Jacob Burckhardt – der international erfolgreichste Schweizer Historiker
Er kam auf die Welt, als Napoleon noch lebte, und starb, als Aspirin und Dieselmotor die Fortschrittseuphorie des ausgehenden 19. Jahrhunderts weiter befeuerten. Gesehen haben wir ihn schon alle: Sein Gesicht ziert die aktuelle 1000-Franken-Note.
Jacob Burckhardt, der meist-zitierte Schweizer Kultur- und Kunsthistoriker, dessen Werke Weltruhm erlangten, kam vor 200 Jahren am 25. Mai 1818 zur Welt. Sein Vater war Münsterpfarrer und Angehöriger der Basler Elite. Wie damals üblich schien Jacob Burckhardt in die väterlichen Fussstapfen treten zu sollen, als er das Studium der evangelischen Theologie begann. Dieses brach er allerdings bald wieder ab, um an die Universität Berlin zu wechseln, wo er Geschichte, Kunstgeschichte und Philologie studierte. Dort traf er auch auf grosse Historiker wie Leopold von Ranke, die sein Geschichtsverständnis tief prägten. Nach dem Studium kehrte er zurück in seine Heimatstadt und arbeitete als Redakteur bei den konservativen «Basler Nachrichten». 1846 führte ihn dann eine Reise nach Italien, von dessen Kultur er seit seiner Jugend fasziniert war. Die dort gesammelten Eindrücke hielt er in zahlreichen Zeichnungen fest. 1855 erschien mit dem Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens ein Kunstreiseführer, den ganze Generationen von Italienpilgern nutzten. Ab 1855 widmete sich Burckhardt mit grosser Hingabe seiner Lehrtätigkeit und unterrichtete drei Jahre am Zürcher Polytechnikum, der heutigen ETH, bevor ihn die Universität Basel 1858 zuerst zum ordentlichen Professor für Geschichte, später auch für Kunstgeschichte ernannte. Seiner Vaterstadt und ihrer Universität blieb er bis ans Lebensende treu. Aus ihr heraus vermochte er ideal auf die damalige Welt zu blicken. 1897 verstarb er im Alter von 79 Jahren im Lehnstuhl seiner Basler Wohnung.
Sein für damals äusserst moderner Blick auf die Geschichte, seine Methodik und seine Nähe zu den Quellen haben ihn zum Begründer der Kulturgeschichte als eigentliche wissenschaftliche Disziplin gemacht. Er war sich bewusst, dass keine Interpretation der Vergangenheit endgültig sein kann, sondern sie immer von der eigenen Gegenwart des Betrachters abhängt; entsprechend kann es kein «Ende der Geschichte» geben. Sein berühmtestes Buch, Die Cultur der Renaissance in Italien (1860), ist bis heute ein Standardwerk der Geschichtswissenschaft. Darin beschreibt Burckhardt, angeregt vom französischen Historiker Jules Michelet, die Renaissance als eine kulturhistorische Epoche und veränderte dabei die Sichtweise auf die frühe Neuzeit. Denn bis dahin bezeichnete der Begriff «Renaissance» meist bloss eine Wiedergeburt der Literatur, der Künste und der Gelehrsamkeit. Burckhardt hingegen schloss nun auch die zerklüftete politische Landschaft Italiens, den Blick der Humanisten auf das Altertum, die Entstehung des modernen Individualismus, der Wandel der urbanen Lebensformen sowie der durch die neu entdeckte heidnisch-antike Welt erschütterte christliche Glaube mit ein; in diesem Sinn verstand er die Renaissance im Kern als eine Epoche im Umbruch. Überhaupt: Umbruchszeiten, Krisen, Brüche in der Geschichte interessierten ihn am meisten, denn sie gestatten, so Burckhardt, einen Blick in den Rücken der Geschichte. Er selbst lebte in einer Umbruchszeit. Während seiner Lebenszeit wurde die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat. Die Elektrizität liess die Städte leuchten. Fabriken und Banken wurden gegründet. Die Eisenbahnen und der Gotthardtunnel wurden gebaut. Die Industrialisierung brachte eine neue soziale Schicht hervor: das Proletariat. Und der Kommunismus trat auf das Weltparkett.
Burckhardts Vorlesungen waren sehr beliebt, amüsant und klug. Im Unterricht war er innovativ. Anstelle von Beschreibungen setzte er Fotos und grafische Hilfsmittel von Kunstwerken ein. Um die 10'000 Fotos hat er im Laufe der Zeit gesammelt. Seine Vorlesungsmanuskripte zeigen ihn als scharfsinnigen, ironischen und skeptischen Beobachter seiner Zeit. Gleichzeitig war er enttäuschend konventionell, auch reaktionär. Industrialisierung, Demokratisierung, Liberalisierung und Emanzipation fand er entsetzlich. In seinen Briefen äusserte er sich zuweilen rassistisch und antisemitisch. Im Privaten lebte er bescheiden. Seine Freizeit genoss er im Museum, im Theater oder im Wirtshaus. Er liebte Katzen und Wein. Er dichtete, zeichnete und musizierte. Eine Familie gründete er nie – das Liebesglück war nicht für ihn bestimmt.
Sein wichtigstes Arbeitsinstrument war sein Schreibtisch. Darauf arbeitete er sich durch die Quellen, entwarf seine Bücher und skizzierte seine Vorlesungen. Sein Pult war die fest eingebaute Schnittstelle zu seinem Geist. Von dort aus erkundete er die Kulturlandschaften Europas und tauschte sich rege mit den Kollegen seiner Zeit aus – darunter der Philosoph Friedrich Nietzsche. Davon zeugen über 1700 Briefe.
Jacob Burckhardt war Historiker, Kunsthistoriker, Universitätsprofessor, Zeitkritiker, scharfer Beobachter, Skeptiker, Begründer der Kulturgeschichte und nicht zuletzt «Erfinder» der Renaissance als kulturhistorische Epoche.
Virtuelles Erlebnis am Schreibtisch von Jacob Burckhardt
24.8. bis 7.10.2018 im Landesmuseum Zürich
Virtual Reality macht es möglich: Dank der digitalen Installation DESKTOP können Besucherinnen und Besucher selbst am Schreibtisch von Jacob Burckhardt Platz nehmen und in seine Bilder- und Gedankenwelt eintauchen.