Der Leuchter in der Kirche von Rothenthurm, wo er seit 1995 den Innenraum verschönert.
Der Leuchter in der Kirche von Rothenthurm, wo er seit 1995 den Innenraum verschönert.   Michael van Orsouw

Jerusalem in Rothenthurm

Dies ist die Geschichte eines politischen Flüchtlings in der Schweiz, der er es zum Kaiser Frankreichs brachte. Und auf seinem Weg einige Spuren hinterliess. Auch solche, die bis heute hell leuchten.

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw

Michael van Orsouw ist promovierter Historiker, Bühnenpoet und Schriftsteller. Er veröffentlicht regelmässig historische Bücher.

Die Kirche Rothenthurm St. Antonius steht quer zur Landschaft und zur Hauptstrasse: Der hohe Giebel wirkt wie ein gebauter Riegel im Hochtal, der 65 Meter hohe Turm ist unübersehbar. Eine immense Länge des Kirchenbaus von 57 Metern weist das Gotteshaus auf, denn die Rothenthurmer Kirche sollte, so die Legende, grösser werden als jene in Schwyz. Und das soll sie sein, denn man sagt, sie überrage die nahe Konkurrenz genau um einen Fuss. Ebenso wenig zu übersehen ist auch der Kronleuchter, der im Innern der Kirche hängt: Er ist über fünf Meter hoch und hat einen Durchmesser von vier Metern! Das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zuerst ist der Leuchter viel älter als die Kirche, er stammt nämlich von 1865, während die Kirche erst 1940 ihre Einweihung erlebte. Doch das ist nicht aussergewöhnlich und kommt in vielen Kirchen hierzulande vor, dass ein Altar, ein Bild oder eine Skulptur viel älter ist als das Gebäude.
Aussensicht der Kirche.
Innensicht der Kirche.
Ansichten der Kirche St. Antonius in Rothenthurm. Michael van Orsouw
Aussergewöhnlich ist hingegen die Geschichte des Leuchters. Er ist quasi kaiserlich geadelt. Denn der französische Kaiser Napoleon III. schenkte das Schwergewicht 1865 dem Kloster Einsiedeln. Nur, was hat ein französischer Kaiser mit einem Schweizer Regionalkloster zu tun? Mehr, als man vermuten würde! Denn der Kaiser war in jungen Jahren – damals 1815 – mit seiner Mutter auf der Flucht. Louis Napoléon, wie er vormalig hiess, war nach dem Fall seines Onkel Napoléon Bonaparte ohne festen Wohnsitz und ohne klaren Plan am Umherirren: Es kommt einem die biblische Weihnachtsgeschichte in den Sinn. Das ist reichlich übertrieben, denn Hortense und ihr Prinz Louis-Napoléon sind zwar Verbannte, aber haben doch einiges mehr als nur einen Esel und Stall zur Verfügung, nämlich drei Kutschen für sich, ihre Bediensteten und das Gepäck. Bevor sie sich für kurze Zeit in Konstanz und dann für Jahre in Salenstein im Thurgau niederlassen, finden die französischen Flüchtlinge für ein paar Tage Unterschlupf im Kloster Einsiedeln. Dafür sind sie ewig dankbar.
Herrenporträt von Kaiser Napoleon III.
Herrenporträt von Kaiser Napoleon III. Schweizerisches Nationalmuseum

Der Kaiser spricht Thurgauer Dialekt

1865 kehrt Louis-Napoléon als Kaiser von Frankreich in die Schweiz zurück. Es ist ein triumphaler Empfang, der zu Ehren des einstigen Flüchtlings in seiner alten Heimat am Bodensee geboten wird: Bollerschüsse annoncieren den freudigen Besuch, der Salensteiner Männerchor bringt ein Ständchen, Triumphbögen schmücken die Strassen, ein grosses Feuerwerk erhellt den Nachthimmel. Napoleon III. freut sich, mit dem Thurgau «den Ort der glücklichen Jugendzeit» wiederzusehen und füllt auf Schloss Arenenberg eigenhändig die Kelche seiner Gäste mit Champagner. Er verteilt Auszeichnungen, schüttelt volksnah die Hände des jubelnden Publikums und spricht mit den Gästen in bestem Thurgauer Dialekt, den er noch immer beherrscht. Auch die «Konstanzer Zeitung» schwingt sich angesichts des kaiserlichen Besuchs zu poetischen Höhen empor: «Wie ein unberechneter Komet kam er blitzeschnell mit Dampfesflügeln dahergefahren, einen Schweif von Hofleuten und Mouchards hinter sich herziehend, und ist, nachdem man sich kaum vom Erstaunen erholt hatte, eben so geschwind wieder verschwunden, einen Goldregen über Arenenbergs Umgebung sprühend ...» Tatsächlich beschenkt der Kaiser die drei Kirchgemeinden mit insgesamt 30'000 Franken zugunsten der Armen in der Gegend.
Das Schloss Arenenberg im thurgauischen Salenstein, 1922.
Das Schloss Arenenberg im thurgauischen Salenstein, 1922. Schweizerisches Nationalmuseum
Weiter geht die Reise nach Einsiedeln, zum Kloster, das ihm und seiner Mutter einst Zuflucht geboten und wo er seine Erstkommunion empfangen hat. Der Kaiser beschenkt das Kloster mit dem prächtigen, vergoldeten Kronleuchter. Damit ist also der Bezug zwischen Einsiedeln und dem Kaiser geklärt. Aber Einsiedeln ist nicht Rothenthurm. Wie kommt also der Leuchter dorthin? Zunächst kommt das meisterhafte Werk aus der Pariser Goldschmiedewerkstatt von Louis Bachelet in den Predigtraum der Stiftskirche Einsiedeln, auch wenn der Leuchter nicht richtig in die barocke Welt der Klosterkirche passt. Zudem verdeckt er die freie Sicht auf die kunstvollen Deckenmalereien. Aber ein kaiserliches Geschenk, das schon damals einen ungemein hohen Wert von rund 40'000 Franken hat, will man nicht einfach verschmähen.
Druckgrafik des Klosters Einsiedeln aus dem 19. Jahrhundert.
Druckgrafik des Klosters Einsiedeln aus dem 19. Jahrhundert. Schweizerisches Nationalmuseum
Nach 88 Jahren ist dann aber genug: Das Kloster Einsiedeln schickt den gewichtigen Leuchter – immerhin 1200 Kilogramm schwer! – in den Ruhestand. Der Leuchter wird demontiert, in Teile zerlegt und nach Arth verkauft. Damit ist der Rothenthurmer Teil der Geschichte noch immer nicht erklärt. Dafür erhellt der zwei Meter hohe Innenteil des Leuchters jetzt während Jahrzehnten eine private Wohnstube. 1976 wird der Arther Arzt Norbert Kamer dorthin gerufen. Er sieht das prächtige Stück und erinnert sich daran, dass er den Leuchter seinerzeit in der Klosterkirche gesehen hat, damals als Klosterschüler. Kamer kauft daraufhin den Leuchter seinem sehr überraschten Patienten ab. Der Arzt lässt den Leuchter zerlegen, in 35 Jutesäcke verpacken und mit Ross und Heuwagen in seinen Keller transportieren. Kamer lagert ihn während fast 20 Jahren ein. Als der Schwyzer Denkmalpfleger Markus Bamert 1992 die Kirche Rothenthurm restauriert, erinnert er sich an den eingelagerten Leuchter. In einer Scheune lässt er den Leuchter probehalber aufhängen, erstellt Fotomontagen und überzeugt schliesslich die Kirchgemeinde Rothenthurm, dem kaiserlichen Leuchter ein Asyl zu geben. Die Einsiedler gaben einst dem Kaiser ein Obdach, die Rothenthurmer jetzt seinem Leuchter.
Blick auf Rothenthurm, um 1921.
Blick auf Rothenthurm, um 1921. ETH Bibliothek Zürich
Der Leuchter weist drei Stücke auf und 96 Leuchtstellen. Stilistisch mahnt er an mittelalterliche Radleuchter. Drei Ringe tragen ein Tempelchen im Innern des Leuchters, sogenannte Tempietto, die sich ikonografisch auf die Grabesrotunde in Jerusalem beziehen. In einem Schmelzüberzug aus Email sind verschiedenfarbige pflanzliche Motiven sowie transparente Gläser eingelassen. Der Leuchter hängt an einer geschmiedeten Eisenstange, die im Gewölbe des Kirchendachs befestigt ist. Weil der Leuchter so schwer ist, mussten die Zimmerleute den Dachstuhl massiv verstärken! Nach der Fertigstellung der Renovation 1995 entdeckte Denkmalpfleger Bamert eine Entwurfzeichnung für vier Leuchter in der Kirche St. Antonius: Es waren Miniaturversionen des kaiserlichen Leuchters. Sie wurden nie realisiert.

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