Die einflussreichen Camilli aus Avenches
Was wurde aus den Kelten, die nach der Eroberung durch die Römer weiterhin auf dem Gebiet der heutigen Schweiz lebten? Dank römischen Inschriften können wir den Stammbaum der keltischen Familie Camilli, die vor rund 2000 Jahren in Avenches lebte, teilweise rekonstruieren.
Die Geschichte der Familie Camilli aus Avenches, dem antiken Aventicum, beginnt mit dem Tod einer Persönlichkeit, die keiner näheren Vorstellung bedarf: Gaius Iulius Caesar. Nach seiner Ermordung versuchte einer der Verschwörer, Decimus Iunius Brutus, durch aus Rom zu fliehen. Wie wir vom Historiker Appianos von Alexandria (95–165 n. Chr.) erfahren, führte seine Flucht durch Keltengebiet über den Jougne-Pass, der den französischen mit dem Schweizer Jura verbindet. Bei der Passüberquerung wurde Decimus Iunus Brutus von Camelus oder Camilus, dem Keltenführer, der damals die Region kontrollierte, abgefangen und im Jahr 43 v. Chr. auf Befehl von Marcus Antonius gefangen genommen und enthauptet.
Von diesem Camilus kennen wir nur den Namen. Auch darüber, wo genau sein Stamm lebte, ist nicht viel bekannt. Die ersten Inschriften, in denen seine Nachkommen erwähnt werden, stammen aus dem 1. Jh. n. Chr., rund ein Jahrhundert nach dem Tod von Iulius Caesar, als die Schweiz bereits vollständig ins Römische Reich eingegliedert war. Nach der Eroberung des Gebietes der heutigen Schweiz durch die Römer, die unter Kaiser Augustus gegen 15 v. Chr. abgeschlossen war, nahmen die Bewohner des helvetischen Mittellandes nach und nach den römischen Lebensstil an. In gut 50 Jahren verbreitete sich die lateinische Sprache, die Städte wurden mit Mauern nach römischem Vorbild wiederaufgebaut und mit Mosaiken und Fresken geschmückt. In den Städten wurden Thermen und Theater errichtet und typisch mediterrane Konsumgüter wie Austern und Datteln gelangten in die Gebiete nördlich der Alpen. Die alte keltische Aristokratie übte die wichtigsten administrativen Ämter der mittelländischen Städtchen aus und erwarb das römische Bürgerrecht. Dazu gehörte die Annahme der drei römischen Namen (tria nomina): praenomen (Vorname), nomen (Familienname) und cognomen (Beiname).
Dank dieser neuen Namensgebung und dem Erlernen der lateinischen Sprache durch die keltische Elite konnten Forscher den Stammbaum der einflussreichen Familie Camilli rekonstruieren. Sie war in Avenches ansässig und musste, wie der Beiname in Erinnerung ruft, mit dem alten Camillus verwandt sein. Ein Vertreter dieser Familie, der in der ersten Hälfte des 1. Jh. n. Chr. lebte, ist Caius Valerius Camillus. Sein Name ist auf einer Inschrift überliefert, die bei den Thermen des Forums gefunden wurde und die an die zu seinen Ehren von den civitas – d.h. den Gemeinden der Häduer und Helvetier – durchgeführten Trauerfeiern erinnert. Interessanterweise wurde der Wille des Verstorbenen von einer Frau vollstreckt, vielleicht seiner Nichte Iulia Festilla. Die Inschrift legt nicht nur dar, wessen Sohn er war, sondern auch, dass Caius Valerius offenbar in einem guten Verhältnis zu den Häduern und Helvetiern stand, also zu den beiden Stämmen in den Gebieten südlich und nördlich des Jougne-Passes. Sein Name verrät uns ausserdem, dass dieser Zweig der Familie schon früh romanisiert wurde. Ab der Kaiserzeit verwendeten die Auswärtigen oft den Familiennamen des herrschenden Kaisers.
Der berühmteste und wichtigste Vertreter der Familie Camilli ist zweifellos Caius Iulius Camillus, der in zwei verschiedenen, wenngleich sehr ähnlichen Inschriften zu finden ist. Eine davon wurde von seiner Tochter Iulia Festilla, die andere von den Bürgern von Aventicum in Auftrag gegeben. Die Inschriften sind sehr aufschlussreich. Der fast identische Text lautet: «An C. Iulius Camillus, Sohn des C[aius] der Tribus Fabia, Priester des kaiserlichen Kults, Militärtribun der 4. Makedonischen Legion, ausgezeichnet mit einem reinen (silbernen) Stab und einer goldenen Krone von Kaiser Claudius Germanicus, als er vom Kaiser für den Britannienfeldzug aufgeboten wurde. Iulia Festilla, nach den letztwilligen Verfügungen.»
Auch hier erfahren wir den Namen des Vaters: Caius. Und wir haben einen Familiennamen Iulius. Diese Inschriften ermöglichen somit die Rekonstruktion des Lebens dieser Persönlichkeit. In jungen Jahren trat Iulius Camillus ins römische Heer ein. Es folgte eine glänzende militärische Karriere und er wurde zu einem der wenigen Militärtribune keltischen Ursprungs, einem der obersten Befehlshaber der Kavallerie im römischen Heer. Im Jahr 43 n. Chr. wurde er von Claudius für den Britannienfeldzug zu den Waffen gerufen und dann mit den höchsten Ehren ausgezeichnet (silberner Stab, Lanze und Goldkrone). Nun hätte Iulius Camillus nach Rom gehen und eine Karriere als Senator beginnen können, aber er zog es vor, nach Aventicum zurückzukehren und sich als Kaiserpriester der örtlichen Politik zu widmen. Interessanterweise sind beide Inschriften von der Tochter und der Kolonie unterzeichnet. Er musste somit im hohen Alter verstorben sein, denn Kaiser Vespasian erhob Aventicum erst im Jahr 71 n. Chr. nach den blutigen Bürgerkriegen von 68–69 n. Chr. in den Rang einer Kolonie.
Auch Iulius Camillus’ Tochter Iulia Festilla war wohl eine einflussreiche Persönlichkeit. Nach römischer Tradition hatte Iulia von ihrem Vater den Vornamen geerbt. Aufgrund einer erhaltenen Inschrift wissen wir, dass sie das Amt einer Kaiserpriesterin ausübte und in der Umgebung von Yverdon gelebt haben muss.
Dank diesen Inschriften können wir heute verschiedene Geschehnisse in Verbindung mit den Camilli und gewisse familiäre Bindungen rekonstruieren. Ihre Ämter als Kaiserpriester unterstreichen das Ansehen, das sie in der Stadt Aventicum des 1. Jh. n. Chr. genossen haben mussten. Die Familie Camilli ist allerdings nicht das einzige Beispiel eines keltischen Clans, der in der Stadtverwaltung hohe Ämter belegte. Zwischen Mitte des 1. Jh. v. Chr. und Mitte des 1. Jh. n. Chr. sorgten die Römer nämlich für kontinuierliche Machtverhältnisse auf dem Gebiet der heutigen Schweiz, indem sie die keltische Aristokratie (einschliesslich Frauen) ins römische Verwaltungssystem einbezogen und der Elite so ermöglichten, ihren Rang und ihre Privilegien zu bewahren.