Das Tessin im Zweiten Weltkrieg
An der Grenze zum faschistischen Italien war es während des Zweiten Weltkriegs ziemlich ungemütlich. Trotzdem hat das Tessin Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen und immer wieder Hilfe geleistet.
Grosse Teile des Tessins unterstützten die Partisanenrepublik Ossola aktiv. Das blieb in Italien nicht unbemerkt und führte im Oktober 1944 zu einem journalistischen Gegenangriff. Die Mailänder Zeitung «Corriere della Sera» wendete sich am 28. Oktober direkt an die Schweiz. In einem Artikel mit dem Titel «Parole chiare agli Svizzeri», klare Worte an die Schweizer, kritisierte sie die Unterstützung des Widerstands. Vergeblich. Die Hilfe aus der Südschweiz ging weiter.
Im harten Winter 1944-1945 war Unterstützung aus der Region Locarno besonders nötig. Sie fand mal mehr, mal weniger offen statt. So schleuste beispielsweise Mario Pontremoli, ein Mailänder mit Wohnsitz in Ascona, immer wieder Widerstandskämpfer in die Ossolaregion zurück. Er tat dies geschickt und steigerte so sein Ansehen nicht nur in den Reihen der Partisanen, sondern auch bei der Tessiner Bevölkerung. Besonders im stark antifaschistischen Ascona wurden Pontremolis Aktionen begrüsst. Doch der Italiener war nicht der einzige aktive Helfer. Auch Wladimir Rosenbaum, ein bekannter jüdischer Rechtsanwalt, setzte sich für die ossolanische Widerstandsbewegung ein. Rosenbaum war aus Minsk in die Schweiz geflüchtet und machte sich schnell einen Namen als brillanter Jurist. Er vertrat mehrere Ölgesellschaften und verdiente dabei viel Geld. Dieses investierte Rosenbaum unter anderem in den Widerstandskampf gegen den Faschismus.
In den 1930er-Jahren hatte sich Wladimir Rosenbaum in Comologno ein Haus gekauft, in dem er unter anderem dem Schriftsteller Ignazio Silone Unterschlupf gewährte. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg war Rosenbaum am Kampf gegen den Faschismus beteiligt. Während des Spanischen Bürgerkriegs zwischen 1936 und 1939 belieferte er die Republikaner mit Waffen. Dies hatte ihn 1938 seine Zulassung als Anwalt gekostet. Ausserdem wurde er zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Nach Absitzen der Strafe führte er seinen Kampf gegen den Faschismus fort und belieferte später auch die Partisanen der Region Ossola mit Waffen.
Internierung in der Schweiz
Mit dem Zusammenbruch der Republik Ossola am 21. Oktober 1944 nahm der Flüchtlingsstrom in die Schweiz zu. Partisanen, die über die Grenze kamen, wurden meist in die Deutschschweiz oder die Romandie transportiert und dort interniert. Die Lager befanden sich in Schwarzsee, auf dem Gurnigel oder in La Rogiaz. Geflohene Zivilisten, darunter rund 2500 Kinder, blieben im Tessin. Sie wurden von Familien oder in Hotels in Locarno, Brissago oder Solduno einquartiert. Gemeinden und Privatunternehmen halfen, die finanziellen Mittel für die Hilfsaktion bereitzustellen.
Sie waren dem Krieg entkommen, frei bewegen konnten sich die Flüchtlinge in der Schweiz allerdings nicht. Von 22 bis 7 Uhr galt eine Ausgangssperre, kulturelle Veranstaltungen durften nur bis 20 Uhr besucht werden und Versammlungen auf öffentlichem Grund waren verboten. Wer sich nicht daran hielt, wurde verwarnt und im Wiederholungsfall in ein Internierungslager gesteckt. Im Tessin galten diese Regeln ebenfalls, die Behörden nahmen es allerdings nicht so genau. Im Gegensatz zur restriktiven Politik des Bundes wurden die Flüchtlinge hier ohne grosse Bürokratie aufgenommen. Die Solidarität in der Bevölkerung war riesig und die Region war auch organisatorisch nicht überfordert.
Abrechnung nach Ende des Krieges
Im März 1945 nahte das Ende von Nazi-Deutschland. Die Angriffe der Widerstandskämpfer nahmen wieder zu, auch in der Ossola-Region. Viele Partisanen kehrten aus der Schweiz in ihre Heimat zurück, um zu kämpfen. Die deutschen Truppen und ihre Verbündeten des faschistischen Italiens zogen sich in den Süden der Region zurück. Die Partisanen kontrollierten die Bergregion. Das gut informierte Radio Monte Ceneri kündigte am Abend des 24. April an, dass ein grosses deutsch-faschistisches Kontingent Domodossola und die obere Ossolaregion verlassen hatte. Damit war der Weg in die Freiheit endgültig geebnet. am 8. Mai 1945 kapitulierten alle deutschen Truppen.
Zahlreiche Ossolaner kehrten nach dem Krieg in ihre Heimat zurück. Dass es dort nicht zu massiven Vergeltungsaktionen gekommen ist, verdankte die Region auch den Erfahrungen, die sie im Herbst 1944 während gut 40 Tagen gemacht hatte. Anders als in zahlreichen europäischen Partisanenhochburgen waren in der Republik Ossola schnell eine Verwaltung aufgebaut und auf das zivile Leben fokussiert worden. Dafür mussten alle am selben Strick ziehen. Zu grosse Differenzen innerhalb der Bevölkerung konnte man sich nicht leisten. Diese Denkweise verhinderte im Mai 1945 weitere Gräueltaten. Im Tessin hingegen begann eine «Säuberung» von Faschisten und Nazi-Sympathisanten. Ab dem 8. Mai 1945 wurden in Locarno und Ascona mehrere Häuser beschädigt und Jagd auf deutsch-freundliche und dem Faschismus nahe stehende Personen gemacht.
Insgesamt verlief die Nachkriegszeit jedoch sowohl im Tessin also auch in der Region Ossola einigermassen glimpflich ab. Die starke Solidarisierung der Südschweiz mit den Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregion ist bis heute spürbar. Die Hilfe in den Kriegsjahren wurde in Italien nicht vergessen und viele Kinder, die damals in der Schweiz aufgenommen wurden, stehen noch in Kontakt mit ihren «Gastfamilien».