Die Schweiz – eine historische Spurensuche. Folge 3
Als Struktur des 20. Jahrhunderts ergibt sich aus welthistorischer Sicht die Abfolge «Katastrophenzeitalter», «Goldenes Zeitalter», «Erdrutsch». Eine nationalstaatliche Perspektive ist aber unverzichtbar. Im Fokus: die Schweiz.
Nimmt man Vergangenheit und Gegenwart entlang von Bruchlinien in den Blick, ergeben sich je gegensätzliche Lager ganz unterschiedlicher Art (siehe auch Teile 1 und 2). In der Folge stehen sich hier Sprach- und Kulturgemeinschaften, Genderidentitäten, Bevölkerungsgruppen gegenüber, je mit spezifischen Bedingungen, politischen Rechten, Grundhaltungen, Verhaltensmustern. Beschreiben lassen sie sich wiederum nur einzeln, nacheinander. Aber erneut überlagern sie sich in Raum und Zeit. Den Auftakt macht die Bruchlinie DEUTSCH / WELSCH. Dabei wird «welsch» im ursprünglichen Sinn verstanden, als Oberbegriff für Rätoromanen, Tessiner und Romands.
Deutsch / Welsch
Vier Sprachen, vier Kulturen, ein Staat, «Willensnation Schweiz». Bemerkenswert, wie weit die Anfänge zurückreichen. Seit dem 16. Jahrhundert bedienen sich die Landvögte in den eidgenössischen Herrschaftsgebieten der jeweiligen Sprache der Untertanen. In der bernischen Waadt spricht die aristokratische Elite beim Verlesen von Geboten und Verboten je nach Bedarf Deutsch, Französisch oder einen Dialekt. Dabei kommt manchen Vertretern der Führungsschicht entgegen, dass Französisch seit dem 17. Jahrhundert immer mehr zur internationalen Kultur- und Verkehrssprache wird. In den Vogteien südlich der Alpen übernimmt oft der Landschreiber die Aufgaben des Übersetzers und Dolmetschers. Eintägiges Heu ist es also nicht, wenn in der Bundesverfassung von 1848 die «drei Hauptsprachen» Deutsch, Französisch und Italienisch als «Nationalsprachen des Bundes» bezeichnet werden.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs klafft «der Graben», «le fossé». Viele Romands ergreifen Partei für Frankreich, viele Deutschschweizer für Deutschland. Mit einer Rede hält Carl Spitteler (1845–1924) dagegen: «Wohin Sie mit dem Herzen horchen, […] hören Sie den Jammer schluchzen und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache.» Im Zeichen der Geistigen Landesverteidigung wird Rätoromanisch 1938 demonstrativ zur vierten Landessprache erhoben. Gegenentwurf zur Gleichschaltung. Eine Prise Stolz ist da kaum ehrenrührig.
Männer / Frauen
«Unsere Demokratie ist keine wirkliche Volksherrschaft, solange die Hälfte des Volkes, die Frauen, daran keinen Anteil hat.» 1929 unterzeichnen 250‘000 Schweizerinnen und Schweizer eine Petition für das Frauenstimmrecht und fragen: «Ist es gerecht, dass Frauen Steuern zahlen, aber nichts dazu zu sagen haben, wie dieselben verwendet werden?» Vielfach sind es Frauen, die in beiden Weltkriegen den Karren ziehen. Bei Kriegsende werden sie aber an den Herd zurückgeschickt, beide Male, ohne Stimmrecht.
Doch 1959 geht es den Männern wie König Pyrrhus: «Noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren.» 1971 ist es so weit. Unvergesslich der Wahlspruch der Luzerner Nationalrätin Josy Meier (1916–2006): «Frauen gehören ins Haus, ins Bundeshaus!» 1981 wird die Gleichstellung von Frau und Mann in der Bundesverfassung verankert. «Der Gleichstellungsartikel enthält ein direkt durchsetzbares Individualrecht auf gleichen Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit.» Aber eine Errungenschaft in die Verfassung schreiben und sie real umsetzen, ist nicht dasselbe. Können müssen sollten wir schon mögen wollen.
Inländer / Ausländer
Der intakte Produktionsapparat der kriegsverschonten Schweiz begünstigt das «Wirtschaftswunder» nach 1945. Zahlreiche Muratori und «fadengewandte Fabrikmeitschi» sind an diesem enormen Aufschwung beteiligt. Dennoch werden sie zur Belastung, wie 1964 der offizielle Bericht «Das Problem der ausländischen Arbeitskräfte» darlegt. Das Problem liegt nicht etwa bei den Lebensbedingungen der «Tschinggen», die vielfach in Wohnbaracken am Rand der Siedlungen hausen. Nicht die «Gastarbeiter» klagen, sondern die «Gastgeber». Zuerst geht es um die Arbeitsplätze, dann wird die «Überschwemmung» mit Ausländern als Bedrohung schweizerischer Identität empfunden. Die Schwarzenbach-Initiative, 1970 mit 46 Prozent nur knapp abgelehnt, ist bloss eine von insgesamt acht eidgenössischen Volksinitiativen zwischen 1965 und 1990, die von Überfremdungsparteien lanciert werden.
Zwischen 1973 und 1976 gehen fast 11 Prozent der Arbeitsplätze verloren. Eine obligatorische Arbeitslosenversicherung besteht nicht. Das Exportland Schweiz exportiert die Arbeitslosigkeit. In den 1980er-Jahren richtet sich die Abwehr vor allem gegen Asylsuchende. In 11 von 18 Vorlagen setzen sich zwischen 1993 und 2010 bei ausländerpolitischen Abstimmungen fremdenfeindliche Positionen durch. 1995 wird Rassismus gesetzlich unter Strafe gestellt. Ein Damm ist errichtet.
Unzählige Inländer und Ausländer setzen sich für ein Miteinander ein, in Schule, Ausbildung, am Arbeitsplatz. Die Integration kommt voran. Aber noch immer sind 25 Prozent der Wohnbevölkerung der Schweiz vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen, obwohl sie hier arbeiten und Steuern zahlen. Zur gefl. Beachtung: wie ehemals die Frauen. Also, subito.
Konfrontation / Konkordanz
Lassen sich drei Säulen des schweizerischen Politsystems als Grundpfeiler der Marke «Schweiz» bezeichnen? Frisch gewagt ist ganz gewonnen.
Säule 1: Das Vernehmlassungsverfahren. Bei der Einführung des Referendums 1874 wird befürchtet, starke Verbände und Parteien könnten sich künftig querstellen und gegen Erlasse des Bundes das Referendum ergreifen. Also ruft man vorgängig in den Wald, horcht, wie die geplante Botschaft ankommt – und ändert sie allenfalls ab, noch bevor es um die Wurst geht. Der ursprüngliche Versuch wird 1947 in der Verfassung festgeschrieben. Historisch knüpft das Vernehmlassungsverfahren bei den Volks- und Ämterbefragungen an, die von den städtischen Obrigkeiten vor und nach 1500 bei den Untertanen auf dem Land durchgeführt werden. Im Ancien Régime unterbleiben diese «Vernehmlassungen» allerdings.
Säule 2: Das Verbandsbeschwerderecht. Seit 2004 haben die Umweltschutzorganisationen das Recht zur Beschwerde gegen Vorhaben, die der Umweltverträglichkeitsprüfung unterstehen. Es geht dabei nicht um Arbeitsplätze (auch wichtig), Sozialtarife (auch wichtig), Profite und Investitionen (auch wichtig). Es geht um einen guten Zustand der Umwelt. Er treibt nicht die Aktienkurse hinauf, aber die Lebensqualität. Ein verfassungsmässig garantiertes Einspracherecht: Gütesiegel einer Demokratie.
Säule 3: Der freiwillige Proporz. Politische Gegner sollen einander nicht lieben – lieber nicht. Respekt genügt, dazu die Einsicht, dass jeweils die anderen, die unser Land doch seit Jahr und Tag in den Abgrund treiben, trotzdem angemessen vertreten sein sollen. Denn alle sind sich bewusst: Machtanmassung mag eine Zeitlang knapp durchgehen, erhält in der Regel aber umgehend die verdiente Quittung. Proportionale Verteilung sorgt auch dafür, dass das Bundeshaus beim geringsten Lüftchen nicht gleich in Schieflage gerät.
Drei Säulen als Garantie für politischen Dialog, wirtschaftliche Prosperität, gesellschaftlichen Frieden. Alles wird besser. Diese drei Säulen bleiben gut.
Weisswäsche / Schwarzmalerei
Schweizer Geschichte als Erfolgsstory? Herbert Lüthy (1918–2002), einer der scharfsinnigsten Schweizer Historiker des 20. Jahrhunderts, bilanziert nach dem Zweiten Weltkrieg, die Schweiz habe sich «durchgewurstelt». Durchwursteln als prägendes Grundmuster? Immerhin wurde unser Land vor dem Auseinanderbrechen, vor Absturz und Kollaps bewahrt. Überhaupt hätte die Schweiz sehr viel schlechter über die Runden kommen können. Und die «Spesen», im Inland und im Ausland? Ein weites Feld. So oder so: Mit Weisswäsche ist nix, mit Schwarzmalerei aber auch nicht.
Vor hundert Jahren blickten die Menschen anders auf die Geschichte unseres Landes, als wir das heute tun. In weiteren hundert Jahren werden sie die Vergangenheit nochmals anders deuten. Es kann weder die einzig richtige Geschichte geben noch wäre sie ein für alle Male gültig. Das historische Ei des Kolumbus existiert nicht. Diese Erkenntnis entmutigt keineswegs, sondern nimmt uns in fachliche Pflicht und gesellschaftliche Verantwortung. Michel de Montaigne (1533–1592) empfahl, man möge einen jungen Menschen lehren, «sich vor der Wahrheit, sobald er sie sieht, geschlagen zu geben, ob sie nun aus der Hand des Gegners kommt oder in ihm selbst, wenn er sich eines Bessern besonnen, entspringt». Sich besserer Einsicht auf der Stelle beugen: gilt immer und überall, auch auf der Suche nach prägenden Spuren unserer Geschichte.