Gehört der Kopf zum Reiter?
Gehört der Kopf zum Reiter? Bruchstücke des Kulturerbes des Königtums Benin liegen in über 130 Museen in der ganzen Welt verstreut. Völkerkundemuseum UZH, Foto: Kathrin Leuenberger

Der kopflose Reiter

1897 in Benin geraubt, gelangte eine rund 400 bis 500 Jahre alte kopflose Reiterfigur über den Sammler Han Coray in die Schweiz. Nach dessen Konkurs erwarb die Universität Zürich die Figur und versuchte, dem Reiter einen passenden Kopf aufzusetzen. Doch was zunächst als passend schien, tut dies in Wirklichkeit nicht.

Alice Hertzog

Alice Hertzog

Alice Hertzog ist Provenienzforscherin am Völkerkundemuseum der Universität Zürich

Wie gelangten geraubte Benin-Bronzen in Schweizer Museen? Und wo gehören sie heute hin? Seit Anfang des 20. Jahrhunderts befinden sich diese hochwertigen Exemplare westafrikanischer Gusskunst in öffentlichen und privaten Sammlungen in der Schweiz, wo sie ihren Weg in renommierte Kunstsammlungen und Museen gefunden haben. Doch hinter der Schönheit dieser Stücke verbirgt sich eine dunklere Geschichte von Kolonialkrieg, Plünderung und Enteignung. Im Jahr 1897 griff das britische Militär das Königreich Benin im heutigen Nigeria an, brannte die Stadt Benin-City nieder, schickte den König in Exil und plünderte schätzungsweise 10’000 Objekte. Kultureinrichtungen, in deren Besitz sich diese Objekte heute befinden, setzen sich nun mit der gewaltsamen Geschichte ihrer Aneignung und entsprechender Rückgabeforderungen auseinander. Die Reise eines bronzenen Reiters aus dem 16. Jahrhundert, bewahrt im Völkerkundemuseum der Universität Zürich, veranschaulicht aktuelle Versuche, mit umstrittenen kolonialen Sammlungen umzugehen. Am Reiter zeigt sich exemplarisch, wie das Kulturerbe Benins zerstreut wurde, und wie die Provenienzforschung dies heute zurückverfolgt.
Blick in die Ausstellung «Benin verpflichtet», wo der Reiter vom 24. August 2024 bis 14. September zu sehen ist.
Blick in die Ausstellung «Benin verpflichtet», wo der Reiter vom 24. August 2024 bis 14. September 2025 zu sehen ist. Völkerkundemuseum UZH, Foto: Kathrin Leuenberger
Hergestellt wurde die Figur von der Gilde der Bronzegiesser des königlichen Hofes von Benin zwischen der Mitte des 16. und dem späten 17. Jahrhundert, möglicherweise im Auftrag des Oba Esigie (ca. 1504–1550). Die Figur verblieb im Palast; 19 Könige (Obas) gaben sie von einer Generation an die nächste weiter, um schliesslich 1888 bei der Krönung von Oba Ovonramwen in dessen Besitz zu gelangen. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass der Reiter 1897 von britischen Militärangehörigen geplündert wurde.
Abtransport der geplünderten Objekte aus dem königlichen Hof von Benin, 1897.
Abtransport der geplünderten Objekte aus dem königlichen Hof von Benin, 1897. © The Trustees of the British Museum
1940 wurde die Figur von der Sammlung für Völkerkunde der Universität Zürich als Teil der Konkursmasse des Schweizer Sammlers Han Coray (1880–1974) erworben. Han Coray war eine prominente Figur in Zürcher Kunstkreisen, ein avantgardistischer Galerist, Kunsthändler und Sammler, der auch als Pädagoge tätig war, eine Zeit lang eine Buchhandlung betrieb und später ein Hotel führte. Neben Gemälden alter Meister häufte er über 2500 aussereuropäische Artefakte an, darunter die Reiterfigur aus Nigeria.
Fotografie von Han Coray, aufgenommen von Berenice Abbott zwischen 1925 und 1930.
Fotografie von Han Coray, aufgenommen von Berenice Abbott zwischen 1925 und 1930. The Clark Museum
Es ist nicht klar, wie er zum Reiter kam; andere Benin-Stücke in seiner Sammlung konnten eindeutig auf den französischen Kunstmarkt zurückgeführt wurden. Interessant ist jedoch, dass der Wohlstand seiner zweiten Frau, der niederländischen Millionenerbin Dorrie Stoop (1895–1928), seine Sammelleidenschaft finanzierte. Die beiden lernten sich 1919 in seiner Buchhandlung kennen, als Dorrie Stoop in Zürich in der Klinik von Dr. Carl Jung in Behandlung war. Sie heirateten kurz darauf, wodurch Han Coray, fünfzehn Jahre älter als sie, Zugang zum Familienvermögen erhielt. Dorrie Stoops Vater, Adriaan Stoop, war ein Bergbauingenieur, der durch koloniale Erdölkonzessionen in Niederländisch-Ostindien, im heutigen Indonesien, zu Vermögen gekommen war. 1886 ging Stoop mit seinem Erdölunternehmen an die Börse und erwirtschaftete mit Bargeld und Aktien den Gegenwert von heute 180 Millionen Schweizer Franken. 1911 fusionierte das Unternehmen mit dem Öl- und Gaskonzern Shell. Mit dem Geld aus der kolonialen Förderung von Bodenschätzen finanzierte das Paar seinen ausschweifenden Lebensstil in Zürich. Als Hochzeitsgeschenk schenkten Dorrie Stoops Eltern ihnen eine Villa in Erlenbach, die ihre wachsende Kunstsammlung bald in ein Privatmuseum verwandelte. Nach dem Suizid von Dorrie Stoop im Jahr 1928 versiegte die Familienbeihilfe, und Han Coray musste bald darauf Konkurs anmelden. Als Folge des Konkurses wurde der Reiter, zusammen mit Corays übriger aussereuropäischen Sammlung, von der Schweizerischen Volksbank (später Credit Suisse) beschlagnahmt. Die Mitarbeiter/innen der Sammlung für Völkerkunde der Universität Zürich wurden von der Bank beauftragt, die Objekte für den Verkauf zu begutachten. 1940 stimmte die Bank dem Verkauf von 468 Objekten an die Universität Zürich zu. Der Direktor der Sammlung, Hans Jakob Wehrli, und die wissenschaftliche Mitarbeiterin Elsy Leuzinger (spätere Direktorin des Museums Rietberg in Zürich) organisierten den Verkauf der restlichen Stücke an verschiedene Schweizer Museen und private Sammler. Mehrere der heute im Kulturmuseum St. Gallen und im Museum Rietberg ausgestellten Benin-Bronzen stammen aus dieser Transaktion.
Die Reiterfigur, ausgestellt ohne Kopf, um 1940.
Die Reiterfigur, ausgestellt ohne Kopf, um 1940. Völkerkundemuseum UZH
Als der Reiter 1940 in die Universitätssammlung kommt, ist er kopflos. Archivfotos früherer Ausstellungen der Sammlung Coray 1931-1932 in Lugano, München, Winterthur und Basel bestätigen dies. In den 1950er-Jahren identifiziert Elsy Leuzinger in der Sammlung des British Museum einen Kopf, der zu passen scheint. 1959 schickt sie den kopflosen Reiter nach London, um ihn mit dem Kopf für ihre Publikation Afrika – Kunst der N_völker fotografieren zu lassen. Zehn Jahre später, anlässlich der Ausstellung Die Kunst von Schwarz Afrika im Kunsthaus Zürich, kommt dieser Kopf dann nach Zürich. In der Gipswerkstatt des Landesmuseums wird eine Kopie angefertigt und auf den Reiter montiert, während der Originalkopf nach London zurückgeschickt wird. Seither wurde die Figur zusammen mit ihrem neu gegossenen Kopf in Deutschland, den USA, Kanada, Südafrika und natürlich in der Schweiz ausgestellt. Sie wurde 2007 an das Museum Rietberg ausgeliehen und kehrte 2018 an das Völkerkundemuseum der Universität Zürich zurück.
Der Direktor des Kunsthaus Zürich, Dr. R. Wehrli, platziert den Kopf aus dem British Museum auf dem Reiter.
Der Direktor des Kunsthaus Zürich, Dr. R. Wehrli, platziert den Kopf aus dem British Museum auf dem Reiter. Kunsthaus Zürich
Der Versuch, den Reiter wieder zusammenzusetzen, kann als Wiederherstellung eines fragmentierten kulturellen Erbes verstanden werden: Objekte werden buchstäblich wieder zusammengesetzt; zwei in verschiedenen europäischen Museumssammlungen befindliche Teile werden miteinander verbunden. Im Jahr 2023 nahm jedoch Robert Tobler, der Restaurator des Völkerkundemuseums, bei der Vorbereitung einer Ausstellung zusammen mit Urs Lang, einem Kollegen der archäologischen Sammlung der Universität, den Reiter und seinen neu gegossenen Kopf genauer unter die Lupe. Bei der Untersuchung der Abnutzung am Schlüsselbein und der Fraktur kamen sie zu dem Schluss, dass die beiden Teile nicht zusammengehören. Was auf den ersten Blick zu passen schien, tut dies in Wirklichkeit nicht. Wenn frühere Versuche, den Reiter und seinen Kopf wieder zusammenzusetzen erfolglos blieben, was sollte man dann heute tun? Sollte das Museum den Reiter mit seinem neuen Kopf belassen? Ihn entfernen? Oder die Gilde der Bronzegiesser in Benin bitten, einen anderen Kopf zu giessen, der besser passt?
Reiterfigur aus dem Königtum Benin
Reiterfigur aus dem Königtum Benin. Der hier angefügte Kopf gehört eigentlich nicht zur Figur. Er ist einem Kopf im British Museum nachgebildet. Wo der originale Kopf ist, und wie die Reiterfigur ihn verloren hat, ist unbekannt. Völkerkundemuseum UZH, Foto: Kathrin Leuenberger
Für das Völkerkundemuseum der Universität Zürich sind dies alles Fragen, die gemeinsam mit den Partnerinnen und Partner von der Nigerian National Commission for Museums and Monuments beantwortet werden müssen. Im März 2024 hat die nigerianische Regierung in einem Schreiben an die Universität Zürich um die Restitution des Reiters und von dreizehn weiteren Objekten aus dem Königreich Benin gebeten, die vermutlich 1897 geraubt wurden. Dieses Ersuchen wird derzeit geprüft. Das Beispiel des kopflosen Reiters zeigt, wie schwierig es ist, die Scherben von 1897 wieder zusammenzusetzen – es gibt keine schnellen Lösungen für vergangene koloniale Ungerechtigkeiten. Noch ist der Reiter nicht am Ende seiner Reise angekommen. Ist es Zeit für die Rückkehr nach Hause?

Benin verpflich­tet. Wie mit geraubten Königs­schät­zen umgehen?

Im Jahr 1897 attackierten britische Truppen das Königtum Benin im heutigen Nigeria. Sie entmachteten den König, brannten die Hauptstadt nieder und plünderten tausende königliche Objekte aus dem Palast. In Europa wurden die Artefakte als «Benin-Bronzen» dem Kunstmarkt zugeführt. So gelangten Benin-Objekte 1940 auch in die Sammlung des Völkerkundemuseums. Heute verpflichten diese Objekte Museen dazu, mit den nigerianischen Gemeinschaften in Beziehung zu treten, ihnen den Zugang zu ihrem kulturellen Erbe zu ermöglichen und ihre Eigentumsansprüche anzuerkennen. Die Ausstellung stützt sich auf Recherchen der Benin Initiative Schweiz (BIS). Sie wurde mit nigerianischen Expert/innen aus Benin City und Diaspora-Gruppen in Zürich erarbeitet.

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