Von Freiheitsbäumen und ihren Schatten
Spötter befanden, die Freiheitsbäume hätten keine Wurzeln, und dem Freiheitshut fehle der Kopf. So einfach sollte man es sich mit Freiheitsbäumen nicht machen. Anspruch und Wirklichkeit klafften allerdings auseinander.
«Lange sahen wir nur von ferne den täglich neuen Wunder-Scenen [der Revolution] zu. Endlich schlug sie auch für uns, die im Rathschlusse der ewigen Weisheit festgesetzte Stunde», rief Bürger Pfarrer Johann Jakob Faesch bei der Verbrüderungsfeier auf dem Münsterplatz in Basel im Januar 1798 inbrünstig aus und fuhr in seiner Festpredigt fort: «Welch fürchterliche, gewitter-schwangere Wolken stunden tosend über unserem Scheitel! Aber siehe, die Sonne der brüderlichen Liebe zertheilte sie alle, und Freiheit und Gleichheit vereinigen heute alle Glieder des Staates unter die schützenden Flügel der beglückenden Eintracht.» Wie beglückend die Bilanz von Bürger Faesch nach fünf Jahren Helvetik war, ist nicht bekannt.
In ähnlicher Tonlage waren 1798 die Aufrufe gehalten, die an die Freiheitsbäume geheftet wurden, so etwa im zürcherischen Bauma. Auf einer Holztafel von 30 auf 93 cm wurde verkündet: «Schwört ihr Freÿheits Brüder alle, Hoch und heilig schwört beÿ Gott, und der Laute Ruf erschalle. (…) Freÿheit, Gleicheit, Menschen, Rechte, Lehrt uns Gott und die Natur, Keiner ist des anderen Knechte, Alle haben gleiche Rechte, Alle einen Schöpfer nur.» Bei allem Pathos, allen nicht eingelösten Zielen und idealistischen Verblendungen der Helvetik darf nie ausser Acht gelassen werden, dass die «Abschaffung jeglicher Knechtschaft» und die Gleichheit vor dem Gesetz zu den grossartigsten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte gehören.
Schwörtag in Beromünster, 22. August 1798
Kanonendonner rief die 1525 eidfähigen Bürger aus dem Michelsamt am frühen Morgen zusammen. Mitten in der Hauptgasse von Beromünster war am Freiheitsbaum zu entziffern: «Es lebe die freie ein und untheilbare helvetische Republik!» Ein alteidgenössisches Beschwörungsszenario mit bekanntem Personal sollte auch hier letztlich zur Erneuerung eines Bundesschwurs ermuntern: «Zu der einen Seite die schwörenden Fürst Staufach und Melchthal, zu der andern Tell seinen Knaben umfassend», wie im Protokoll des Schwörtages nachzulesen ist.
Trommelwirbel – dann setzte sich der Zug mit dem Bürger Unterstatthalter und 20 Feldmusikanten in Bewegung, zum Gerichtshaus. Dort schlossen sich das Districtsgericht und alle Agenten dem Zuge an, zur Kirche, wo zusammen mit dem ganzen Volk die Messe gehört wurde. Darauf ging es zurück zum Freiheitsbaum auf der Hauptgasse. Dort hatten alle Eidfähigen unter Namensaufruf ihre Teilnahme zu bezeugen, wie es die helvetischen Räte am 12. Juli 1798 dekretiert hatten. «Eine wohlbesetzte passende Orchestermusik wurde mit der Stimme der Mädchen in patriotischen Hymnen und Liedern untermischt.» Darauf folgten die Rede des Unterstatthalters und der Eid auf die helvetische Verfassung, geleistet von 1525 Männern. «Wir schwören’s! Es schien nur ein Arm, ein Mund zu sein», wurde im Protokoll vermerkt und weiter: «Jetzt ertönte Pauken und Trompetenschall, und von zwei Seiten der Donner des Geschützes. Die Musik dauerte fort, und zwei Knaben, ein Franke und ein Helvetier, traten auf, umarmten und küssten sich und wanden sich Kränze aus Eichenlaub, zum Zeichen der Bürgertugend, und von Lorbeer, zum Zeichen des Sieges um die Schläfe, man sah in ihnen die Bereinigung der zwei Republiken.» Ach, wär‘ die Welt vollkommen!
Es erscheint beiläufig, wer als Erster in dieser langen Liste verzeichnet wurde, einer musste es ja sein. Alles andere als beiläufig, das pure Gegenteil. Ulrich Josef Franz Xaver Krus war nicht irgend ein Bürger, sondern von 1782 bis 1803 der Propst des Stifts St. Michael, nach vielen Jahrhunderten der letzte «Herr in Münster», bis 1798 ausgestattet mit der niederen Gerichtsbarkeit im Michelsamt, Patrizier, Bruder des Luzerner Schultheissen Josef Ludwig Kasimir Krus (1734–1805). Zweitunterzeichner war der Kustos des Stifts, der Verwalter, im Rang gleich nach dem Propst. Ihm folgten mit einem Pfyffer und einem Zurgilgen weitere Chorherren aus dem Luzerner Patriziat. Das hatte System, wie sich kurze Zeit später auch in Stans zeigte. Dort hatten – vor allen anderen – die Geistlichen den Eid auf die helvetische Verfassung zu leisten. Das sollte den übrigen «Bürgern» die Zustimmung erleichtern. In Beromünster waren am Schwörtag 16 Chorherren und 8 Leutpriester und Kapläne unter den Aufgebotenen.
Zwangsabgaben noch und noch
Wie freudvoll Propst und Custos zu St. Michael ihren Eid leisteten, ist nicht überliefert. Bekannt ist dagegen, dass bereits ein halbes Jahr vorher 11 Kisten mit kostbaren kirchlichen Gegenständen nach Luzern auszuliefern waren, «zur sicheren Verwahrung», wie es hiess. Nach zwei Monaten kamen 6 der 11 Kisten zurück. Der Rest war, zum blossen Silberpreis berechnet, grösstenteils eingeschmolzen worden. Damit nicht genug: Zur «freiwilligen Gabe für das Vaterland» von 26‘660 Gulden waren aus der Barschaft des Stifts nochmals 14‘000 Gulden zu leisten, dann nochmals 12‘000 Gulden, zwei Jahre später nochmals 21‘000 Gulden.
«Ihr Franken kamet als Räuber und Tyrannen»
Unmittelbar nach der Unterwerfung der Innerschweizer Kantone wandte sich Johann Caspar Lavater (1741–1801), Pfarrer zu St. Peter in Zürich, an den französischen Direktor Reubel. Lavater, als Schriftsteller auch im Ausland bekannt, war 1792 von der französischen Nationalversammlung zum französischen Ehrenbürger ernannt worden. Ein Freund Frankreichs also. Das blieb er nicht, wie sein Protest zeigt: «Macht gibt kein Recht. Ihr Franken kamet als Räuber und Tyrannen in die Schweiz. Ihr führtet Krieg wider das Land, das euch nicht beleidigte. Ihr sprachet von nichts als von Befreyung – und unterjochtet auf alle Weise. So mussten wir nie blindlings gehorchen, wie, da wir nun, eurer Sage nach, frey sind.» Und zu Ort und Datum gab Lavater noch eins drauf: «Zürich, den 10. V. 1798. Im ersten Jahr der schweizerischen Sklaverey».
Ein zweifach gespaltenes Land
Die äussere Lage der Schweiz war ebenso katastrophal wie die innere. Das zeigte die doppelte Spaltung des Landes. Da war zum einen die politische Grosswetterlage. Nach dem Einmarsch der französischen Revolutionsheere im ersten Halbjahr 1798 marschierten ab Oktober kaiserlich-österreichische Truppen ein, um die alte Fürsten-Herrschaft zu verteidigen, zudem die Alpenpässe zu kontrollieren. In Zürich wurden sie bald unterstützt von zaristisch-russischen Truppen, zu denen die Armee General Suworows aus dem Süden stossen sollte, was jedoch misslang. Auf der Teufelsbrücke in der Schöllenen standen sich Revolutionäre aus Paris und Zarentreue aus Moskau gegenüber, ein Irrsinn ohnegleichen.
Da war zum andern die Spaltung im Innern, hausgemacht. Hier die Anhänger der helvetischen Revolution, ob gemässigt wie die «Republikaner» oder forsch wie die «Patrioten», ab 1800 die «Unitarier», die für den Zentralstaat eintraten, auf der anderen Seite die «Foederalisten», die erklärten Gegner eines Zentralstaats und Befürworter des Staatenbundes. Auch hier eine schier ausweglose Situation.
Heilloses Zerwürfnis, Mediation und erneute Intervention von aussen
Vier Staatsstreiche innert zweier Jahre. Ende Juli 1802 zog Napoleon die Notbremse: Abzug der französischen Truppen. Damit verlor die Zentralregierung ihre Rückendeckung. Fast überall kam es zum Aufstand der Gegner der helvetischen Republik, bekannt als «Stecklikrieg». Kurz vor dem Zusammenbruch bestellte Napoleon die Vertreter der gegnerischen Lager nach Paris zu einer Anhörung («Consulta») und liess die Schweiz erneut von französischen Truppen besetzen. Experiment abgebrochen. Mit der Mediationsakte von 1803, einem positiven Diktat, bestimmte Napoleon, dass die Amtsgewalt vom Direktorium wieder an die Tagsatzung überging, die nun neu nach Mehrheit entschied und damit aufgewertet wurde. Ein «Landammann der Schweiz» stand ihr vor. Graubünden und die ehemaligen Untertanengebiete Waadt, Aargau, Thurgau, St. Gallen und Tessin wurden zu sechs neuen Kantonen. Die Macht ging an die provisorischen Regierungskommissionen in den nun 19 Kantonen über. Napoleon verordnete der Schweiz eine «kleine Restauration».
→ Lesen Sie morgen, dass die Helvetik mehr war als eine irrlichternde Episode.
1798 – Der erste Anlauf
In mehreren Wochenserien präsentiert der Historiker Kurt Messmer den Weg der Schweiz vom Feudalismus in die Demokratie.
Das historische Thema dieser Woche: Der Umbruch von 1798 – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich.
Montag:
Zwei Vorzeichen für dasselbe Jahrhundert
Politisch erstarrte das Ancien Régime im 18. Jahrhundert. Wirtschaftlich und gesellschaftlich dagegen entwickelte sich unser Land dynamisch. Eine hoch interessante Konstellation im Vorfeld von 1798.
Dienstag:
«Dieses ist keine gewöhnliche Revolution»
1789 verkündete die Ständeversammlung in Frankreich die «Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte». Im Stäfner Handel wurde erstmals das politische System auch in der Schweiz in Frage gestellt.
Mittwoch:
1798 – wo bleibt die Eidgenossenschaft?
Basel feiert. In Luzern dankt das Patriziat ab. Bern leistet Widerstand. Die Nidwaldner stürzen sich in einen Verzweiflungskampf. Aus dem losen Staatenverband der Eidgenossenschaft wird ein extremer Zentralstaat.
Donnerstag:
Von Freiheitsbäumen und ihren Schatten
Spötter befanden, die Freiheitsbäume hätten keine Wurzeln, und dem Freiheitshut fehle der Kopf. So einfach sollte man es sich mit Freiheitsbäumen nicht machen. Anspruch und Wirklichkeit klafften allerdings auseinander.
Freitag:
Demokratie? Episode? Bruch? Erster Anlauf?
Die Helvetik hat miserable Karten: a) von aussen aufoktroyiert, b) zeitlich eine Episode, c) quer zum Bisherigen, d) auch repariert von aussen. Dennoch gehört sie zum Wichtigsten, das der Schweiz je widerfuhr.