Auf der Suche nach dem Stil
Gesellschaftliche Veränderungen und technische Wunder im Minutentakt: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts glänzt mit Visionen für Kunst im Alltag.
The Great Exhibition, die erste Weltausstellung von 1851 in London, war der Startschuss für eine neue Zeit, eine Periode der beschleunigten Industrialisierung, eine Zeit der sozialen Umbrüche und ebenso eine spannende Phase der Stilsuche.
Zu den revolutionären Erfindungen dieser Zeit gehören nicht nur die Glühbirne, das fliessende Wasser aus der Dusche oder neue synthetische Farben, sondern vor allem auch das Telefon. Der Schotte Alexander Graham Bell meldete es 1876 beim Patentamt in Washington an. Er war 1871 in die USA eingewandert und arbeitet als Sprachtherapeut und Lehrer für Gehörlose. Bell wollte die Schallwellen sichtbar machen, um gehörlosen Menschen eine optische Kontrolle der Sprache zu ermöglichen. Das Experiment misslang, entsprungen ist ihm jedoch die Voraussetzung für ein funktionstüchtiges Telefon. Als offizieller Erfinder des Telefons gilt Alexander Graham Bell, auch wenn zur gleichen Zeit auch andere an gleichartigen Projekten arbeiteten. Besonders tragisch ist die Rolle des Amerikaners Elisha Grey. Der Spezialist für Telegraphen beantragte das Patent für ein Telefon nur zwei Stunden nach Bell, setzte sich jedoch wegen des zeitlichen Rückstands nicht durch. Und das, obwohl seine Pläne ausgereifter waren.
Die Zeit des Design für die neue Käuferschaft
Die Wirtschaft brummte, nicht nur wegen der neuen Möglichkeiten der Kommunikation. Die Verbreitung der Elektrizität ermöglichte eine fast täglich steigende Effizienz in der seriellen Produktion neuer Gebrauchsartikel für das urbane Leben. Die serielle Produktion stellte aber noch höchst Unansehnliches her. Die Anfänge der maschinellen Produktion waren für die Kundschaft noch wenig attraktiv. Wie müssten denn attraktive Produkte aussehen? Die Protagonisten in Kunst- und Stilfragen nahmen sich das Mittelalter zum Vorbild und propagierten die Einheit zwischen Kunst und Handwerk. Gesucht waren jetzt Entwurfskünstler – es entstand ein neuer Beruf. Sie analysierten die Stilgeschichte Europas, Nordafrikas und Asiens, erkannten in der Natur eine Inspirationsquelle und begannen, Form und Funktionalität unter einen Hut zu bringen.
Die Zeit der Kunstgewerbeschulen
Alltägliche Dinge sollten nicht nur praktisch sein, sondern auch schön. Während dies andernorts erkannt worden war, brauchte die Schweiz einen Weckruf, oder vielmehr einen Schubser, wie der Nobelpreisträger Richard Thaler sich ausdrückt: Den erhielt die Schweiz an der Weltausstellung 1873. In Wien wurden die Schweizer Erzeugnisse zwar ihrer Brauchbarkeit wegen gelobt, nicht jedoch ihrer formalen Qualität und ästhetischen Orginalität wegen. «Man ist bemüht, nicht zurückzubleiben, man strebt andererseits nicht darnach, eine der Lage nicht angemessene Höhe zu erklimmen», ist im amtlichen Bericht der Wiener Weltausstellung über die Schweizer Produkte zu lesen. Das traf die Unternehmer ins Mark: Die Société des patrons graveurs gründete in La Chaux-de-Fonds die erste Kunstgewerbeschule. Ihnen folgte die Ostschweizer Textilindustrie mit einer Schule in St. Gallen, danach zogen Genf (1876), Luzern (1877) und Zürich (1878) nach. Was die Weltausstellungen in Paris, London, New York, Wien, Philadelphia oder Barcelona präsentierten, fand den Weg in die modernen und mehrstöckigen Wohnhäuser des städtischen Bürgertums. Diese Erkenntnis war der Startschuss für die vielen Schweizer Manufakturen und Fabriken, die in Kürze auch eine internationale Kundschaft zu pflegen begannen.