Selbstporträt von Charles Gleyre, zwischen 1830 und 1834 (Ausschnitt).
Selbstporträt von Charles Gleyre, zwischen 1830 und 1834 (Ausschnitt). Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne

Der Schweizer Lehrer der Impressionisten

Der Schweizer Maler Charles Gleyre (1806-1874) hatte im 19. Jahrhundert einen klangvollen Namen. In seinem Pariser Atelier lernten so unterschiedliche Maler wie Albert Anker und Auguste Renoir. Gleyre selber steht an der Schwelle zwischen Romantik und Impressionismus.

Barbara Basting

Barbara Basting

Barbara Basting war als Kulturredaktorin tätig und leitet derzeit das Ressort Bildende Kunst in der Kulturabteilung der Stadt Zürich.

Wer kennt noch den romantischen Helden Manfred? Im 19. Jahrhundert war er eine Art Popstar, der ähnlich wie Goethes Faust nach Erkenntnis strebte und daran verzweifelte. Erfunden hat Manfred 1817 der Dichter und Dandy Lord Byron für sein gleichnamiges «dramatisches Gedicht». Heute mutet dieses eher skurril an: Zunächst nimmt Manfred an einer Geisterbeschwörung teil und bittet Geister um die Gabe des Vergessens. Als daraus nichts wird, bricht er zusammen. So weit, so normal. Doch anderntags wacht er auf dem Berggipfel der Jungfrau auf, von wo er sich in den Tod stürzen will. In letzter Minute verhindert dies ein Gemsjäger. Nach einer Episode, in der Manfred die Gründe für das Schweigen der Geister erfährt, kehrt er erneut auf die Jungfrau zurück. Erneute Geisteranrufung, erneuter Misserfolg. Genau diese Szene hat unter anderem Charles Gleyre gemalt.
«Manfred invoquant l´esprit des Alpes», gemalt von Charles Gleyre, um 1825.
«Manfred invoquant l´esprit des Alpes», gemalt von Charles Gleyre, um 1825. Schweizerisches Nationalmuseum
Auf uns wirkt sie mindestens so bizarr wie Byrons Opus: Gestreifte Beinkleider, als sei Manfred ein wandernder Schweizergardist, nicht gerade bergtaugliche Schnabelschuhe, albern theatralische Pose am Abgrund wie für ein Selfie. Immerhin, die gespenstische Atmosphäre ist dank der Lichtregie ausserordentlich gelungen und dürfte auch heutige Fantasy-Fans ansprechen. Natürlich hatte der aus Chevilly in der Waadt stammende Gleyre die Jungfrau höchstens aus der Ferne gesehen. Auch Lord Byron hat während seines Schweizaufenthalts im Sommer 1816 bestenfalls von der Erstbesteigung des Bergs 1811 gehört. Gleyres Kabinettstück ist ein um 1825 entstandenes Frühwerk des Malers. Triumphe feierte er erst viel später, zunächst mit dem grossen Querformat «Le Soir».
«Le Soir» oder «Les Illusions perdues», gemalt von Charles Gleyre, um 1843.
«Le Soir» oder «Les Illusions perdues», gemalt von Charles Gleyre, um 1843. Musée du Louvre
Der Schmachtfetzen machte Gleyre 1843 zum Star des alljährlichen Akademiewettwerbs in Paris, des «Salons», in der damals tonangebenden Metropole der Kunst. Denn das Gemälde mit der märchenhaften Barke in der Dämmerung, auf der sich antikisch kostümierte Musen ihren Aktivitäten hingeben, während ein melancholischer Alter am Bildrand sinniert, traf einen Nerv. Es war eine Projektionsfläche für das «mal du siècle», die von Dichtern wie Alfred de Musset diagnostizierte bleierne Stimmung. Sie erfasste während der sogenannten «Julimonarchie» von König Louis Philippe eine ganze Generation, die für sich keine Perspektive mehr sah und vergangenen, nicht selten in einer fernen Antike angesiedelten Idealen nachtrauerte. Die napoleonischen Kriege waren verloren, die bürgerliche Julirevolution gescheitert, konservative Kräfte regierten durch. Gleyres Gemälde wurde sogleich als gemaltes Gegenstück zu Balzacs berühmtem Roman «Illusions perdues», «Verlorene Illusionen», interpretiert und vom Louvre angekauft.
Selbstporträt von Charles Gleyre, zwischen 1830 und 1834.
Selbstporträt von Charles Gleyre, zwischen 1830 und 1834. Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne
Gleyre hatte sich mühsam an die Spitze des damaligen Kunstbetriebs gekämpft. Weil das Bewusstsein für Kunst damals in der Schweiz unterentwickelt und eine künstlerische Ausbildung inexistent war, hatte er sich zunächst in Lyon und Paris ausbilden lassen, unter anderem als Aquarellist. Wie viele seiner Kollegen reiste er anschliessend nach Italien, um seine Skizzenbücher zu füllen. Doch seinen mehrjährigen Aufenthalt in Rom und Venedig ab 1828 konnte er kaum finanzieren. Als Schweizer kam er nicht an begehrte Stipendien wie den «Prix de Rome» der Franzosen für einen Aufenthalt in der Römer Villa Medici. So war es für ihn eine Chance, dass der ihm wohlgesonnene Maler Horace Vernet, seinerzeit Direktor der Villa Medici, Gleyre an den Bostoner Industriellen John Lowell vermittelte. Dieser suchte als Begleiter für seine Orientreise, die ab 1834 unter anderem via Griechenland nach Ägypten und schliesslich Indien führte, einen Zeichner und Aquarellisten. Kurz vor der Erfindung der Fotografie war dies die übliche Art, Reisen visuell zu dokumentieren. Lowell und Gleyre trennten sich zwar in Ägypten wegen Unstimmigkeiten, zumal beide zunehmend unter dem Klima und Infektionen litten. Bis dahin fertigte Gleyre zum Teil eindrückliche Aquarelle, die neben den damals bekannten Denkmälern aus der Pharaonenzeit auch die lokale Bevölkerung festhalten.
Charles Gleyre, «Der Tempel von Amun, Karnak», 1835.
Charles Gleyre, «Der Tempel von Amun, Karnak», 1835. Boston Museum of Fine Arts
Charles Gleyre, «Etude d’un Nubien», zwischen 1835 und 1837.
Charles Gleyre, «Etude d’un Nubien», zwischen 1835 und 1837. Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne
Als prägend für sein Werk erwiesen sich die starken atmosphärischen Eindrücke seiner langen Orientreise. «Le Soir» etwa erinnert an eine Flusspartie auf dem Nil à la mode. Die kecken rosa Schleifen im Empirestil scheint eine Pariser Modistin angebracht zu haben. Der Schweizer Kunsthistoriker Michel Thévoz hat zuletzt anlässlich der grossen Gleyre-Ausstellung im Pariser Musée d'Orsay 2016 das Gemälde «Le Soir» als frühe Essenz der von Selbstzweifeln geprägten künstlerischen Haltung Gleyres gesehen. Der melancholische Alte am Bildrand ist demnach eine Verkörperung des Künstlers, der mit dem neoklassizistischen Akademiestil hadert. Ohne sich davon lossagen zu können, musste er gespürt haben, wie steril und schal dieser war. Denn er drängte den Maler in die fragwürdige Rolle eines Theaterausstatters. Er hantierte mit möglichst glaubwürdigen Requisiten, um angestaubte Geschichten für ein zeitgenössisches Publikum appetitlich aufzubereiten. Dieser aktuellen Lesart zufolge war der Künstler fixiert auf vergangene künstlerische Ideale. Das machte ihn blind für eine von den Umbrüchen der beginnenden Industrialisierung und Modernisierung zunehmend verunsicherte, nervöse Gesellschaft. Tatsächlich wurde Gleyre in der Folge kein «peintre de la vie moderne», ein Maler des modernen Lebens, wie ihn der Dichter Charles Baudelaire in seiner berühmten Essaysammlung von 1863 zum Vorbild stilisieren wird. Allerdings waren Künstler wie er, die aus der allmählich abgestandenen Ästhetik Funken zu schlagen wussten, durchaus beliebt beim Publikum. Denn dieses bevorzugte anders als Modernisten wie Baudelaire, meist eher Spielarten des Vertrauten als den manchmal verstörenden Aufbruch zu neuen Ufern. An den Pariser Erfolg mit «Le Soir» kann Gleyre, der an den Folgen einer in Ägypten erlittenen Augeninfektion leidet und langsam arbeitet, nicht unmittelbar mit weiteren Werken anknüpfen. Immerhin ist man inzwischen in Lausanne auf ihn aufmerksam geworden und engagiert ihn in der Folge für öffentliche Aufträge. Zunächst malt Gleyre eine Episode aus dem 18. Jahrhundert, die Hinrichtung des aufständischen Major Davel im Kampf der Waadt um die Unabhängigkeit von Bern. Das 1850 fertiggestellte, begeistert aufgenommene Gemälde provoziert noch 1980 einen Vandalen im Lausanner Kunstmuseum und ist seither fast vollständig zerstört.
Charles Gleyre, «L’Exécution du Major Davel», 1850
Charles Gleyre, «L’Exécution du Major Davel», 1850. Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne
Gleyres republikanische Ader demonstriert ein weiteres staatstragendes Historienbild: «Die Römer unter dem Joch» von 1858. Es illustriert die Legende der von den Waadtländern besiegten römischen Kolonisatoren und ist erneut ein Erfolg.
Charles Gleyre, «Les Romains passant sous le joug» oder «La bataille du Léman», 1858
Charles Gleyre, «Les Romains passant sous le joug» oder «La bataille du Léman», 1858. Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne
In der Deutschschweiz erfassen nur die Basler Gleyres Qualität. Das für das Kunstmuseum entstandene Grossformat «Pentheus verfolgt von den Mänaden» demonstriert einmal mehr Gleyres Sinn für Dramatik und virtuose Lichtregie.
Charles Gleyre, «Pentheus verfolgt von den Mänaden», 1864
Charles Gleyre, «Pentheus verfolgt von den Mänaden», 1864. Kunstmuseum Basel
Obwohl Gleyre an den Pariser «Salons» aus Protest gegen Napoléon III. nicht mehr teilnimmt und sich mit Selbstzweifeln plagt, ist der Maler in Paris doch mehr als präsent. Denn nach dem Erfolg mit «Le Soir» kann er sein Pariser Atelier in der Nachfolge des Malers Paul Delaroche als Ausbildungsstätte etablieren. In einer Epoche, wo die offizielle Akademieausbildung einerseits nicht allen zugänglich ist, andererseits aber auch zunehmend als erstarrt wahrgenommen wird, sind die Ateliers prominenter Künstler in Paris für Ausbildung, Austausch und Vernetzung wichtig. Gleyre geniesst einen guten Ruf als Lehrer, zumal er einen Lehrplan vorsieht. Dabei legt er, selber ein exzellenter Zeichner, zunächst grössten Wert auf den Zeichenunterricht. Er nimmt dafür, obwohl häufig klamm, nur bescheidene Gebühren und ist auch künstlerisch grosszügig: Er zwingt seinen Schülern keinen Stil auf. So erklärt sich, dass so unterschiedliche Temperamente wie Albert Anker und Auguste Renoir, Jean-Léon Gérôme und Alfred Sisley, James Whistler und Frédéric Bazille zu seinen insgesamt mehr als 500 Schülerinnen und Schülern zählen.
«Une scéance dans l'atelier de Gleyre», gezeichnet von Alfred Dumont, 1857
«Une scéance dans l'atelier de Gleyre», gezeichnet von Alfred Dumont, 1857. Musée d’art et d’histoire de la Ville de Genève
Gleyre ist ein Wegbereiter und Türöffner, der den bevorstehenden Umbruch in der Kunst wahrnimmt, auch wenn er an diesem selber nicht mehr teilhaben wird. Der Impressionismus löst zunehmend eine kühl klassizistische Akademie- und Salonmalerei ab, die nur noch ihre eigenen Codes variiert und reproduziert. Gleyre selber unternimmt Schritte in Richtung Moderne zwar zögerlich, aber auf originelle Weise. Etwa, wenn er in «Die Sintflut» eine aus heutiger Perspektive sehr aktuell anmutende apokalyptische Landschaft entwirft. Die collageartig wirkende präraffaelitische Engelsschwadron scheint den Surrealismus vorwegzunehmen.
Charles Gleyre, «Le Déluge», 1856
Charles Gleyre, «Le Déluge», 1856. Musée cantonal des Beaux-Arts de Lausanne
Mehrere von Gleyres ehemaligen Schülern werden 1884 am «Salon des indépendants» in Paris teilnehmen, der dem Impressionismus zum Durchbruch verhilft. Schon der «Salon des refusés» von 1863 hatte die Vormacht der dominanten Akademie des Beaux Arts in Frankreich gebrochen. Eine 1873 beschlossene Reform schwächte jedoch auch freie Ausbildungsstätten wie Gleyres Atelier. Gleyre schloss dieses 1870 und kehrte wegen des deutsch-französischen Krieges in die Schweiz zurück. Dort malte er weiterhin Auftragsporträts und arbeitet bis fast zu seinem Tod 1874 an grossen Entwürfen wie dem «Irdischen Paradis». Sein Ruf war inzwischen bis nach Amerika gedrungen. Der amerikanische Eisenbahnmagnat und Sammler John Taylor Johnston, zugleich der Gründungspräsident des Metropolitan Museum New York, hat mit dem Gemälde «Das Bad» das erste Werk des Künstlers für eine amerikanischen Sammlung erworben.
Charles Gleyre, «The Bath», 1868
Charles Gleyre, «The Bath», 1868. Chrysler Museum of Art
Doch vom entstehenden freien Kunstmarkt profitierte Gleyre trotz seiner Erfolge als Porträtmaler insgesamt wenig. Ein Grossteil seines Werks findet sich daher in öffentlichen Museen und vor allem im Musée des Beaux Arts in Lausanne. Es handelt von den künstlerischen Herausforderungen in einer Zeit der Unruhe und des Übergangs – und von der melancholischen Sehnsucht nach sicheren ästhetischen Werten.

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