Die Sonnenuhr aus dem Tal der Könige (Vorderseite).
Die Sonnenuhr aus dem Tal der Könige (Vorderseite). Universität Basel / Kings’ Valley Project / Matjaz Kacicnik

Mach es wie die Sonnenuhr…

«Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heit’ren Stunden nur», stand in zahllosen Poesiealben zu lesen. Forschende der Uni Basel fanden nun heraus: Als Zeitmesser dient die Sonnenuhr seit mindestens 3200 Jahren.

Thomas Weibel

Thomas Weibel

Thomas Weibel ist Journalist und Professor für Media Engineering an der Fachhochschule Graubünden und der Hochschule der Künste Bern.

Am 19. Februar 2013 entdeckte ein Grabungsteam der Universität Basel im ägyptischen Tal der Könige eine Kalksteinplatte, die auf ihrer Vorderseite eine aufgemalte Sonnenuhr trägt. Am Scheitelpunkt befindet sich eine Bohrung, die für den Schattenwerfer bestimmt war, einen Stab aus Holz oder Metall. Die Uhr wurde von Arbeitern hergestellt, die mit Malerarbeiten in den nahegelegenen Gräbern hochgesteller Persönlichkeiten beschäftigt waren. Sie stammt aus der Zeit von Pharao Sethos II und seiner Gemahlin Tausret um 1200 v. Chr. und ist damit eine ältesten der Menschheitsgeschichte. Das halbovale Zifferblatt auf dem flachen, 15,5 mal 17,5 Zentimeter grossen Stein, in der Fachsprache «Ostrakon» genannt, ist entsprechend der Anzahl Tagesstunden in zwölf Abschnitte aufgeteilt. Die Stundenlinien, in geschmeidigem Pinselstrich und ohne Winkelmass oder Lineal aufgetragen, sind erstaunlich ebenmässig. Die beiden obenliegenden, horizontalen Begrenzungslinien stehen für sechs Uhr morgens und sechs Uhr abends; die Mittagslinie weist senkrecht nach unten. Die Sonnenuhr war tragbar und musste, um die Zeit korrekt anzuzeigen, an einer nach Süden weisenden Fläche aufgehängt oder aufgestellt werden – tatsächlich liegt der Fundort nahe einer Felswand in Südausrichtung.
Sonnenuhr aus dem Tal der Könige (Rückseite).
Sonnenuhr aus dem Tal der Könige (Rückseite). Universität Basel / Kings’ Valley Project / Matjaz Kacicnik

Kürzere und längere Stunden

Auf den ersten Blick ist eine Vertikalsonnenuhr eine einfache Sache. Auf ihrem Weg von Ost nach West wirft die Sonne einen Schatten, der im Gegenuhrzeigersinn über das Zifferblatt wandert. Stundenlinien zeigen dabei die Uhrzeit an. Hier wird die Sache aber komplizierter. Im alten Ägypten wurde die Zeit zwischen Sonnenauf- und -untergang in zwölf gleich lange Abschnitte geteilt. Weil die Tage im Winter aber kürzer sind als im Sommer, konnte eine pharaonische Stunde je nach Jahreszeit zwischen 51 und 69 Minuten lang sein. Man spricht daher von «Temporalstunden» – im Gegensatz zu unseren heutigen Stunden, die erst mit dem Bau mechanischer Uhrwerke aufkamen und die den Tag in 24 genau gleich lange Einheiten teilen. Weil Temporal- und moderne Stunden nur zweimal pro Jahr (an den Tagundnachtgleichen, also zwischen 19. und 21. März im Frühling sowie zwischen 22. und 24. September im Herbst) genau gleich lang sind, heissen Letztere auch «Äquinoktialstunden». Der Schattenwerfer der Sonnenuhr aus dem Tal der Könige hat sich nicht erhalten. Die für ihn bestimmte Öffnung aber wurde senkrecht in den Stein gebohrt, so dass der Stab im rechten Winkel zum Zifferblatt vorstand. Sonnenuhren dieses Typs werden «kanonial» genannt, weil sie in mittelalterlichen Klöstern dazu dienten, mehr oder weniger genau die Gebetszeiten anzuzeigen. Mit diesen kanonialen Sonnenuhren gibt es aber ein Problem: Der Winkel des Sonnenschattens zu einer gegebenen Uhrzeit hängt von der Jahreszeit ab. Im Tal der Könige beträgt der Unterschied zwischen den Sonnenwenden (21. Juni und 21. Dezember) um neun Uhr vormittags gut und gern fünf Grad. Kanoniale Sonnenuhren, die das ganze Jahr über verlässliche Werte liefern wollen, benötigen deshalb Mehrfachskalen für alle Monate oder Sternzeichen, die nicht ganz einfach abzulesen sind.
Sonnenuhr im Kloster St. Georgen in Stein am Rhein. In mittelalterlichen Klöster zeigte die Sonnenuhr die Gebetszeiten an.
Sonnenuhr im Kloster St. Georgen in Stein am Rhein. In mittelalterlichen Klöster zeigte die Sonnenuhr die Gebetszeiten an. Wikimedia
Eine praktische Lösung beschrieb im 13. Jahrhundert der marokkanische Astronom und Mathematiker Abu Ali Hassan al Marrakushi in seinem Werk «Sammlung der Grundsätze und Ziele wissenschaftlicher Zeitmessung»: Bringt man den Schattenwerfer nicht rechtwinklig zur Anzeigefläche an, sondern im Winkel der geografischen Breite schräg nach unten, so dass er parallel zur Erdachse steht, dann zeigt sein Schatten jahrein, jahraus zur selben Zeit in dieselbe Richtung. Diesen Schattenstab nennt man «Polstab», weil er in die Richtung des Himmelsnordpols zeigt, in dessen Nähe sich der Polarstern befindet. Heute tragen die meisten Vertikalsonnenuhren Polstäbe, die in der Schweiz entsprechend dem Breitengrad in Winkeln zwischen 45,83 (Chiasso) und 47,56 Grad (Basel) nach unten zeigen.
Polstab-Sonnenuhr an der Fassade des Basler Münsters.
Polstab-Sonnenuhr an der Fassade des Basler Münsters. Wikimedia

«Sonnen­uh­ren­land» Schweiz

Astronomische Genauigkeit war die Sache des pharaonischen Malers nicht. Und trotzdem hat die jahrtausendealte Sonnenuhr zwei wichtige Erkenntnisse zu bieten. Erstens: Die Sonnenuhr musste an einer Felswand aufgestellt werden und war damit für alle einsehbar, für Kollegen und Aufseher gleichermassen. Arbeitern im alten Ägypten müssen also durchaus gewisse Rechte zugestanden haben, weil ein ausbeuterisches Regime darauf bedacht gewesen wäre, die Kontrolle über die Arbeitszeiten nicht aus der Hand zu geben. Und zweitens: Bei 11, 12, und 14 Uhr stimmen die Linien das ganze Jahr über mit unseren heutigen Uhrzeiten erstaunlich gut überein. Das könnte auf eine Arbeitspause zu einer Tageszeit hindeuten, in der die Temperaturen im Tal der Könige zu hoch werden und in der die Arbeiter den Schatten der nahegelegenen Hütten aufgesucht haben. Die Kalksteinscherbe aus dem Tal der Könige wäre damit ein erster Beleg für eine moderne Form von Arbeitszeitregulierung. 3200 Jahre später, im Fall der 2011 gebauten Sonnenuhr auf Muottas Muragl in der Gemeinde Samedan hingegen ist Exaktheit das Mass aller Dinge. Auf der nach Angaben ihres Konstrukteurs Fred Bangerter «genauesten Sonnenuhr der Welt» mit dem lateinischen Namen «Sine sole sileo» («ohne Sonne bleibe ich stumm») mit ihrem feinjustierbaren Schattenwerfer lässt sich die Uhrzeit auf 10 Sekunden genau ablesen – allerdings nur von 21. März bis 23. September. Im Winterhalbjahr nämlich steht die Sonne zu tief und bringt die Hochpräzisions-Sonnenuhr zum Schweigen.
Hochpräzisions-Sonnenuhr auf dem Muottas Muragl im bündnerischen Samedan.
Hochpräzisions-Sonnenuhr auf dem Muottas Muragl im bündnerischen Samedan. Foto: Engadin St. Moritz Tourismus

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