Die Station Jungfraujoch - bis heute die höchstgelegene Bahnstation Europas.
Die Station Jungfraujoch – bis heute die höchstgelegene Bahnstation Europas. e-pics

Der Wettlauf zur Jungfrau

Die Idee einer Jungfraubahn hat die Bevölkerung elektrisiert. Mitte der 1880er-Jahre begann ein Wettlauf, in dem sich Ingenieure mit kühnen Projekten übertrumpften. Adolf Guyer-Zeller kupferte Ideen ab und bootete Konkurrenten aus. Doch mit seiner Bahn brachte er den Massentourismus ins Gebirge.

Helmut Stalder

Helmut Stalder

Helmut Stalder ist Historiker, Publizist und Buchautor mit Schwerpunkt Wirtschafts-, Verkehrs- und Technikgeschichte.

Der Textilindustrielle Adolf Guyer-Zeller aus Neuthal im Zürcher Oberland wandert im Sommer 1893 mit seiner Tochter oberhalb von Mürren. Vor ihnen breitet sich das Panorama von Eiger, Mönch und Jungfrau aus und die Trasse der gerade eröffneten Wengernalpbahn auf die Kleine Scheidegg, 2064 Meter über dem Meer. Die Idee trifft den 54-jährigen Guyer-Zeller angeblich wie ein Blitz. Zurück im Kurhaus Mürren skizziert er die Vision: eine schwungvolle Linie, die von der Kleinen Scheidegg her den Eiger durchquert, durch den Mönch zum Jungfraujoch ansteigt und den Jungfraugipfel erreicht. Schnell kritzelt er hin: Gipfel, Trassen, Tunnel, Stationen, Gipfelturm und Stichwörter wie «Gebirgsbahn», «Unterkunft», «Ventilation». Auch das Herzstück des Projekts ist bereits da, die hochalpine Station Eigergletscher, von wo aus die Bahn in den Berg vorstossen soll. Dann signiert er: «11–1½ nachts, Zimmer No. 42, Kurhaus, 27./28. August 93. G-Z».
 
Das Blatt aus dem Notizbuch wird heute im Archiv der Jungfraubahnen gehütet. Es erscheint als Beweis für die geniale Eingebung, die Guyer-Zeller 1893 angesichts der erhabenen Berge zuteilgeworden ist, und als Beleg für den höheren Auftrag, die Bahn auf die Jungfrau zu bauen. Das gehört zum Genie- und Heldenkult, mit dem sich die Pioniere des Industriezeitalters gern umgaben. Jedoch: Adolf Guyer-Zeller sprang spät auf den Jungfrau-Zug auf, eignete sich Ideen aus Vorläuferprojekten an und räumte rabiat Konkurrenten aus dem Weg.
Adolf Guyer-Zellers Skizze der Jungfraubahn.
Adolf Guyer-Zellers Skizze der Jungfraubahn. jungfrau.ch

Die techni­sche Eroberung der Alpen

Nach dem Bau der Vitznau-Rigi-Bahn 1871, der ersten Bergbahn Europas, wird die Schweiz vom Bergbahnfieber gepackt. Der technischen Eroberung der Berge scheinen keine Grenzen mehr gesetzt und der Bund macht die «Beschienung der Schweiz» zur Priorität. Pioniere, Bahnbarone und Spekulanten wittern im Massentourismus das grosse Geld. Reihenweise schiessen in den 1880er-Jahren Projekte aus dem Boden. Doch ein Projekt ist wie ein kollektiver Fiebertraum: die Eroberung der Jungfrau. Eine Bahn auf die 4158 Meter hohe Jungfrau wäre die Krönung des Fortschritts. Sie steht symbolisch für den Zukunftsglauben, den Pioniergeist und die Technikeuphorie der Epoche.
Blick auf die Jungfrau. Fotodruck um 1900.
Blick auf die Jungfrau. Fotodruck um 1900. Schweizerisches Nationalmuseum

Erst nur ein Scherz

Die Idee einer Jungfraubahn elektrisiert die Menschen. Am 1. April 1886 meldet die Neue Zürcher Zeitung: Die in London gegründete International Mountain-Way Company plane, eine Eisenbahn bis zur Rottalhütte zu bauen und am Fuss der Jungfrau ein Hotel zu errichten. Von dort seien es nur noch 2600 Meter Luftlinie und 1400 Höhenmeter. «Eine mit soliden Geländern und sehr breiten Stufen versehene, zum grössten Teil aus dem Fels ausgebrochene Treppe führt die steile Wand empor [...] Die Spitze der Jungfrau wird abgeplattet und ringsum eine Brüstung aufgeführt», damit die Besucher die Aussicht geniessen könnten. Gezeichnet ist der Artikel von Ingenieur S. Ch. Windler. Es ist ein Aprilscherz des Redaktors Emil Frey.
 
Drei Jahre später ist das kein Scherz mehr. Die Erschliessungsbahn von Interlaken nach Lauterbrunnen und Grindelwald ist im Bau, das Konzessionsgesuch für eine Bahn auf die Kleine Scheidegg ist unterwegs. 1889 darf die verblüffte Öffentlichkeit drei Projekte für eine Bahn auf die Jungfrau zur Kenntnis nehmen.

Der Ingenieur des Eiffel­turms legt vor

Der erste ist der französisch-schweizerische Ingenieur Maurice Koechlin (1856-1946). Er hat an der ETH Zürich Ingenieurwesen studiert und ist eine Kapazität. Von ihm stammen mehrere grosse Stahlfachwerk-Brücken, das Gerüst im Innern der Freiheitsstatue sowie die Idee und die Pläne für den Eiffelturm in Paris.
 
Koechlin sieht eine Bahn vor, die vom Lauterbrunnental durch sechs Tunnels den Jungfraugipfel erreicht. Zahnrad- oder Standseilbahnen sollen eine Höhendifferenz von 3175 Metern überwinden. Auf dem Gipfel sind ein Hotel und eine Forschungsstation vorgesehen. Kosten: 9,2 Millionen Franken.
 
Der Plan wird in der Presse kontrovers diskutiert, auch mit Bezug auf den Eiffelturm des prominenten Urhebers. «Das Projekt ist eine charakteristische Erscheinung unserer Zeit, die vor keinen technischen Schwierigkeiten mehr zurückschreckt. [...] Es ist einleuchtend, dass die Bahn auf die Jungfrau für das Berner Oberland das würde, was der Eiffelturm für Paris geworden, ein technisches Wunder, das die Reisenden aus allen Ländern anlocken müsste.» Das Oberländische Volksblatt ist ambivalent: «Kühn, alles bisherige Kühne weit übertreffend, ist der Plan. Gelingt er, dann hat der Menschengeist einen Triumph erfochten, an den zu glauben man noch vor zwanzig Jahren für eine gottlose Verrücktheit gehalten hätte.» Allerdings wolle damit «der rücksichtlose Kapitalismus sein hartes Regiment vom Thal aus bis auf der Erde höchster Zinnen hinauf zwingen.» Das Berner Tagblatt polemisiert, die Jungfraubahn wäre geschmacklos wie der Eiffelturm und entweihe die Berge. «Soll denn die letzte Achtung vor der Jungfräulichkeit unserer Alpen [...] verschwinden, um schnöden Gewinnes willen?» Der Nebelspalter karikiert den Grössenwahn mit einem riesigen Eiffelturm als Seilbahnstation.
Ein Eiffelturm auf der Jungfrau? Karikatur aus dem Nebelspalter als Antwort auf Koechlins Projekt.
Ein Eiffelturm auf der Jungfrau? Karikatur aus dem Nebelspalter als Antwort auf Koechlins Projekt. e-periodica
Nur drei Tage nach Koechlin legt Alexander Trautweiler (1854-1920), ebenfalls ein erfahrener Bahn-Ingenieur, im Herbst 1889 ein weiteres Projekt vor. Auch sein Projekt startet im Lauterbrunnental und soll in vier Tunnel-Strecken mit drei Aussichtspunkten an den Umsteigestationen zum Jungfraugipfel führen. Er sieht Seilbahnen vor, deren Seilzüge mit Druckluft angetrieben werden sollen. Kostenpunkt: 5,57 Millionen Franken.

Rohrpost auf die Jungfrau

Das dritte Projekt bringt der Zürcher Eduard Locher (1840-1910), der das Zahnstangensystem der steilsten Bahn der Welt am Pilatus ersonnen hat. Er schlägt eine Bahn vor, die ohne Stopp bis zum Gipfel führt. Während Koechlins Bahn bis 1¾ Stunden und Trautweilers zwei Stunden benötigen sollen, soll Lochers «pneumatische Bahn in Kolbenform» es in 15 Minuten schaffen. «In jeder der parallelen Röhren verkehrt ein zylindrischer Wagen von rund 20 Metern Länge mit je 50 Plätzen. Mit Pressluft u. einer Geschwindigkeit von 25 km/h sollen die Passagiere vom Tal direkt zur Jungfrauspitze befördert werden.» Es ist eine Druckluft-Rohrpost für Menschen. «Diese Anwendung des [...] pneumatischen Prinzips ist neu. Man würde aber den theoretisch richtigen Grundgedanken und die Leistungsfähigkeit der Technik unserer Zeit verkennen, wenn man behaupten wolle, es sei diese nicht möglich», schreibt Locher.
 
Der Bundesrat will nur eine Konzession vergeben und drängt die drei Bewerber zur Kooperation. Sie kommen überein, das Jungfrau-Projekt unter Koechlins Führung gemeinsam voranzutreiben. 1891 erteilt das Parlament Koechlin die Konzession. Allerdings fordert der Bund den Nachweis der Ungefährlichkeit. Man fürchte, der schnelle Höhenwechsel und der Aufenthalt auf 3000 Metern könnte schädlich sein. Die Bahnpioniere müssen positive Gutachten beibringen. Das hilft nicht, Geldgeber zu finden.

Eiger-Projekt als Steilvorlage

1892 überrascht der Konstrukteur Emil Strub (1858-1909) die Öffentlichkeit mit einem weiteren Projekt. Er hat in den Werkstätten von Riggenbach gearbeitet, ein eigenes Zahnstangensystem entwickelt und ist Inspektor bei der Berner Oberlandbahn. Er beantragt mit Compagnon Hans Studer eine Konzession für eine Bahn auf den Gipfel des Eigers. Ausgangspunkt soll die Kleine Scheidegg sein. Von dort soll eine Zahnradbahn die Gäste zur Station Rotstock bringen. Dort wird umgestiegen auf eine Tunnelbahn, die im Inneren des Eigers zum «Aussichtsturm Eiger» auf 3979 Meter führt. Im Tunnel gibt es zwei Stationen auf 2990 und 3470 Meter. Durchbrüche sollen «eine Aussicht von überwältigender Grossartigkeit bietet», heisst es im Gesuch. «Die zwei Aussichtsstation gewähren eine weit genussreichere Fahrt als der projektierte Jungfraubahn-Tunnel.» Damit setzen sich Strub in Konkurrenz zum Projekt Koechlin. Er erhält rasch die Konzession für das auf 3,9 Millionen Franken veranschlagte Eiger-Projekt. Damit ist der zweite Wettlauf – Eiger oder Jungfrau – eröffnet.

Aneignun­gen und Winkelzüge

Da tritt Adolf Guyer-Zeller, der gerissene, geschäftstüchtige Textil- und Bahnunternehmer, auf den Plan. Ende 1893 stellt er überraschend ein Gesuch für eine elektrische Zahnradbahn, die in sechs Sektionen von der Kleinen Scheidegg durch den Eiger hinauf zum Jungfraujoch und weiter auf den Jungfraugipfel führt. Emil Strub ist wie vom Donner gerührt, denn grundlegende Elemente seines Eiger-Projekts findet er bei Guyer-Zeller wieder: Den Start auf der Kleinen Scheidegg, die Station Rotstock und die Linienführung der ersten Sektion bis dorthin hat Guyer-Zeller eins zu eins aus Strubs Eiger-Projekt von 1892 übernommen. Die Station Eigergletscher soll auf derselben Höhe realisiert werden wie Strubs Station Rotstock. Auch den Aufstieg durch den Eiger mit Zwischenstationen und Panoramablicken hat Strub schon 1892 vorgesehen, ein Jahr bevor Guyer-Zeller nachts in Mürren die Linie durch den Eiger und den Mönch zur Jungfrau skizzierte. Strub erhebt Einsprache – vergeblich.
 
Guyer-Zeller bekämpft die Konkurrenz mit allen Mitteln. Strub und Studer wollen ihr Eiger-Projekt stärken, indem sie die Rechte an der ersten Sektion von der Kleinen Scheidegg bis zur Station Rotstock am Fuss des Eigers auf die Wengernalpbahn übertragen, wo Studer Direktor ist. So hätte die Eigerbahn schneller gebaut werden können. Doch die Generalversammlung sieht mehr Renditechancen für eine Jungfraubahn und beschliesst zu warten, «bis sich die Bundesversammlung über die Konzession des Guyer-Zellerschen Eiger-Mönch-Jungfraubahn-Projektes entschieden hat». Beantragt hat dies Adolf Guyer-Zeller. Er streut in der Presse, die 191 Meter höhere Jungfrau müsse Vorrang haben. Als der Bund ihm die Konzession provisorisch zusichert, ist das Eiger-Projekt am Ende. Strub und Studer geben auf und übergeben die Rechte an der Zufahrt für 15'000 Franken «Stillhaltegeld» an Guyer-Zeller.
Darstellung des Verlaufs der Jungfraubahn, 1896.
Darstellung des Verlaufs der Jungfraubahn, 1896. jungfrau.ch
Das Eiger-Projekt ist aus dem Weg geräumt. Die Konzession von Koechlin erlischt, ohne dass er die Finanzierung sichern kann. So gewinnt Guyer-Zeller den Wettlauf zur Jungfrau, die Konzession erhält er Ende 1894. Er rechnet für die 15 Kilometer lange Strecke mit sieben Jahren Bauzeit und 7,5 Millionen Franken Kosten. Am 27. Juli 1896 ist Spatenstich. Ironische Pointe: Guyer-Zeller holt in einem Wettbewerb um das Antriebssystem seinen Widersacher Emil Strub als Technischen Direktor an Bord und mit ihm sein Zahnstangensystem. Nur ein Jahr später verlässt Strub jedoch das Projekt – wegen unüberwindlichen Differenzen mit Guyer-Zeller.
Aufnahme von Arbeitern, die den Gleisbau vorantreiben, ca. 1896.
Aufnahme von Arbeitern, die den Gleisbau vorantreiben, ca. 1896. jungfrau.ch

Die Unvoll­ende­te

Beim Eigergletscher auf 2320 Metern entsteht derweil das Basislager: Wohnbaracken, Verpflegungsstätten, Werkstätten, Schuppen. Bis zu 300 Arbeiter arbeiten ganzjährig in der höchsten Fabrik Europas. Mit Schaufel, Pickel und Muskelkraft bewegen sie Tonnen von Gestein für die Trassen und arbeiten sich mit Bohrhämmern und Dynamit in den Berg. Nach der Station Eigergletscher soll die Bahn sanft durch den Eiger ansteigen, die Stationen Eigerwand Eismeer sollen als «Fenster mit Balkon» spektakuläre Ausblicke bieten. Und von der Endstation unter dem Jungfraugipfel soll ein Schacht mit Treppe und Lift 65 Meter zur Spitze führen.
Dieser Turm mit Treppen und Lift sollte die Besuchenden auf den Gipfel bringen.
Dieser Schacht mit Treppen und Lift sollte die Besuchenden auf den Gipfel bringen. jungfrau.ch
Zur Eröffnung der Station Eigergletscher im Herbst 1898 veranstaltet Guyer-Zeller einem Festakt mit 400 Gästen. Der Pfarrer von Grindelwald predigt, die Bahn sei ein gottgefälliges Werk, denn sie diene der «Verherrlichung des Höchsten» und werde «Abertausenden seiner Menschenkinder edlen Genuss und hohen Segen bringen». Die Helden der Technik werden bejubelt, die «das Reich des ewigen Schnees allen zugänglich machen». Für Guyer-Zellers Biograf Konrad Falke ist kein Vergleich zu steil: Im Moment, «da der Schienenstrang die Jungfrauspitze berührt», sei eine Tat vollbracht, «grösser und kulturell bedeutungsvoller, als wenn der Nordpol betreten würde». Den Patron nennt er eine «Winkelriednatur», die sich opfere unter der Devise: «Ich will euch eine Gasse machen!»
 
Ein halbes Jahr später stirbt Guyer-Zeller 60-jährig an einem Herzinfarkt. Das Projekt steckt in Finanznöten. So wird alles darangesetzt, die Etappen bis zum Joch zu eröffnen, um Geld einzunehmen. Das letzte Stück, das sich «spiralartig um das oberste Massiv des Berges herumschlängelt» und der Gipfellift werden gestrichen.
Der Durchstich erfolgte im Februar 1912.
Der Durchstich erfolgte im Februar 1912. jungfrau.ch
Touristinnen und Touristen an der Station Eigergletscher.
Touristinnen und Touristen an der Station Eigergletscher. Schweizerisches Nationalmuseum
Anfang 1912 durchbricht eine gewaltige Explosion die letzten Meter Fels zum Joch. Am 1. August 1912 geht die Bahn in Betrieb. Es ist der höchste Bahnhof der Welt auf 3466 m.ü.M. Die Bauzeit wurde vierfach überzogen, die Kosten betrugen 16 statt 7,5 Millionen Franken. Beim Bau wurden 30 Arbeiter getötet und 92 schwer verletzt. Doch das ging im Freudentaumel unter. Fein gewandet fahren die Damen und Herren nun bequem und gefahrlos ins Hochgebirge. Die technische Kolonisation der Alpen nimmt seither ihren Lauf. Erhabene Gipfel und majestätische Gletscher liegen im Schaufenster – als leicht verfügbare Ware des internationalen Massentourismus, zum raschen Konsum bestimmt.

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