Dieses geheimnisvolle Paket aus den 1960er-Jahren ist Teil der Sammlung des Museums Grenchen.
Dieses geheimnisvolle Paket aus den 1960er-Jahren ist Teil der Sammlung des Museums Grenchen. Museum Grenchen

Ein Paket für den Krieg, der nie stattfand

Ein geheimnisvolles Paket im Depot des Museum Grenchen führt in die Zeit des Kalten Krieges. Ungebrauchte Ausweise für Lebensmittelmarken zeigen, wie sich die Schweiz in den 1960er-Jahren auf einen befürchteten Krieg vorbereitete.

Anne Hasselmann

Anne Hasselmann

Anne Hasselmann ist Historikerin und leitet das Museum Grenchen.

Auch in Museumsdepots gibt es bis heute ungelöste Geheimnisse, welche die Mitarbeitenden vor Rätsel stellen. So ging es dem Museum Grenchen mit einem grossen Paket. Es war fest zugeschnürt und mit einem Siegel des solothurnischen Wappens verschlossen. Auf dem Objekt leuchtete ein roter Aufkleber mit dem Hinweis: «Am Tage der Inkraftsetzung der Kriegswirtschaft zu öffnen». Keine Inventarnummer und kein Datenbankeintrag gaben Aufschluss über den Inhalt oder die Herkunft des Pakets. Es begann eine grosse Recherche. Adressiert war das Paket an Kurt Staub, den Vorsteher des Wohnungsamts Grenchen. Dieses Amt befand sich zwischen 1942 und 1971 in direkter Nachbarschaft des heutigen Museums. Als Absenderin zeichnete die Preiskontrollstelle des Kantons Solothurn und das Paket war mit dem handschriftlichen Hinweis «18,9 kg» versehen. Neben dem Siegel und dem Warnaufkleber wies das unterstrichene Wort «Vertraulich» und der Hinweis «nicht öffnen» den Empfänger auf die hohe Geheimhaltungspflicht hin. Mit dem Poststempel vom 6. März 1965 lässt sich das Paket in den Kontext des Kalten Krieges verorten.
Vorsorge in den 1960er-Jahren: Ein Paket für den Fall eines Krieges.
Vorsorge in den 1960er-Jahren: Ein Paket für den Fall eines Krieges. Museum Grenchen
Da im Museum die Unversehrtheit der Objekte an oberster Stelle steht, wurde auf ein Öffnen verzichtet und stattdessen das städtische Ärztezentrum um Röntgenhilfe gebeten. Der Röntgenblick sollte Einsicht verschaffen. Und tatsächlich: Nach einigen Versuchen für die richtige Einstellung der Röntgenstrahlen wurde ein erster Blick in das geheimnisvolle Paket ermöglicht. Die Schwarz-Weiss-Aufnahme von zwei grossen Papierstapeln half jedoch nur bedingt weiter. Dank des Social-Media-Posts des Ärztezentrums sprach sich die Nachricht des «speziellen Patienten» jedoch schnell in Grenchen herum, wobei auf diesem Weg Indizien weiterer bereits geöffneter Pakete aus der Stadtverwaltung bekannt wurden. So konnten indirekt Rückschlüsse gezogen werden, was sich im rätselhaften Paket befinden muss: Stapelweise ungebrauchte Ausweise zum Bezug von Rationierungskarten, einige Exemplare davon wurden sogar von der Stadtschreiberin zur Verfügung gestellt. Solche Karten stellte das Kriegswirtschaftsamt des Kantons Solothurn Mitte der 1960er-Jahre dem Einwohneramt von Grenchen zur Verteilung im Kriegsfall aus.
Die Röntgenaufnahmen ermöglichten einen Blick ins Innere des geheimnisvollen Pakets.
Die Röntgenaufnahmen ermöglichten einen Blick ins Innere des geheimnisvollen Pakets. Ärztezentrum Grenchen
Das ungeöffnete Paket ist also ein Objekt der wirtschaftlichen Landesversorgung. Diese staatliche Versorgungspolitik, die seit dem Ancien Régimes der Bevölkerung Hilfe bei Missernten und Nahrungsmittelnot zukommen lassen sollte, erfuhr bis in die Gegenwart diverse Zäsuren, von denen das Paket eine markiert. Die verschiedenen politischen Ansätze der wirtschaftlichen Landesversorgung, die von Liberalismus zu Staatsintervention und zurück pendeln, sind immer auch ein Spiegel der Ideengeschichte volkswirtschaftlicher Ansätze. Der konkrete Auslöser für den Versand des Pakets im März 1965 lässt sich leider nicht abschliessend klären. Die Produktion der Ausweise belegt aber eine Ausweitung der Versorgungsmassnahmen: Ab 1955 galten nicht mehr nur ein unmittelbar bevorstehender Krieg, sondern sogenannte machtpolitische Bedrohungen und schwere Mangellagen als Anlässe zur staatlichen Intervention.
Ein Billet de Besoin von 1817. Dieser Gutschein für Bedürftige wurde vor allem in den Regionen Waadt und Genf von den Gemeinden an Bedürftige abgegeben, um ihnen den Bezug von lebensnotwendigen Gütern zu ermöglichen.
Ein Billet de Besoin von 1817. Dieser Gutschein für Bedürftige wurde vor allem in den Regionen Waadt und Genf von den Gemeinden an Bedürftige abgegeben, um ihnen den Bezug von lebensnotwendigen Gütern zu ermöglichen. Schweizerisches Nationalmuseum
Bis zum Ersten Weltkrieg verzichteten Bund und Kantone weitgehend auf eine aktive Versorgungspolitik. Trotz immer lauter werdenden versorgungspolitischen Forderungen der jungen Arbeiterschaft, legte der Bund Ende des 19. Jahrhunderts kaum Reserven an und plante keine Rationierung von Lebensmitteln im Ernstfall. Während des Ersten Weltkriegs trafen die Folgen von Seeblockaden und Protektionismus die Schweiz aber hart, das Land war plötzlich von wichtigen Warenströmen abgeschnitten. Hier trifft die nationale auf die solothurnische Geschichte, denn es waren die nachdrücklichen Forderungen des Oltener Aktionskomitee (OAK), die im April 1918 die Schaffung eines Eidgenössischen Kriegsernährungsamtes führten, und es war Grenchen, wo die Armee im November 1918 drei Arbeiter erschoss, die sich im Landesstreik befanden − auch die ungenügende Versorgungslage hatte sie zur Arbeitsniederlegung bewogen. Gemäss dem Historiker Jakob Tanner waren es die traumatischen Erfahrungen des Landesstreiks und der Weltwirtschaftskrise 1929, die zur bislang grössten sozialen Desintegration der Schweiz geführt hätten und bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zu einem Umdenken der Versorgungspolitik führten. Diese wurde zum zentralen Bestandteil einer «gelungenen strategischen Synthese militärischer und wirtschaftlicher Zielsetzungen». Das Bewusstsein der Entscheidungsträger für die Zusammenhänge von Versorgung, Arbeit und sozialem Frieden war ebenso entscheidend wie interventionistische Massnahmen des Delegierten für Kriegswirtschaft ab 1937. Kontingentierungen und Rationierungen, welche die Bevölkerung zwischen Mai 1940 und Juli 1948 in Form von Lebensmittelkarten erreichten, führten zu einer mehrheitlich als gerecht wahrgenommenen Verteilung der Grundnahrungsmittel in relativer Unabhängigkeit von der Höhe des Einkommens.
Lebensmittelkarte für eine Person, November 1942.
Lebensmittelkarte für eine Person, November 1942. Schweizerisches Nationalmuseum
Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete nicht ein Ende der Versorgungsengpässe. Die Stellvertreterkriege des Kalten Krieges zu Beginn der 1950er-Jahre führten zu dem sogenannten Korea-Beschluss, der dem Bundesrat gewisse wirtschaftliche Eingriffe auch in unsicheren Zeiten und nicht nur bei unmittelbarer Kriegsgefahr erlaubten. Mit dem Bundesgesetz über die wirtschaftliche Kriegsvorsorge von 1955 wurde mit dem gleichnamigen Delegierten die erste umfassende und dauerhaft behördliche Versorgungsinstitution der Schweiz geschaffen. Bereits ein Jahr später, als 1956 der Ungarnaufstand durch die sowjetische Armee niedergeschlagen wurde, schien eine Versorgungsnotlage durch die sogenannte machtpolitische Bedrohung ein realistisches Szenario zu sein. Und als die Schweiz im selben Jahr durch die Suezkrise sowie 1973 durch die Reduktion der Erdölförderung der OPEC-Staaten erstmals Engpässe bei Treib- und Brennstoffen erlebte, schien auch eine schwere Mangellage ein legitimer Grund für das wirtschaftliche Eingreifen des Staates zu sein. In diese Zeit, zwischen machtpolitischer Bedrohung und potentieller internationaler Mangellage, fällt der Versand des solothurnischen Pakets im März 1965.
Kurzdokumentation über den Ungarnaufstand von 1956. YouTube
Auf der Grundlage des Gesetzes von 1955 erliess der solothurnische Regierungsrat im September 1961 die Verordnung über Organisation und Aufgaben der Kriegswirtschaft im Kanton. Der Beschluss gab eine hierarchische Struktur vor, nach der das Kriegswirtschaftsamt der Bundesstelle für Kriegswirtschaft unterstand und die wiederrum dem Volkswirtschaftsdepartement. Unter die Zuständigkeit des kantonalen Kriegswirtschaftsamts fielen unter anderem die Rationierung der Lebensmittel, die Rationierung von Textilien, Schuhen, Seifen und Waschmitteln und die Rationierung der flüssigen und festen Brennstoffe. Eine erste Massnahme des neu geschaffenen Amts war der Versand der Ausweise für Rationierungskarten an die Gemeinden des Kantons Solothurns. In Grenchen sind vier solcher Pakete erhalten geblieben. Die Ausweise zum Bezug von Rationierungskarten von 1965, die von der Forschung bislang noch nicht berücksichtigt wurden, scheinen eine Weiterentwicklung des Bezugssystems der Lebensmittelkarten des Zweiten Weltkriegs zu sein. Anfangs wurden die Lebensmittelkarten im Oktober 1939 als Abonnemente per Post an die Haushalte verschickt. Um den wachsenden Missbrauch zu verhindern und unter der Verschärfung der Versorgungslage mit dem Westfeldzug der Wehrmacht ab Mai 1940 wurden die Karten per eingeschriebenen Brief verschickt. Da dieses Verfahren jedoch hohe Kosten verursachte, sank die Zahl der Postzustellungen und die Bezügerinnen und Bezüger mussten den Weg zum Amt auf sich nehmen.
Ausweis des Kantons Solothurn, welcher die Benutzung von Rationierungskarte ermöglichen sollte, 1960er-Jahre.
Ausweis des Kantons Solothurn, welcher die Benutzung von Rationierungskarte ermöglichen sollte, 1960er-Jahre. Foto: Anne Hasselmann
Rund 25 Jahre später sollten die Ausweise das bewährte, jedoch anfällige System verbessern.  Sie dokumentierten die individuelle Bezugsberechtigung und mussten bei jedem Bezug oder Tausch von Rationskarten vorgewiesen werden. Die ungebrauchten Ausweise im Paket aus dem Kalten Krieg zeigen, wie die Versorgungsmassnahmen auf den Erfahrungen aus vergangenen Kriegen aufbauen und aus Fehlern gelernt wurde. Darüber hinaus ist das Paket ein materieller Zeuge für eine weitere Zäsur in der Geschichte der versorgungspolitischen Massnahmen – Auslöser war hier kein gegenwärtiger oder kurz bevorstehender Krieg, sondern die machtpolitische Bedrohungslage in wirtschaftlich unsicheren Zeiten.
Mit dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 fielen in der damaligen Wahrnehmung zwei der Hauptanwendungsfälle des Versorgungsamtes – Krieg und machtpolitische Bedrohungslage – weg. Allerdings haben die versorgungspolitischen Fragen mit der Corona-Pandemie und des Krieges von Russland gegen die Ukraine wieder an Aktualität gewonnen. Und mit ihnen auch Objekte wie das 1965 verschickte Paket.

Ausgewählt! Je 25 Objekte von Gestern und für Morgen

16.05.2024 31.10.2025 / Museum Grenchen
Die Jubiläumsaustellung des Museums Grenchen zeigt einerseits 25 Objekte aus dem Depot des Museums und andererseits 25 Objekte, welche den heutigen Alltag der Stadt abbilden. Dafür wurden über 70 Organisationen in der Region angeschrieben und schliesslich 25 Leihgaben in die Ausstellung integriert. Welche dieser Objekte «museumswürdig» sind und in die Sammlung aufgenommen werden, das entscheidet das Publikum mittels einer Abstimmung per QR-Code und Handy.

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