen und beendete ihre «Denkpause», womit die Vorbereitungsarbeiten für die bilateralen Verhandlungen weitergehen konnten. Neben dem Verkehrsbereich war die Frage der Personenfreizügigkeit das mit Abstand delikateste Dossier. Dies betraf das Innen wie das Aussen. Denn einerseits hatten EU-Mitgliedstaaten wie Spanien, Portugal und Italien ein besonderes Interesse daran, den Zugang ihrer Bürgerinnen und Bürger zum schweizerischen Arbeitsmarkt aufzuwerten und sie bezüglich der Anerkennung von Diplomen und dem Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherungen besser zu stellen. Brüssel erachtete den freien Personenverkehr zudem als zentralen Bereich, um Konzessionen, die der Schweiz in anderen Sektoren zugestanden würden, zu kompensieren. Sollte der Bundesrat sich nicht kompromissbereit zeigen, riskierte er einen Abbruch der Verhandlungen durch die EU. Auf der anderen Seite hatte der mittlerweile omnipräsente Nationalrat Blocher bereits mit dem Referendum gedroht, falls in dem Abkommen zu viele Zugeständnisse gemacht würden. Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund setzte die Regierung unter Druck, indem er in einem Brief ultimativ flankierende Massnahmen forderte, damit die angestrebte «Liberalisierung nicht zu Lohn- und Sozialdumping» führen würde. Als der Bundesrat im Dezember sein Verhandlungsmandat verabschiedete, musste er also zwischen «zwei Übeln» wählen. Schliesslich entschied er sich aus innenpolitischer Rücksichtnahme dafür, seinen Unterhändlern nur einen begrenzten Verhandlungsspielraum auf ausgewählte Teilbereiche der Personenfreizügigkeit zuzugestehen.
Rede von SVP-Nationalrat Christoph Blocher, 1992.
Nationalrat Christoph Blocher setzte die Landesregierung nach dem Sieg in der EWR-Abstimmung gehörig unter Druck. Schweizerisches Nationalmuseum / ASL
In seinem im November 1993 verabschiedeten «Bericht über die Aussenpolitik der Schweiz in den 90er Jahren» trug der Bundesrat der «Zeitenwende» Rechnung, die mit den «epochalen Umwälzungen im östlichen Europa» seit 1989 und dem Ende des Kalten Kriegs eingetreten war. Ob es um die europäische Integration, um Sicherheitspolitik, Umweltfragen, Wirtschaft, Forschung, Entwicklung oder Migration ging: Mit Nachdruck stand die Regierung in ihren Zielvorgaben dafür ein, dass tragfähige Lösungen nur durch internationale Zusammenarbeit erreicht werden könnten. «Die aussenpolitische Öffnung wird zu einer notwendigen Voraussetzung für die innenpolitische Problembewältigung», hiess es da. Das Jahr 1994 offenbarte dagegen mit aller Deutlichkeit, dass die zunehmend polarisierte und medial aufgepeitschte Innenpolitik den aussenpolitischen Kurs der Schweiz nicht nur in Frage stellte, sondern auch weitgehend zu diktierten schien.

Neu zugäng­li­che Archiv­do­ku­men­te online

Die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz veröffentlichte am 1. Januar 2025 auf der Internetdatenbank Dodis rund 1700 historische Quellen zur Schweizer Aussenpolitik im Jahr 1994 – pünktlich zum Ablauf der Schutzfrist der relevanten Dossiers aus dem Schweizerischen Bundesarchiv. Die im Text zitierten Dokumente und zahlreiche weitere Akten zu den internationalen Beziehungen der Schweiz sind online verfügbar.

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