Zebu-Rinder auf der Cristalino-Farm.
Foto: zvg

Auf der Suche nach Reichtum im Regenwald

In den 1970er-Jahren lancierte der Volkswagen-Konzern unter der Leitung eines Schweizers ein riesiges Landwirtschaftsprojekt, das zu Schuldknechtschaft und massiver Abholzung des Regenwalds führte.

Antoine Acker

Antoine Acker

Dr. Antoine Acker forscht an der Universität Zürich zu den Themen Global-, Umwelt- und Wirtschaftsgeschichte.

1970: «Unentwickelte» tropische Zonen sind die vielversprechendsten Reserven von natürlichen Ressourcen. Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen empfiehlt ihre Erschliessung, um die boomende Nachfrage des Marktes zu stillen und um die weltweite Armut zu bekämpfen. In den Entwicklungsländern steigt der Konsum von Fast Food stetig an und McDonald’s beginnt, sein Fleisch aus den Regenwäldern von Costa Rica zu beziehen. Der Amazonas ist als grösster Regenwald der Welt das neue Grenzland des Kapitalismus. Die brasilianische Militärdiktatur lanciert den Bau der Transamazônica, eine 5000 km lange Strasse, die der Wirtschaft den Zugang zum bis dato so wenig genutzten Dschungel ermöglichen soll. Grosszügige finanzielle Anreize locken hunderte von brasilianischen und multinationalen Unternehmen in die Region. Sie sehen Spekulationsmöglichkeiten und fette Profite mit dem Export von Mineralen, Holz und vor allem Fleisch. Schweizer Unternehmen wie Nestlé gehören zu den grossen Namen dieser Welle von Landkäufen, doch es gibt auch noch weitere Verbindungen in die Schweiz.

Es ist die Zeit der «grünen Revolution», einem massiven Wissenstransfer aus dem Westen mit dem Ziel, die Landwirtschaft in den Entwicklungsländern mit der Einführung von Pestiziden, genmanipulierten Pflanzen und mechanisierter Monokultur zu modernisieren. Dieser Prozess wird von den Akteuren oft als humanitärer Akt präsentiert, als erster Schritt für die «Dritte Welt» auf dem Weg zum Wohlstandsniveau von Nordamerika und Europa. Dank dem internationalen Ruf der alpinen Landwirtschaft etabliert sich die Schweiz als die Ausbildnerin der weltweit besten Agronomen. Die ETH ist eine der besten Hochschulen in diesem Sektor.

Kein Wunder also, dass der Bündner Friedrich Georg Brügger, der 1964 einen Abschluss der ETH erworben hatte, von der multinationalen Unternehmung Volkswagen ausgewählt wird, das Vorzeigeprojekt der brasilianischen Regierung im Amazonas zu überwachen. Es handelt sich um die Companhia Vale do Rio Cristalino, einer 140'000 Hektar grossen Pionier-Rinderfarm, gegründet 1973 im Südosten des Regenwaldes, finanziert durch Volkswagen. Mit modernster Agrartechnik soll das Beste aus der tropischen Natur herausgeholt werden. Die brasilianischen Gesetze verpflichten die deutsche Unternehmung VW dazu, Teile des Gewinns in Brasilien zu investieren. Cristalino ist somit nicht nur eine gute Vermögensanlage, sondern auch eine Chance, sich als mutiger und wohlwollender Investor zu präsentieren, der ein Zivilisationsprojekt im Dschungel durchführt. Brügger steht dabei für die Garantie von Schweizer Qualität und Kompetenz, oder wie er öfters scherzt: «Die Deutschen nennen uns ja ohnehin Kuhschweizer. Also musste einer her, um die Farm zu leiten». Ein computergestütztes System, das sich am brasilianischen Hauptsitz von VW in der Nähe von Sao Paolo befindet, überwacht Weiden und Herden. Wissenschaftler der ETH, der Tierärztlichen Hochschule Hannover und der Universität von Georgia in den USA beobachten das Projekt. Die Wissenschaftler züchten Rinder, die gegen die tropischen Krankheiten resistent sind, aber doch ihren Artgenossen in gemässigten Zonen ähnlich sind, um so der Nachfrage der westlichen Konsumenten zu entsprechen. Das oberste Ziel ist es, den «Ochsen der Zukunft» zu erschaffen: eine Zucht, welche die «Vorteile des zähen Zebus mit der Produktivität der europäischen Sorten verbindet», wie es in einer offiziellen Broschüre von 1983 heisst.

Lage der Rinderfarm Companhia Vale do Rio Cristalino in Brasilien.
Karte: Wikimedia

Landeanflug zur Cristalino-Farm, aufgenommen 2017.
Foto: Stefanie Dodt

Der «Ochse der Zukunft» blieb ein Wunschtraum der Verantwortlichen des Cristalino-Projekts. Es wurde von der Monster-Inflation beendet, die Brasilien Mitte der 1980er-Jahre heimsuchte. Die hohen technischen Investitionskosten verhinderte den Verkauf des Fleisches zu erschwinglichen Preisen. Das Resultat widersprach am Ende der Behauptung der VW-Werbeabteilung, dass das Projekt ein Ausdruck der Pflicht der reichen Länder sei, die hungrigen «Drittweltländer» mit Hilfe der wohlwollenden Taten von multinationalen Unternehmen zu ernähren. Das Projekt hinterliess tiefe Spuren am Regenwald und seiner Bevölkerung. Es verursachte Brandrodungen von einem noch nie gesehenen Ausmass und beschäftigte kriminelle lokale Subunternehmen. Um die Rodungen und Abzäunungen durchzuführen, rekrutierten diese Zwangsarbeiter aus der ärmsten Landbevölkerung. Aussagen dieser Arbeiter deuten auf ein System der Schuldknechtschaft, oft auch Leibeigenschaft genannt: Ein System, in dem ein Individuum durch Schulden an einen Arbeitgeber gebunden und unter Androhung von Strafe gezwungen wird, für diesen Arbeitgeber weiter zu arbeiten.

Auf den Aufschrei, den diese Missbräuche auslösten, reagierte Friedrich Georg Brügger auf verheerende Art und Weise. 1977 erlebte eine britische Journalistin, die Cristalino zuvor besucht hatte, eine von Brüggers Stimmungsschwankungen, als sie ihn zögerlich auf das Thema Umweltschutz ansprach. Brügger schlug auf den Tisch und sagte: «Sprechen Sie mit mir nicht über Ökologie!». Umweltschutz, so Brügger weiter, sei «eine neumodische Beschäftigung, erst vor kurzem erfunden von arbeitslosen Intellektuellen, die nichts Neues zu sagen haben». Wenn er Gäste der Ranch beeindrucken wollte, bot er ihnen Objekte an, die aus bedrohten Holzsorten bestanden, deren Abholzung und Handel verboten war. Noch schockierender war seine Reaktion auf Anschuldigungen der Zwangsarbeit, die gegen Cristalino erhoben wurden. Gemäss Brügger waren die Arbeiter des Amazonas «Nomaden», von Natur aus faul und unwillig, regelmässiger Beschäftigung nachzugehen und effizient zu arbeiten. Anstatt Geld zu verdienen, so Brügger, würden die Arbeiter ihre Schulden vermehren, weil sie «über ihren Verhältnissen leben» und «Unmengen von Reis essen, anstatt zu arbeiten». Das erkläre und rechtfertige am Ende ihre Situation als Lohnsklaven. Brüggers Ausführungen decken die der «VW-Ranch» zugrundeliegende Logik auf: ein ausgeklügeltes System, das schliesslich die ausbeuterischen Vorgehensweisen aus dem Kolonialismus wiederholt und den Nordens zu Lasten des Südens bereichert.

Vor 1960 hatten die Bewohner des Amazonas noch nie eine Kuh gesehen. Die einzige Rinderrasse in der Region waren die Wasserbüffel auf der Marajó-Insel im Amazonasdelta. Heute hält Brasilien 20 Prozent des weltweiten Fleischexports und die Rinderhaltung ist der primäre Grund für die Abholzung im Amazonas. Internationale Organisationen empfehlen nicht mehr die Entwicklung von Rinderfarmen in den Tropen, sondern sehen darin eines der Hauptprobleme im Kampf gegen den Klimawandel. Wie viele Hochschulen unterstützt die ETH heute nachhaltige Landwirtschaftsansätze und ihre Forschungsprogramme zur globalen Ernährung konzentrieren sich auf geringe ökologische Auswirkungen und fairen Handel. Doch in Brasilien argumentiert die lokale und internationale Agrarindustrie nicht mehr mit humanitären Vorwänden, um auf Kosten der Umwelt Gewinne zu erzielen. Investoren lobbyieren ganz offen für ein Ende der Umweltschutzmassnahmen und Programme der Regierung gegen Zwangsarbeit. Den Anfang genommen hat dies mit dem Cristalino-Projekt unter der Leitung eines an der ETH ausgebildeten Agronomen, der gerne darüber lachte, dass er ein Kuhschweizer genannt wurde.

Eingang der Farm, 2017.
Foto: Stefanie Dodt

Ein VW-Käfer steht beim Eintreiben der Rinder bereit.
Foto: zvg

TV-Tipp

Reportage im «Weltspiegel» der ARD auf daserste.de

Friedrich Georg Brügger im Interview mit der ARD

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